Ullr hatte sich schnell zurückgezogen und einem frischen, tatendurstigen Odin den Platz überlassen, sinnierte Thorstein, während er stolz am Steuer der Ragnarsúð stand, die unter den bewundernden Blicken der ganzen Siedlung zu ihrer erste Probefahrt auslief. Das strahlende Licht Walis schien auf die Ruderer herab und der Steuermann schien die Kraft des neu erweckten Frühlingsgottes Baldur bis tief in sein Innerstes hinein zu verspüren.
Nur noch ein Mond würde vergehen, bis Ragnar und seine Mannen mit Horik gegen Harald Klak zogen. Dann war es an Rollo und ihm, Straumfjorður zu schützen und die täglichen Geschäfte der Siedlung zu leiten.
Tief sog Thorstein die salzige Luft in seine Lungen. Wenn er sich nicht besonders anstrengte, so wie jetzt, war von der schweren Verletzung des letzten Herbstes kaum noch etwas zu spüren. Dennoch! Als er gestern beim Einwassern der drei Kriegsschiffe geholfen hatte, war ihm bitter bewusst geworden, dass er seine körperliche Stärke noch nicht wiedererlangt hatte. Sein lautstarkes Keuchen war keinem der anderen Männer entgangen. Allerdings hatte es keiner gewagt, ihn auch nur mitleidig anzusehen. Sie kannten ihn eben gut!
"Zieht das Segel auf!" Ragnar stand mit einem Fuß auf den Seitenplanken und kontrollierte die Fahrt seines Schiffes genau. Auch ihm waren die Freude des ersten Auslaufens und die gespannte Erwartung der kommenden Zeit anzumerken. Der Jarl hielt das Gesicht in die hoch aufspritzende Gicht, als sich das dunkelrote Segel majestätisch entrollte und in der ersten Bö aufblähte. Der riesige Drachenkopf, den die Frauen auf das Tuch gemalt hatten, schien im Wind beinahe lebendig zu sein. Die Súð verließ den schützenden Fjord und glitt hinaus aufs offene Meer. Möwen kreischten und flogen mit dem Boot. Die Wellen schlugen gegen den Bug und Thorstein war glücklich. Hier auf dem Meer fühlte er sich als Krieger und Abenteurer, hier spürte er die Freiheit, die die nördlichen Lande für ihn bereithielten.
Dennoch würde es heute anders sein als in den Jahren zuvor, besser. Wenn sie heute Abend zurückkehrten, würde er nicht allein am Hafen stehen. Rúna würde unter den Frauen sein, die ihren Gefährten vom Ufer aus zujubelten, Rúna und ihre kleine Solvig.
Thorstein hob das Gesicht ein Stück weiter der Sonne entgegen. So viel hatte sich geändert, seitdem er zum letzten Mal an Bord der Ragnarsúð gewesen war. Er hatte Glück gefunden, obwohl er nach Snóts Tod nicht mehr damit gerechnet hatte.
Wärme traf auf seine Haut und er genoss, was Baldur ihm schenkte. Sonne auf der Haut und Wärme in seinem Herzen - es war viel mehr, als er verdient hatte, viel mehr, als er sich erhofft hatte.
Der Steuermann öffnete die Augen und stellte fest, dass er beobachtet worden war. "Baldur meint es gut mit uns", grinste er Rollo an, der ihn gemustert hatte. "So viele trockene Tage hatten wir letztes Jahr nicht im Frühling."
Der Bruder des Jarl nickte zustimmend. "Wohl wahr! Und es ist gut, dass wir gerade dieses Jahr eine schnelle Aussaat hinbekommen haben. So bleibt uns mehr Zeit, uns auf Arngrims Mannen vorzubereiten."
"Wir sollten uns ein wenig näher an der Küste halten", warf Ragnar ein. "Alle wissen, dass wir die Súð auf ihre Unversehrtheit prüfen müssen. So werden wir kein Misstrauen erwecken, wenn wir uns ein wenig vor der Küste umsehen."
Thorstein nickte. "Machen wir das! Man kann nie aufmerksam genug sein. Vielleicht entdecken wir ja etwas, das uns nützt."
Rollo kratzte sich an der Stirn. "Vielleicht finden wir auch einen Platz, an dem wir einen Späher verstecken können. Auch wenn Arngrim alle seine Langboote mit auf die Leidang nehmen wird, bleiben doch seine zwei Dicken (1) , mit denen man zur Not auch Männer zum Räubern ausschicken kann. Wenn er das plant, könnten wir ihm einen Schritt voraus sein."
Sie drehten ein wenig bei und näherten sich der Küste, bis sie gute Sicht auf die Strände und Felsen hatten.
Rollo musterte die Küste gründlich. Der gesuchte Ausguck sollte nicht zu weit entfernt von Straumfjorður sein - zumindest sollte der Späher die Siedlung mit einem Pferd schnell erreichen können. Andererseits musste der Platz auch einen weiten Blick auf die Küste ermöglichen.
