Ich saß auf der Veranda, wie jeden Morgen. Ich trank meinen Kaffee, wie jeden Morgen. Ich war allein, den ersten Morgen seit ich dich kennenlernte. Du warst nicht da, um wie jeden Morgen mit deinem Tee hinter mir zu stehen und mich wie jeden Morgen mit deinem warmen Atem anzuhauchen. Du warst nicht da, um wie jeden Morgen deine Arme um Meine zu legen und mir wie jeden Morgen einen Kuss auf die Wange zu geben. Du warst nicht da, um wie jeden Morgen meine Liebe zu dir zu erwidern. Du warst nicht da, den ersten Morgen seit wir uns kennenlernten. Ich vermisse dich so sehr, ich glaubte schon, du stündest hinter mir, um mich mit deinem warmen Atem anzuhauchen und deine Arme um Meine zu legen. Ich glaubte, deinen Kuss auf meiner Wange zu spüren. Ich glaubte, du seist da um mich aufzufangen. Doch ich fiel in leere Hände. Meine Hüfte prallte auf den Steinboden der Veranda, die bis gestern noch zu unserem morgendlichen Ritual zählte. Doch jetzt ist sie nichts weiter als die Ursache meines Schmerzes, den ich bis tief in meine Knochen spürte. Ich versuchte aufzustehen, doch es wollte einfach nicht funktionieren. Mit all meiner Kraft, die ich irgendwie aus meinen letzten Adern herauskramte, robbte ich mich zum Geländer, um mich daran aufzustützen. Nur langsam gelang es mir, wieder Halt zu finden. Zunächst auf den Knien, dann probierte ich es eine Etage höher. Doch diesmal war es nicht die fehlende Kraft, die mich erneut zu Boden sinken ließ, sondern mein einziger starker Wille. Ich wollte zu dir. Alles in mir verlangte deine Nähe. Jede einzelne Faser sehnte sich danach, deinen Atem zu spüren.
Warum bist du tot? Warum? Es mag verrückt klingen, aber es will nicht in meinen Kopf rein, dass der Krebs dich endgültig besiegt hat. Er hat einfach alles in dir aufgefressen. Letztlich auch dein Herz. Du spürtest nichts mehr. Plötzlich sankst du hinter mir zusammen. Dein Tee verbrühte meine Wade, doch es interessierte mich nicht. Der Schmerz nahm mir nur ein Stück von dem, was ich fühlte. Aber eigentlich fühlte ich eine unendliche Leere, die gleichzeitig unser ganzes Leben vor meinen Augen abspielte. Jeder noch so kleine Moment mit dir wurde plötzlich so real, dass ich glauben könnte, wir säßen soeben im Kettenkarussel, der Wind pustet uns durchs Haar, besser gesagt mir, und dir meine Haare ins Gesicht. Das Bild werde ich nie vergessen, wie du wie ein Geist auf dem Kettenkarussel herumspuktest. Oder unseren ersten Kuss ganz unromantisch und ungewollt beim Döneressen. Du wolltest mich lediglich auf die Wange küssen und ich drehte mich genau in diesem Moment zu dir um, sodass unsere mit Knoblauchsoße und Zwiebeln vollgestopften Münder sich berührten. Jede Berührung war für mich unsterblich schön. Jede einzelne Faser meiner Haut stellte sich auf und lauschte deinen Bewegungen. Jede Faser wiegte sich mit deinem Atem. Die letzte Erinnerung jedoch vollendete all die schönen Bilder. Es war der Tag, an dem der Arzt mir deine Diagnose gab: Krebs. Lungenkrebs. Ich dachte erst, er würde Witze machen. Aber ich wusste genau, dass kein Arzt im Krankenhaus über so ein Thema Witze machen würde. Das erste, was mir in den Sinn kam, war, was das für dich bedeuten musste. Doch als ich in dein Gesicht sah, sah ich kein Entsetzen. Ich sah keine Verzweiflung. Ich sah nur das Bitten deiner Augen, dass ich dir verzeihen sollte. Mir fiel es so schwer. Doch in dem Moment wurde mir klar, dass jede Sekunde kostbar ist und ich wollte keine einzige damit verschwenden, dir Vorwürfe zu machen. Ich wollte einfach nur jede Sekunde genießen. Voll und ganz genießen, was ich in ein paar Wochen, Monaten, Jahren, nie wieder haben werde. Nie wieder werde ich deinen Atem auf meiner Haut spüren. Nie wieder werde ich deine Wärme mit meinem Gesicht wahrnehmen können. Nie wieder werde ich hören können, wie dein Herz im