Über der Steilküste von Ipioca lagen schwere Nebelbänke, die die Morgenluft zu einem Netz aus feinsten Wassertröpfchen verdichtete. Schweigen ruhte auf dem Land der Inokté, das nur von den vereinzelten Rufen der Sturmmöwen unterbrochen wurde, die durch die weißen Schwaden seltsam gedämpft klangen. Pflanze und Tier warteten auf die Herbstsonne, die dem morgendlichen Spuk ein Ende bereiten würde.
Plötzlich durchbrach ein dumpfer Misston die Stille. Scharrend und kratzend bohrte sich der Bug eines kleinen, hölzernen Küstenfahrzeugs in den Sand. Ein Segel flatterte im Wind. Auch nachdem das Schiffchen zum Stillstand gekommen war, ließ sich weiterhin das sanfte Klatschen der Leinwand gegen den Mastbaum vernehmen. Dann flaute der Wind ab und erneute Stille breitete sich über dem Strand aus.
Fünfzig Lachter südlicher unterbrach Nashoba seinen morgendlichen Lauf am höchsten Punkt über den Klippen und ließ sich in Erwartung des Sonnenaufgangs nahe der Abbruchkante nieder. Die Tage im Dorf ließen ihm wenig Zeit zu meditieren und nachzudenken. Daher waren die frühen Morgenstunden, wenn der Tag gerade erwachte und der Tau noch auf dem Gras lag, für ihn die besten, um seine Gedanken zu ordnen. Alle Wesen seines Stammes, egal ob Mensch oder Magier, waren in ihren Entscheidungen frei und unabhängig. Dennoch hatte Nashoba reichlich Stoff zum Nachdenken, denn seine Ansichten waren im Rat von großem Gewicht. Er war der Minági.
Er blickte auf die treibenden Nebelfelder, in deren Tropfen sich die aufgehende Sonne spiegelte, und genoss die Ankunft des neuen Tages. Dabei schob er die langen schwarzen Haare aus der Stirn und strich sich über das Gesicht.
In letzter Zeit war das Leben der Inokté ruhig und friedlich dahingeflossen. In den Grenzregionen von Ipioca war es unerwartet still geblieben. Übertritte der Chromnianer waren selten und auffällig ziellos gewesen.
Als Anführer der magischen Grenzwächter kannte Nashoba seine Gegner gut und wusste, dass sie nichts Unüberlegtes taten. In all den Jahrzehnten, die er schon an der Grenze verbracht hatte, war es keinem der Art-Arianer gelungen, ihren Nachbarn mehr als einen flüchtigen Waffenstillstand abzuringen. Zu verlockend musste den Chromnianern die Aussicht auf mehr Land, mehr Bodenschätze und mehr Sklaven erscheinen, um der gegnerischen magischen Allianz eine Pause zu gönnen. Noch hielt der magische Wall den Übergriffen stand. Dennoch war der Minági von der neuen Entwicklung beunruhigt.
Nashoba stand auf und streckte sich. Die Wolfskrieger waren große Männer mit vollendetem Körperbau. Doch sogar unter ihnen fiel er durch seine schier unbezwingbare Kraft und Energie auf. Selbst in Wolfsgestalt war er den anderen an Ausdauer und Zielstrebigkeit überlegen. Er war der perfekte Anführer, so wie es der Leitwolf der Rudel auch sein sollte. In ihm vereinten sich beide – der erste Wolfsmagier und der Erste der menschlichen Stämme.
Während sich die Nebel langsam in der stärker werdenden Morgensonne auflösten, blickte Nashoba aufmerksam nach Westen. Er hatte das Gefühl, dass etwas Fremdes, Unbekanntes den morgendlichen Frieden der Landschaft störte, doch er konnte die Ursache dafür noch nicht sicher ausmachen.
Die Wolfskrieger waren in der Lage, andere Magier an ihrer mentalen Präsenz zu erahnen, sie zu spüren und die Kräfte einzuschätzen, mit denen sich diese Geschöpfe umgaben. Die Botschaft, die nun auf Nashoba einflutete, war jedoch flüchtiger und undeutlicher, wie ein Hauch, der nur leicht die Wellen kräuselte und dennoch für das Gespür des Minágis eindeutig ein magiebegabtes Wesen ankündigte.
