Schon wenige Tage später geschah, womit Sakura kaum mehr gerechnet hatte: Sie verließ den Hof der Qualen.
Auf dem Vorhof fuhr ein Wagen vor, mit einem Anhänger, genauso, wie immer der schwarze Wagen erschienen war. Dieses Auto allerdings war ein blauer Kleinbus, und der Anhänger war Sakura vertraut.
Sie riss sich beinahe von Kyle los, als sie den Wagen erkannte. Dieses Auto gehörte Amelie! Es war im Prinzip eine mobile Box von Sakura, wie eine zweite Heimat für sie.
Kyle hielt ihren Strick fest, während drei Personen aus dem Auto stiegen. Das waren Amelies Eltern und Amelie selbst, wie jedes Mal in dem seltsamen Metallding, das Sakura noch immer nicht ergründet hatte. Sogar im Auto hatte Amelie in dem Ding gesessen, und es war offensichtlich mühsam, es auszuladen.
Sakuras Reiterin blieb in einigem Abstand sitzen und sah zu, während ihre Mutter zu Kyle kam.
„Ich … nehme sie dann mal“, sagte die schlanke Frau, die Amelies Mutter war. Sakura legte sofort die Ohren an. Amelies Mutter strahlte Nervösität und Abneigung aus. Sakura machte einen Schritt nach hinten.
„Ich kann Sakura in den Anhänger bringen“, bot Kyle an.
Amelies Mutter stimmte zu, ein wenig zu erleichtert, wie Sakura fand. Sie trottete hinter Kyle her, der sie in den Anhänger führte und festband. Dann lobte er sie und flüsterte ihr zu, wie mutig sie sei.
Sakura spitzte die Ohren, als sich der Wagen endlich in Bewegung setzte. Der Anhänger bewegte sich unter ihren Hufen.
Sie hoffte sehr, dass das kein Abschied von Kyle gewesen war – wie sie ohne ihn weiter machen sollte, wusste sie nicht.
Nach einer langen Fahrt, während der sie jedes Zeitgefühl verlor, hielt der Wagen wieder und sie konnte auf einen weiteren Vorplatz trotten.
Neugierig hob sie den Kopf und schnupperte. Jeder Geruch war ihr vertraut, das frische Gras, das Holz, die Erde und die leicht verrottenden Holzzäune, sie erkannte die Gerüche der anderen Pferde, das Stroh in der Luft und die einzelnen Baumsorten, die Blumen am Wegrand, die Abgase der einzelnen Autos.
Das hier war ihre Heimat, ihr Stall. Sakuras Herz floss über vor Sehnsucht. Um ein Haar wäre sie auf der Stelle los galoppiert, aber sie musste warten, während Amelie in ihrem Sitz aus dem Wagen gebracht wurde. Dann führte Amelies Vater Sakura in ihren Stall, und die beiden Frauen kamen hinterdrein. Der Vater war ein seltsam unemotionaler Mensch, der kein einziges Mal mit Sakura sprach oder sie auch nur mehr als nötig berührte.
Sakuras Box war genauso, wie sie sie in Erinnerung hatte. Sie schnupperte an dem Stroh und belauschte nur mit einem Ohr das Gespräch, das vor der Box geführt wurde.
„Willst du wirklich jetzt schon damit anfangen? Das war ein langer Tag für dich, Liebling“, sagte Amelies Mutter gerade.
„Irgendwann muss ich ja anfangen“, antwortete Amelie.
„Bist du dir wirklich sicher?“, fragte ihre Mutter nochmals.
Amelie antwortete nicht, Sakura hörte das Quietschen von dem Metallding und Amelie entfernte sich.
Wenig später kehrte Amelie mit einer kleinen Plastikbox zurück, die Sakura ebenfalls kannte: Darin waren die Bürsten und Hufkratzer!
Amelie manövrierte ihr Metallding vorsichtig in Sakuras Box. Die ließ das Stroh Stroh sein und beschnupperte das Metallding. Amelie zuckte ein wenig zusammen.
„Raus da!“, rief ihre Mutter schrill.
„Halt die Klappe, Mum“, sagte Amelie, bevor Sakura richtig in Panik geraten konnte. Trotzdem, ihr Herz raste. Diese Frau raubte ihr den letzten Nerv!
„Geht bitte, beide. Ihr macht sie nervös“, sagte Amelie.
„Aber wir können dich doch nicht hier allein lassen“, widersprach Amelies Vater.
Es folgte eine längere Diskussion, während der Sakura dazu kam, ein wenig an den runden Reifen von Amelies Metallding zu knabbern und noch etwas mehr Stroh zu essen. Dann gingen die Eltern.
Amelie nahm eine Bürste und begann, Sakuras Fell zu striegeln.
Sakura schloss glücklich die Augen. Sie war wieder zu Hause, und alles war beinahe normal. Sie konnte bereits vergessen, was geschehen war.
Schnaubend stand sie da, während Amelie in ihrem Metallding um sie herum rollte und sie striegelte.
Nein, nicht alles war normal. Das Metallding quietschte, und es machte Amelie auch deutlich kleiner: Sie konnte Sakuras Rücken überhaupt nicht erreichen.
Sakura senkte den Kopf. Viel zu bald packte Amelie alles ein und verließ sie. Wenig später quietschte sie davon, ohne Sakura zu reiten. Und auch ihre Berührungen beim Striegeln waren kalt gewesen. Es fühlte sich an, als wäre die stumme Amelie viele, viele Meilen entfernt.
Die Stute sah ihrer Besitzerin nach. Würde es jemals wie früher sein?