Sie fuhren, bis die Sonne im Zenit stand. Boot und Segel bewährten sich meisterhaft und auch die Ruderer fanden sich nach dem Winter wieder schnell in ihren gleichförmigen Rhythmus. Rollo, Ragnar und Thorstein musterten die Küste auf der Suche nach einem brauchbaren Platz für ihren Späher. Doch erst, als der Jarl bereits das Kommando zum Wenden geben wollte und sie sich ein weites Stück von ihrem eigenen Gestade entfernt hatten, sahen sie eine Klippe, die sich baumbestanden ins Meer hineinschob. Hier könnte ein Mann sich gut verstecken, dachte der Steuermann und Rollo unterstrich diese Idee mit einem halblauten: „Das ist es!“
Zufrieden mit der Zuverlässigkeit der Ragnarsúð und mit ihrem Fund gab Ragnar den Befehl zum Wenden. Das Gleichmaß der Ruderschläge löste sich auf, während die Männer das Boot um die eigene Achse zogen. Die Súð bockte wie ein störrisches Pferd und die Männer mussten sich gegen den Widerstand des Wassers mit vollem Kraftaufwand behaupten. Dennoch lachten die Krieger, wenn das Meer seine Gischt über ihre Gesichter verteilte. Sie liebten die Gefahren und die Unberechenbarkeit ihrer See. Auch Thorstein genoss die Fahrt. Im Gegensatz zu seinen Freunden würde er in diesem Jahr auf ein Seeabenteuer verzichten und sich der Sicherheit Straumfjorðurs widmen müssen. Umso mehr genoss er die Fahrt an diesem friedlichen Tag. Während sie gen Westen segelten und später langsam in ihren Fjord einfuhren, erlaubte er sich an vergangene Fahrten zu denken. Nicht immer war das Meer so friedlich gewesen und er wusste es zu schätzen, dass nur kleine Wellen gegen den Bug des Bootes rollten. Heute würden sie problemlos in den Hafen einlaufen.
Die Ragnarsúð nahm die letzte Biegung vor der Siedlung mit spielerischer Eleganz. Thorstein selbst hatte das Steuer übernommen, um sie sicher in den Hafen zu geleiten. Es war eine Ehre, die ihm Ragnar mit großer Selbstverständlichkeit überließ. Keiner unter den Männern war enger mit den Schiffen und der See vertraut als sein Steuermann. Keiner wusste den Bau und die Pflege der Boote besser zu organisieren und anzuleiten als er. Er, der Jarl, nahm hingegen seinen Platz am Bug des Schiffes ein. Noch war der neue, hell schimmernde Drachenkopf (2) , den Thorstein im Winter geschnitzt hatte, nicht auf dem Vordersteven platziert. Dennoch war der Platz des Jarl seiner hochrangigen Position angemessen.
Der Wind stand günstig und trieb die Súð wie von selber Richtung Anlegestelle.
Ragnar zog sich seinen Umhang etwas enger um die Schultern und setzte einen Fuß auf die Seitenplanke. Auch Thorstein richtete seinen Blick erwartungsvoll zum Hafen. Heute würde es anders sein, als im Vorjahr. Unwillkürlich richtete er sich trotz des Steuers ein wenig weiter auf, nahm eine stolze Haltung an. Und wirklich! Dort stand sie - seine Rúna. Gleich hinter Lathgertha hatte sie einen Platz in den vorderen Reihen gefunden, die kleine Solvig im Arm. Thorsteins Lächeln wurde breiter. Gleich würden ihm die weichen Hände des kleinen Mädchens fröhlich ins Gesicht patschen und sie würde ihn bestimmt wieder einmal an seinem Bart ziehen. Gleich würde sich seine Rúna an ihn schmiegen und ihn zärtlich begrüßen. Was also gab es Besseres, als nach einer gelungenen Fahrt nach Hause zu kommen?
[1] Dicke - gemeint sind die Handelsschiffe, die kleiner und breiter als die Langboote waren
[2] Der Drachenkopf am Vorder- oder auch an beiden Steven war ein Zeichen der Wikingerschiffe, das häufig von den Feinden in ihren Berichten genannt wird. Dabei war diese Figur abnehmbar und somit vermutlich nicht ständig am Schiff befestigt. Die Drachenköpfe hatten eine doppelte Funktion: So sollten sie auf See die bösen Seegeister fernhalten und in den Schlachten die Feinde erschrecken. Bei Überfällen konnte an ihnen ein Kriegsbanner befestigt werden. Der Drachenkopf wurde nur während der Fahrt aufgesetzt. Im Hafen oder beim Anlaufen des Hafens wurde der Drachenkopf abgenommen. Das hatte einen einfachen Grund: Der furchterregende Drachenkopf sollte die guten Landgeister (landvaettir) nicht erschrecken und verjagen. So war es in dem isländischen Ulfljóts-Gesetz vorgeschrieben, dass bei Schiffen, die einen Drachen- oder Tierkopf als Stevenschmuck trugen, dieser abgenommen werden musste, sobald sie in Landsicht von Island kamen. (Quelle: http://www.manfrieds-trelleborg.de/forum/viewthread.php?thread_id=62)