Nashoba blickte konzentriert über das Meer und den Strand. Das Boot, das zu seinen Füßen in den Wellen schaukelte, konnte ihm trotz des Nebels nicht entgehen. Das Segel flatterte noch träge in der Brise, während sich der Bug des leichten Holzschiffes bereits in den Sand des Strandes gebohrt hatte. Die Aura, die ihm zugetragen wurde, flackerte und drohte aus seinen Sinnen zu verschwinden. Neben dem Mast sah er eine weiß gekleidete Gestalt am Boden liegen. Hier war ein Boot gestrandet, das eine seltsame Botschaft ausstrahlte.
Der Minági hatte schon viele Tricks der Chromnianer erlebt und war in allem, was er unternahm, vorsichtig. Ohne ein unnötiges Geräusch zu verursachen, überwand er den schmalen Felsenpfad, der ihn an den Strand brachte. Die Gestalt in dem Boot regte sich nicht. Nashoba spürte nach wie vor nur ein leichtes Flackern der ihm unbekannten Aura. Er schloss daraus, dass das magische Wesen im Boot entkräftet sein müsse oder anderweitig stark geschwächt. Um dieses Rätsel zu lösen, näherte er sich dem ungewöhnlichen Strandgut. Es war ein kleines Küstenfahrzeug für den Transport weniger Menschen oder Güter zu den vorgelagerten Inseln der Steilküste. Boote wie diese wurden gern von den Bewohnern der Inseln weiter im Süden benutzt. Das Volk der Wolfskrieger verfügte über wesentlich robustere Kanus und würde sich kaum einer Nussschale wie dieser anvertrauen.
Nashoba trat an den Bug des Schiffchens und blickte aufmerksam in dessen Inneres. Hier lagen hunderte sorgfältig verpackte Pflanzenpäckchen – Setzlinge, wie er vermutete – und einige wachsversiegelte Truhen, wie sie zum Transport von Wertgegenständen genutzt wurden, die nicht wasserbeständig waren. Das alles umfing der Blick des Minági abschätzend, bevor sich seine Sinne der reglosen Gestalt zuwendeten, die neben dem Mast zusammengesunken war.
Unwillkürlich hielt der Wolfskrieger den Atem an. Beinahe zu seinen Füßen ruhte eine junge Frau im weißen, fließenden Kleid einer Heilerin der Inseln. Das Gesicht war von Strapazen und Belastung gezeichnet. Ihr Atem ging langsam und der Herzschlag, den er mit seinen geschärften Sinnen deutlich wahrnahm, pulsierte schnell und unregelmäßig. Dennoch war die Heilerin von einer Schönheit, der sich selbst Nashoba nicht entziehen konnte.
Trotzdem löste er bald seinen Blick von der Frau, die ganz offensichtlich seine Hilfe benötigte. Der Minagi ergriff das Boot am Bug und zog es weiter auf den Strand hinauf. Dann schwang er sich über den seitlichen Rumpf und näherte sich der Heilerin, die auf die Bewegungen des Bootes nicht reagiert hatte. Er beugte sich zu ihr hinunter und strich ihr vorsichtig das lange, fast weißblonde Haar aus dem Gesicht. Dabei beobachtete er eine matte Bewegung ihrer Hand.
Nashoba zögerte. Er versuchte sich klarzuwerden, welchen Weg er jetzt einschlagen sollte. In seinem Dorf Tsiigehtchic hatte er zwar die besten Möglichkeiten, sie zu pflegen und, falls nötig, zu behandeln. Andererseits ließe sich dort ihre Präsenz kaum verbergen und er wusste nicht, aus welchem Grund sie sich allein auf das Meer gewagt hatte. Die Setzlinge und Truhen ließen an eine Wanderschaft denken und Nashoba befürchtete, die Aufmerksamkeit der Chromnianer auf die Heilerin zu lenken, wenn er sie im Dorf dem Interesse seines Stammes aussetzte.