Rhythmus von Meinem schlägt. Nie wieder werden deine Hände mir morgens die Haarsträhne aus dem Gesicht streifen und deine Stimme mich mit einem sanften „Guten Morgen, Liebling“ wecken können. Nie wieder werde ich deine Lippen auf Meinen spüren können. All das werde ich in nur ein paar wenigen Monaten, so offenbarte es uns der Arzt, nie wieder haben. Es waren jedoch wunderschöne Monate. Ich nahm Urlaub, um jede Sekunde bei dir zu sein. Wirklich jede. Ich wich dir quasi nicht mehr von der Seite. Und du warst nie genervt von mir. Du legtest deinen Arm um mich, als ich das Gefühl hatte, ich würde dich nerven mit meiner Fürsorglichkeit. Du gabst mir einen Kuss, wenn ich verzweifelt war. Du berührtest mich, wenn ich mich trotz allem allein fühlte. Du wusstest immer genau, was ich brauchte. Und gestern verschwand alles auf einen Schlag. Ich hatte nichts dergleichen. Weder hatte ich einen Freund, der mich in den Armen hielt, wenn ich verzweifelt bin, noch hatte ich einen Ehemann, der mich liebte. Es dauerte keine einzige Sekunde bis mein Verstand realisierte, dass du tot warst. Mein Herz hat es da schon etwas schwieriger. Es will dich nicht gehen lassen. Unter keinen Umständen möchte es deine Liebe missen. Dieses Loch, was sich mit dieser einen Sekunde plötzlich gebildet hatte, war auf einmal da und konnte nur langsam wieder mit etwas anderem als Hass oder Unverständnis gefüllt werden. Wie lange es tatsächlich dauerte, habe ich nach drei Jahren erfahren.
Es war ein Sonntagmorgen. Ich ging wie jeden Sonntag nach deinem Tod in die Kirche. Gott kann mir nicht erklären, warum du damals von uns gegangen warst, aber er half mir, damit zu leben. Dein Tod lehrte mich so vieles: Das Leben ist vergänglich. Es gibt dir keine zweite Chance. Zu Leben ist eine einmalige Chance, die niemand von uns vergeuden sollte. Und ich weiß, dass wir jede einzelne Chance genutzt haben. Ich denke oft an die Zeit zurück, in der du mich mit einem Lächeln geweckt hast. Nie vergesse ich die Zeit, in der ich morgens auf der Veranda meinen Kaffee getrunken habe und du mit deinem Tee hinter mir standst und meine Arme umschlangst und mir einen Kuss auf die Wange gabst. Die Zeit mit dir war so unsterblich schön. Unsere gemeinsamen Jahre werden niemals sterben. Und deine Seele auch nicht. Drei Jahre habe ich gebraucht, bis der Glaube zu Gott mir zeigen konnte, dass deine Seele nie gestorben ist. Dein Körper war leblos. Dein Herz hat aufgehört zu schlagen. Deine Lunge hat versagt. Der Krebs hat sie zerstört. Du konntest keine Luft mehr holen, konntest dein Herz nicht mit Sauerstoff versorgen. Der Krebs hat ein riesengroßes Loch in deine Lunge gefressen und damit in dein Herz. Mein riesengroßes Loch hast du gefüllt. Du warst meine Rettung, auch wenn der unendliche Schmerz erst durch dein Fehlen ausgelöst wurde. Ich danke Gott für die Zeit, die er uns geschenkt hat. Du hast mein Leben verändert. Dies ist eine Liebeserklärung und ich hoffe sehr, dass sie dich erreicht. Egal auf welchem Wege. Ich liebe dich. Die Vorstellung gefällt mir, dass du jetzt als Engel über mich wachst und gerade bis über beide Ohren stahlst. Die Sonne scheint und ich stelle mir vor, dass du es bist. Ich stelle mir vor, dass du mir gerade zuhörst und antwortest: „Ich dich auch.“ Und an diesem Morgen füllte sich mein Herz mit Liebe. Nicht mit derselben Liebe wie vor drei Jahren. Nein, es war eine neue Liebe. Die Liebe zu uns. Die Liebe unserer Zeit. All die schönen Erinnerungen füllten nun mein Herz und nicht der Hass, warum keine einzige Erinnerung mehr dazu kommen wird. Uns wurde nicht mehr Zeit gegeben. Doch die Zeit, die wir hatten, war so unsagbar schön. Ich danke dir so sehr, dass du dein Leben mit mir geteilt hast und mich zu dem Menschen gemacht hast, der ich heute bin. Ich liebe dich.
Die Sonne scheint. „Ich dich auch.“