Einige Minuten lang lag ich zusammengerollt auf dem Teppich, bis sich der Schmerz linderte. Der Stoff unter meinem Kopf wurde nass von den Tränen, die ich geweint hatte. Ich setzte mich auf und stützte mich mit beiden Händen hinter dem Rücken. Ich wollte nicht zu Alex schauen, aber ich musste es tun. Langsam hob ich den Kopf und sah in Alex' wunderschönen grünen Augen. Eine weitere Schmerzwelle erreichte mich, doch diesmal kämpfte ich gegen sie an. Ich durfte nicht noch einmal hinfallen.
»Alex« sprach ich zu ihm. »Du bist mit mir zusammen. Du kannst Camilla gar nicht kennen. Sie lebt nicht hier, sondern in den Vereinigten Staaten« legte ich als Beweis vor.
Alex und Camilla sahen mich beunruhigt an. Nur mein Bruder blieb gleichgültig, ich konnte von seinem ausdruckslosen Gesicht nichts ablesen. Trotzdem hatte ich das starke Gefühl, dass mich alle drei für verrückt hielten. Es ging mir schlecht, und an einmal lachte Camilla laut los.
»Ach, Blanka« sagte sie. »Du führst uns doch wieder auf der Nase herum! Ich kann deine Witze durchschauen, ich kenne dich gut.«
»Das ist kein Witz« rief ich entsetzt, doch meine Cousine hörte nicht auf zu lachen.
»Wir sind schon seit Jahren zusammen« behauptete sie. »Und Alex wohnt auch dort, wo ich wohne. Wohin wir geflohen sind« sie blickte Alex verliebt an. Alex lächelte zurück und ich drehte mich schnell weg, damit ich es nicht mitansehen musste.
»Camilla, hör mir zu! Ich weiß nicht, wieso du behauptest, dass du mit Alex zusammen bist, aber ich kenne ihn besser als du. Und wenn ihr mich nur reinlegen wollt, dann ist die Sache wirklich schiefgegangen!« teilte ich ihr mit.
Jetzt lachte auch schon Alex.
»Nur schade, dass ich dich überhaupt nicht kenne und mehrere tausend Kilometer zwischen uns liegen« stieg er in die Diskussion ein.
Er zog Camilla zu sich. Dann küsste er sie wieder... Wieder ein Messerstich. Mein Magen verkrampfte sich und ich musste erneut weinen. Ich konnte nicht mitansehen, wie Alex meine Cousine küsste. Dass er sie liebte und nicht mich. Dass er mich gar nicht kannte.
Ich wollte aufstehen und aus dem Zimmer rennen, aber irgendetwas hielt mich am Boden fest, ich konnte mich nicht bewegen. Ich kippte den Kopf schwach zur Seite und blickte zur Burg. Der General hatte seine Spur hinterlassen… Wenn der Soldat von jetzt an dort bleiben und die Burg nicht angreifen, sondern sie verteidigen würde, hinterließe er auch seine Spur. Dann wäre die Burg jedoch in sicheren Händen. Eine schöne Vorstellung, die nicht jedem gegeben ist. Denn meine Burg ist zusammengestürzt… Mein Leben ist zerfallen.
Das Feuer hinter meinem Ohr entflammte wieder, doch diesmal viel intensiver als zuvor. Den Schmerz zu erlöschen war unmöglich, ich konnte ihn noch immer nicht erreichen und er wurde immer heftiger. Mein Bruder trat zu mir, setzte sich auf die Knie und legte seine Hand auf meine Stirn.
»Ich helfe dir« sagte er. Ich hörte ein Schnipsen, dann das Knistern von brennenden Federn.
»Was zum Teufel tust du?!« kreischte ich, doch er regte sich nicht.
»Meditiere« befahl mir Lucas. »Das wird dir helfen.«
»ERLISCH ES! ERLISCH ES ENDLICH! LUCAS!« heulte ich und schlug wild herum, doch mich umgab nur ein leerer Raum. Ich nahm weder meinen Bruder, noch Camilla oder Alex wahr, ich war ganz allein.
Das Feuer wollte nicht aufhören zu brennen und ich konnte nichts tun, außer aus der Kehle zu schreien. Der Raum wurde immer heller, bis alles völlig grell war und ich mich im absoluten Nichts befand.
Ich wurde auf ein dumpfes Geräusch aufmerksam und öffnete langsam die Augen. Mein Gehirn arbeitete langsam, ich konnte nur schwer denken. Der Schmerz war fast vollkommen verschwunden, ich spürte nur noch ein schwaches Brennen. Ich fasste zu meinem Hals. Hinter meinem linken Ohr klebte ein kleines Heftpflaster.