Die Dunkelmagier nahmen die Schwingungen jeglicher Magierpräsenz ebenso wahr wie die Wolfsmagier oder die Dämonenkrieger. Anders jedoch als diese magischen Spezies verfügten die Heiler nicht über eine Fähigkeit, mit der sie ihre Aura verbergen oder zumindest ein wenig verschleiern konnten. Wenn sie Tarnung benötigten, waren sie auf magische Hilfsmittel wie Amulette oder Körpersiegel angewiesen und weder das eine noch das andere schien die junge Frau im Boot zu besitzen. Wenn er die Heilerin an einen entfernteren Ort bringen könnte, ließe sich ihre Präsenz mit Hilfe der Wolfsmagie sicherer verbergen. Nashoba bezweifelte, dass sie in ihrem Zustand für seine Feinde erkennbar sein würde. War sie aber erst wieder zu Kräften gekommen, musste ihre Aura wie eine helle Flamme um sie spürbar sein.
Der Minági war schon früher mit Heilerinnen von Dakoros zusammengekommen und bei jeder dieser Frauen war ihm die strahlende, fast greifbare Energie ihrer magischen Präsenz aufgefallen und hatte ihn beeindruckt. Die Magie der Heilerinnen war zutiefst friedvoll, aber an ihrer Aura ließ sich eine wesentlich stärkere Macht erahnen, die sie bisher jedoch niemals preisgegeben hatten. Bislang waren ihre Heilstätten auf Dakoros und an der Küste die sichersten Orte in Art-Arien. Niemand wagte es, dort einen Streit vom Zaun zu brechen oder gar in kriegerischer Absicht zu erscheinen.
Zu Beginn der magischen Allianz fanden alle Treffen der Magier auf Dakoros statt. Die Insel wurde von ihnen allen als neutrale Stätte des Friedens akzeptiert. Dann, als sich die Auseinandersetzungen mit Chromnos, der von den Dunkelmagiern beanspruchten Provinz, immer mehr zuspitzten, entschlossen sich die verbündeten Magier des Festlandes, ihre Grenzen zu schließen und die kriegerische Herausforderung des Gegners anzunehmen. Damals wandten sich die Dakoraner gegen ihre Verbündeten und mit Hinweis auf die Friedfertigkeit ihrer Magie zogen sie sich auf die Inseln zurück. Für diesen Schritt waren sie sogar bereit gewesen, jene Gruppe von Heilerinnen zurückzulassen, die sich vor vielen Jahrhunderten in Chromnos niedergelassen hatte, aber dennoch als heilkräftige Schwesternschaft den Dakoranern in nichts nachstand. Dass nun eine Magierin der Inseln an der Küste Ipiocas strandete, war mehr als ungewöhnlich. Es war geradezu unmöglich.
Nashoba entschied sich für jene Lösung, die der Sicherheit seines Volkes gemäßer erschien. Er trat entschlossen aus dem Boot zurück an den Strand und entfernte sich einige Meter aus dem Sichtwinkel der Heilerin. Auch wenn er glaubte, dass sie zu geschwächt sein würde, um ihn zu beobachten, wollte er kein Risiko eingehen. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf die magische Handlung und senkte seinen Kopf, um sich zu konzentrieren. Schon nach wenigen Sekunden spürte er den Kontakt zu seinen magischen Brüdern. Er rief Tahatan an, seinen engsten Vertrauten und bat ihn, sich auf den Weg zu ihm zu machen. Kurz schilderte er seinen unerwarteten Fund und seine nächsten Ziele.
In Zeiten des Friedens erteilte Nashoba nur selten Befehle und erlaubte es sich auch in diesem Fall nur zu bitten. Doch Tahatan kam den Wünschen des Minági dennoch sofort nach. Er verließ Zelt und Herde des Sommerlagers und machte sich auf den Weg zu seinem besten Freund und Anführer.
[1] Ipioca: deutsch – indianisches Haus
[2] Lachter: alte Maßeinheit, etwa 100m
[3] Nashoba: Choctaw - Wolf
[4] Minági: Lakota – Seele (hier als Bezeichnung für den spirituellen und gesellschaftlichen Anführer)
[5]Tsiigehtchic, Nashobas Dorf an der Küste, einen solchen Ort gibt es tatsächlich, wie hätte ich mir auch einen derartig exotischen, indianischen Namen einfallen lassen sollen? Und hier ist es. Tsiigehtchic, auch „Öffnung des Eisenflusses“, ist eine Gemeinde in den Nordwestterritorien in Kanada mit 175 Einwohnern auf einer Höhe von 23 m.ü.M. Sie liegt am Zusammenfluss des Mackenzie und des Arctic Red River.
[6] Tahatan: Sioux - Falke
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