»Ich weiß nicht was mit ihr los ist« antwortete er auf eine Frage, die ich nicht hörte.
»Es ist besser, wenn du jetzt gehst, Alex. Wir brauchen sie in den nächsten Stunden, deine Anwesenheit macht sie nur unbrauchbar.«
»Ja, Boss« sagte er und entfernte sich von uns.
Er war weg. Jetzt musste ich stark sein und mich zusammenreißen. Ich befreite mich aus den helfenden Händen und richtete mich auf.
»Kann ich endlich duschen gehen?« fragte ich mit zittriger Stimme.
»Natürlich« antwortete der Boss.
Er und die ganze Begleitung führten mich vom Feld zum Ausgang. Die Duschen waren mit den Umkleideräumen zwar gleich nebenan, dennoch blieben wir nicht stehen, sondern gingen weiter nach oben. Mit jeder Sekunde wurden die Fesseln lockerer. Wir hielten vor einem Gang an, der zu den anderen Umkleiden und Duschen führte.
»Können wir dir vertrauen?«
»Ja« antwortete ich, ohne lange nachzudenken. Meine Stimme klang überzeugend.
»Du weißt, was mit dir passiert, wenn du dich nicht benimmst? Ich nehme an, so weit willst du es nicht kommen lassen.«
»Ich werde mich benehmen« ich betonte jedes einzelne Wort.
»In Ordnung« sagte er schließlich. »Du hast fünf Minuten. Handtuch und Kleidung findest du in der Dusche. Geh.«
Fünf Minuten. Ich hatte fünf Minuten, die mir das Leben retten könnten. Denn die Gefangenschaft machte mich träge und krank, die Zeit im Institut, in dem sterilen weißen Zimmer, nahm mir die Freude am Leben. Ab und an, als ich mich stark genug fühlte, um den Tatsachen ins Gesicht zu sehen, dachte ich an meine Familie und an Stella. Würden sie mich vermissen? Waren sie schon auf der Suche nach mir oder hatten sie längst die Hoffnung aufgegeben? Würde Lucas oder Stella meinen Eltern Bescheid sagen, was ich war? Würde ich sie denn jemals wiedersehen? Ich stellte mir viele Fragen, auf die ich keine Antwort hatte. Als die Gedanken unerträglich wurden, vergrub ich das Gesicht im weißen Kissen und weinte stundenlang. An anderen Tagen stieg die Wut in mir auf und ich warf Gegenstände gegen die dunkle Glaswand oder schrie die Ärzte an, dass sie mich endlich herauslassen sollen. Doch keine meiner Taten brachte eine Veränderung, ich wurde weder freigelassen, noch interessierte sich jemand für mein Wohlbefinden. Alleine Dr.Clear hatte gelegentlich ein paar nette Worte für mich.
Ohne ein Wort wandte ich ihnen den Rücken zu und eilte zu den Umkleiden, zu denen die Tür am Ende des Ganges führte. Ich wusste, dass mir alle hinterherschauten und mich beobachteten.
Sie wussten, dass eine Flucht unmöglich war. Doch Alex wird die Fesseln nicht umsonst gelockert haben… Das war vielleicht meine einzige Chance, zu fliehen. Auch wenn ich letztendlich versagen würde, jetzt oder nie, ich musste es wenigstens versuchen.
Ich schloss die Tür zur Dusche, drehte einen Wasserhahn auf und zählte die Sekunden. Innerhalb von zwei Minuten fielen die Fesseln auf den Boden.
Stark konzentriert musterte ich den Raum. Das kleine Fenster war nicht größer als das im Institut. Ich war mir nicht sicher, ob ich herausklettern konnte, es war aber die einzige Möglichkeit, die mir die Dusche bot.
Adrenalin schoss durch meine Adern, mein Herz schlug mir bis zur Kehle. Das Fenster war zu, ich musste erst herankommen und es öffnen, bevor ich mich durchpressen konnte. Ich hielt mich an der Trennwand zwischen zwei Duschkabinen fest und fing an, mit den Flügeln stark zu schlagen, damit sie so schnell wie möglich wieder ihre Größe erreichten.
Als sie zum Fliegen bereit waren, nahm ich Anlauf und sprang zum Fenster. Beim ersten Sprung konnte ich es aufmachen, beim zweiten hielt ich mich an dessen Rahmen fest und zog mich mühsam hoch. Ich streckte ein Bein nach dem anderen ins Freie, aber das Fenster war einfach zu klein. Mein Kopf hätte nicht mehr hindurchgepasst, also ließ ich mich fallen und stieß mich dann mit den Beinen sofort von der Außenfassade ab.