Die Wand über mir war weiß, das Licht der Neonröhren blendete. Meine Hand tastete den weichen Stoff ab, der mich umgab. Es war eine Bettdecke.
Ich lag in einem Bett, das definitiv nicht meins war. Eine weiche Matratze stützte meinen Körper. Ich setzte mich auf und erinnerte mich an das Geräusch von vorhin. Meine müden Augen untersuchten den Raum. Der Linoleumboden war hellgrau und mit winzigen schwarzen Punkten verziert. Neben dem Bett lag ein Kissen. Wenn ich alles nur geträumt hatte, wo war ich dann?
Links von mir war die Wand aus dunklem Glas, ich konnte darin mein Spiegelbild erkennen. Ich sah, dass ich ein weißes Top und eine lange, ebenfalls weiße Hose anhatte. Meine Flügel fühlten sich schwer an und taten weh, aber wenigstens waren sie nicht zusammengebunden. Ich bewegte sie ein wenig, um das Taubheitsgefühl zu lindern.
Der Raum, in dem ich mich befand, war groß. Das Bett stand genau in der Mitte. Ich kämpfte mich zum Bettrand und berührte mit den Fußballen den Boden, wo weiße Filzschuhe lagen. Langsam schlüpfte ich erst mit dem einen, dann mit dem anderen Fuß hinein. Ich wollte aufstehen und den Raum erkunden, doch nach dem ersten Schritt ließen meine Muskeln nach und ich stürzte zu Boden. Meine Handflächen dämpften zwar den Sturz, dennoch schlug ich den Kopf leicht an. Auf dem Boden liegend beschloss ich dann, gleich liegen zu bleiben. Ich drückte die rechte Wange gegen das kühle Linoleum und schloss die Augen.
Mein Bruder und ich saßen in der Küche und frühstückten. Das Gedeck war das übliche; pastellgelbes Tuch auf dem Tisch, in der Mitte eine Vase mit weißen Blumen. Wir aßen von unseren königsblauen Glastellern.
Es gab Toast. Zwei Sorten, normalen Toast und Vollkorntoast. Der normale Toast war hell, der Vollkorntoast dunkler, schmeckte aber besser. Ich legte zwei Scheiben vom hellen Toast auf meinen Teller und griff zur Butter. Lucas nahm sich jeweils eine Scheibe vom hellen und vom dunkleren Toast und wartete geduldig, bis ich ihm die Butter überreichte. Eine Scheibe belegte ich mit Salami und klappte die zweite drauf. Mein Sandwich schmeckte himmlisch.
»Zwei unterschiedliche Toastsorten« fing er an. »Eine helle und eine dunklere.«
»Isst du deinen Toast auch als Sandwich?« unterbrach ich ihn.
»Ich nicht« antwortete er. »Die Scheiben bestehen drauf, getrennt gegessen zu werden. Solange sie sich sehen können, musst du hell auf hell, dunkel auf dunkel tun.« Er hielt inne und legte eine große Scheibe Käse auf den hellen Toast, die die vier Seiten des Brotes verdeckte. »Aber sobald eine Trennwand zwischen den beiden Scheiben aufgezogen wird, was in unserem Fall diese Scheibe Käse ist, wird der helle Toast glauben, dass das andere Brot von derselben Sorte ist. Er ist fest davon überzeugt, dass er nicht reingelegt wird.« Lucas nahm den dunklen Toast und legte ihn auf den Käse. Die beiden Toastscheiben berührten sich nicht. »Draufkommen wird er erst, wenn es schon zu spät ist. Wenn sie sich treffen und vereinen« sagte er und biss in sein Sandwich. Ihn machte es anscheinend nichts aus, die beiden Sorten gemeinsam zu essen. Den Toasts schon, aber es war schon zu spät.
»Du hast den weißen Toast hintergangen« stellte ich fest.
Mein Bruder lächelte leicht.
»Na und? So enden alle, die mir vertrauen. Für mich ist das ein Vergnügen. Zwei Fliegen auf einen Schlag.«
»Oder drei« ergänzte ich.
Lucas aß unbeschwert sein Sandwich. Ich schaute ihm dabei zu bis mir auffiel, dass ich ganz vergessen hatte, mein Brot zu essen. Schnell biss ich in mein Sandwich und war froh, dass meine Scheiben nicht enttäuscht waren.
»Drei?« fragte er plötzlich. »Wer ist der Dritte?«
»Der Käse.«
»Ja, stimmt. Hätte ich fast vergessen. Aber der Käse ist unwichtig. Die zwei Scheiben Toast sind die Hauptfiguren. Hell und dunkel.«
»Die Käsescheibe ist wichtig« sagte ich entschlossen.
