Er schlief im Bett des Bruders- dort fühlte er sich behütet. Um ihn atmete die Dunkelheit wie ein großes Tier. Erinnerungen hallten von den Wänden wieder. Erinnerungen an Früher.
Sie zogen vorbei. Blieben nie lange haften. Erinnerungen waren nichts Dauerhaftes. Auch sie würden irgendwann verblassen. Schneller als Photographien...
Neben ihm ruhte das Buch in dem er gelesen hatte. Aufgeschlagen, mit den Seiten nach unten, lag es da. Es war voller Erinnerungen. Erinnerungen des Bruders- eine Art Tagebuch.
Niedergeschrieben mit roter Tinte auf schneeweißem Papier. Ein einfaches Buch mit dunklem Einband.
Weiß wie Schnee, rot wie Blut und schwarz wie Ebenholz. Wie im Märchen...
Er hatte begonnen darin zu blättern. Zuerst vorsichtig, als könnten die dünnen seiten zu Staub zerfallen. Er wollte hinter jedes der wohlbehüteten Geheimnisse des Bruders kommen.
Dann hatte er angefangen zu lesen. Zuerst nur Zitate, die der Bruder in seiner fein geschwungenen Handschrift auf den ersten Seiten verewigt hatte. Zitate von Personen, die Michael unbekannt waren. Von Personen mit merkwürdigen Namen... Eines stach unter ihnen allen jedoch hervor. Der Bruder hatte es eingerahmt und den verschnörkelten Rahmen mit wundersamen Pflanzen geschmückt...
~Bereit oder nicht bereit zu gehen
auch du musst vor deinen Richtern stehen...
die Schatten werden länger, Freund
ER wird kommen
und hat er dich erfasst, so brichst du unter seiner Last~
Dann entdeckte er das Datum des ersten Eintrages. Es waren die Daten des Tages, als der Bruder verschwand. Als er ihn verließ und nicht mehr wiederkehrte. Das konnte doch nicht sein! Die restlichen Seiten waren ebenso gefüllt mit der Schrift des Bruders. Und alle paar Seiten ein neues Datum. Jeder Eintrag ein weiterer Tag in Michaels Leben, ab der Ungewissheit über den Verbleib des Bruders.
Das kann nicht sein!
Er ist fort! Fort!
Er ist nicht hier!
Er kann diese Einträge nicht fortführen!
Doch es war seine Schrift. Das konnte Michael nicht leugnen. Auch spielte er mit dem Gedanken, dass der Bruder doch beliebige Daten zu wählen durchaus berechtigt gewesen war. Er hätte jedes Datum für den ersten Eintrag wählen können. Niemand hätte ihn daran gehindert. Es war doch nicht verboten...
Die Turmuhr schlug Zwei.
Er wollte nicht zurück in das eigene Zimmer, dort fühlte er sich einsam und allein. Mutter schlief im Nebenzimmer, dessen war er sich bewusst und es sollte ihm wohl ein Trost sein, doch er sah keine Linderung der Einsamkeit darin. Mutter strahlte keine Wärme mehr aus. Abwesenheit und Gleichgültigkeit prägten ihren Alltag. Und er ertrug es nicht länger, ihr in die Augen zu sehen, wenn er mit ihr sprach. Unbeschwertheit und Fröhlichkeit hatten sich verirrt und nicht zurückgefunden. Er hätte ihr gerne geholfen, doch sie ließ es nicht zu.
Mutters Trübsal griff selbst auf die Räume über. Alle Heiterkeit war verflogen. Selbst in seinem Zimmer. Nur das des Bruders war verschont geblieben, denn sie hatte es lange nicht mehr betreten. Deshalb blieb Michael hier. Überall war es besser als dort, wo er Mutters Tsunami der Einsamkeit wieder zu nahe kommen sollte, der ihn brechen würde, wenn er keinen Abstand gewann.
Die Turmuhr schlug Drei, als Michael dann endlich, nachdem er noch eine Weile wachgelegen und in den nächtlich stillen Raum gehorcht hatte, schließlich völlig übermüdet eingeschlafen war. Das Rätsel, das der Bruder ihm mit diesem Buch auferlegt hatte und das zu lösen er sich noch nicht im Stande sah, hatte ihm doch zu denken gegeben.
...Wie ist die Welt so stille
und in der Dämmerung Hülle
so traulich und so hold,
als eine stille Kammer,
wo ihr des Tages Jammer
verschlafen und vergessen sollt!...
~~~~oo2oo~~~~
So, das war's. Ich hoffe es gefällt euch...
Übrigens...Habt ihr's erkannt? Der Liedauszug am Schluss...
Der stammt von einem wunderschönen euch allen bekannten Kinderlied von Matthias Claudius (1773)- Der Mond ist aufgegangen...