»Warum sollte sie es sein? Sie ist nur das Mittel zum Zweck.«
»Genau deswegen. Ohne Käsescheibe könntest du den Toasts nichts vortäuschen« erklärte ich. »Sie ist die Tarnung für den dunklen Toast und gibt gleichzeitig dem Weißbrot Hoffnung.«
»Nur, solange sie gebraucht wird. Solange hell und dunkel sich nicht begegnen. Doch dann verliert sie an Bedeutung« sagte Lucas.
»Das ist traurig. Sie wird nur ausgenutzt.«
»Das ist ihre Bestimmung.«
Ich nahm zwei dunkle Scheiben. Mein Bruder gab mir die Butter und als ich sie auf den Toast strich, kam ich drauf, dass der Aufstrich keine Butter mehr war.
»Komisch. Vorhin war noch Butter drin. Jetzt Margarine.«
»Das kann durchaus sein« meinte er gleichgültig.
Ich strich Margarine auf die zwei dunklen Scheiben.
»Wenn du dem Dunklen begegnest, können dir nur pflanzliche Mittel helfen. Falls du verstehst, was ich meine.«
»Klar« nickte ich, obwohl ich seinen Satz überhaupt nicht verstand. Nichts davon ergab einen Sinn.
»Du verstehst es nicht« stellte er fest. Als würde er meine Gedanken lesen können.
»Stimmt« lachte ich. »Wie soll ich es auch verstehen, tierische Mittel sind immer stärker.«
»Du hast Recht. Doch was wir hier brauchen, ist nicht die Stärke, sondern die Ruhe. Pflanzen wirken beruhigend.«
»Achso« sagte ich. »Ich bin immer ruhig.«
Ich hatte vor, mir eine Scheibe Käse zu nehmen. Eine genauso große, wie Lucas vorhin.
»Es gibt keine großen Scheiben mehr« teilte mir mein Bruder mit. »Die dunklen Toasts sind schlauer, die kannst du nicht hintergehen. Sie spüren sich gegenseitig.«
»Ich möchte doch nur eine große Scheibe Käse essen.«
»Warum änderst du dann nicht die Kombination?« er zeigte auf die beiden dunklen Toasts. »Wenn du so sehr auf Gefahr stehst.«
Ich ignorierte den letzten Satz.
»Ich habe beide schon bestrichen« antwortete ich.
»Gib mir eine Scheibe« Lucas nahm sich einen Toast von meinem Teller. »Danke.«
»Bitte.«
»Sag das nicht, Schwesterherz. Nicht, wenn du das Dunkle verschenkst.«
»Sei doch nicht so albern, du hast dich doch bedankt.«
»Ja« er bedeckte den Toast mit Salami.
Als ich meine Hand nach einem weißen Toast streckte, stach mich etwas. Ich riss meine Hand zurück.
»Autsch, was war das denn?« fragte ich erschrocken.
»Sie spüren die Gefahr« klärte mich Lucas auf. »Einer von ihnen wurde schon zum Opfer, sie werden immer vorsichtiger.«
»Aber das sind doch nur Toastscheiben!«
Mein Bruder schüttelte den Kopf.
»Worüber haben wir gerade gesprochen?«
»Ich weiß es nicht…« Ich dachte, alles sei nur metaphorisch gemeint.
»Es ist wahr, das sind nur Toasts. Toasts, die aus organischen Teilchen bestehen und energiegeladen sind. Sie ziehen sich entweder an oder stoßen sich ab. Wenn sie die Gefahr spüren, stoßen sie dich ab.«
»Organische Teilchen und Energie… Ist klar.« So ein Blödsinn.
»Das Mehl aus der Erde, Salz aus dem Meer. Die Bräune vom Feuer mit der Leichtigkeit der Luft. Sie enthalten alle vier Elemente und zusätzlich das fünfte Element, das diese vier verbindet: die Energie.«
Besserwisser.
»Und was soll ich jetzt tun?« fragte ich geärgert.
»Eine Falle bauen.«
»Wie? Ich hab noch nie in meinem Leben eine Falle für Toastscheiben aufgestellt.«
»Lass sie glauben, dass du zwei gleiche Sorten aufeinander legen willst. Aber schnell, sonst wird’s nicht funktionieren.«
»Ich hab’s« sagte ich stolz und nahm ohne Zögern zwei weiße Scheiben aus der Packung. Die eine Scheibe überreichte ich dann unerwartet meinem Bruder, der die dunkle Scheibe damit bedeckte.
»Zwei Fliegen auf einen Schlag« zitierte ich ihn.
Ich schmierte Margarine auf den hellen Toast und fand dann eine große Scheibe Käse. Dann legte ich den dunklen Toast auf die andere Seite der Käsescheibe und genoss mein Sandwich.
»Na dann, Guten Appetit« sagte mein Bruder.