Die Wiese unter mir war überfüllt von spielenden Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Meine Flügel und mein Rücken brannten von der vorigen Anstrengung, doch da ich um mein Leben flog, durften mich die Schmerzen nicht von der Flucht abhalten. Mit meinem Flattern in der Luft fiel ich schnell auf, es war unmöglich, unbemerkt über ihre Köpfe zu fliegen. Schon nach wenigen Sekunden hörte ich den ersten Schrei. Nicht nach unten schauen, befahl ich mir.
Ich flog auf die Wolkenkratzer vor mir zu, mein Blick war starr nach vorne gerichtet. Ein harter knall dröhnte laut, gefolgt von furchtbarem Schmerz in meinem rechten Flügel. Ein Schuss hatte mich getroffen. Heißes Blut durchnässte mein verschmutztes Glied, ich war nicht in der Lage, weiterzufliegen. Ich stürzte hinunter, konnte aber mit letzter Kraft den tödlichen Aufprall vermeiden.
Die Menschen blieben stehen, als ich auf der belebten Straße landete. Sie starrten mich an, auch diesmal blieben die Schreie nicht aus. Ich sprang auf, wickelte meinen verletzten Flügel um mich und presste ihn mit dem anderen Flügel an meinen Körper. Am liebsten hätte ich selbst vor Schmerz geschrien, doch das hätte die Aufmerksamkeit noch mehr auf mich gelenkt.
Im nächstliegenden Gebäude war ein großes Geschäft, ich lief hinein. Glücklicherweise hatten die Menschen drinnen nichts von meinem Aufprall mitbekommen und beachteten mich genauso gleichgültig, wie sie es mit anderen unbekannten Gesichtern taten. Draußen waren die Leute wahrscheinlich zu schockiert, um mir zu folgen oder hielten die Aktion für einen gut vorbereiteten Scherz. Sie standen noch immer aus ihrem Alltag gerissen auf der Straße herum, was mir einen gewaltigen Vorsprung ermöglichte. Ich entwich ihren Blicken, indem ich hinter die ersten Regale lief und im Schritttempo weiterging.
Ich durfte nicht auffallen, doch so sehr ich mich auch anstrengte, meine Nervosität konnte ich nicht verstecken. Ich zitterte innerlich und äußerlich, als würde ich gleich zusammenbrechen. Einige starrten mich an, konnten aber nicht viel mit meinen Flügeln anfangen. Von außen betrachtet hätten sie auch Teil meines komischen Anzuges sein können, niemand zweifelte an deren Unechtheit. Der gesunde Menschenverstand meiner Umgebung stand dieses Mal auf meiner Seite.
Das rinnende Blut nahmen die Federn meines anderen Flügels auf. Ich zog den ersten Pullover an, den ich fand. Danach wusste ich nicht weiter.
Ich hielt den Panikschrei zurück, als bewaffnete Männer in das Geschäft strömten. Es waren dieselben wie in der Arena. Ein kleines Kind brüllte auf, seine Mutter zog es fest zu sich, die Angst war auch in ihrem Gesicht zu erkennen. Die Männer teilten sich auf, einige kamen in meine Richtung. Mein Herz schlug zu schnell, meine Glieder waren taub und ich hatte Angst, gleich in Ohnmacht zu fallen. Ich duckte mich und rannte schnell hinter den Regalen zum Notausgang. Bevor ich ankam, erblickte ich einen Bewaffneten, der in der Nähe der Fluchttüre die Gänge absuchte. Ich drehte mich um und lief in die andere Richtung. Das Geschäft wurde evakuiert, die Zeit war knapp. Ich kniete auf dem harten Boden und wartete, versuchte wieder dem Ausgang ein Stück näherzukommen. Die Truppe bewegte sich vorwärts, die Bewaffneten durchforsteten schon die Spielwarenabteilung. Unauffällig schlich ich mich zum Ausgang, riss die Tür auf rannte los.
Ein langer, grauer Gang sah mir entgegen. Rechts von mir führten Treppen hinauf, am Ende des Ganges spazierten Menschen vor der Glastür vorbei. Ich entschied mich für den Ausgang.
Draußen begegnete ich wieder der hektischen Menschenmenge, die mir zum Glück keine Beachtung schenkte. Ich blieb nicht stehen, sondern konzentrierte mich auf das gegenüberliegende Gebäude. Als ich wieder Schreie hörte, wusste ich, dass die Bewaffneten aus dem Geschäft geströmt sind und beschleunigte meine Schritte.
Im Einkaufszentrum musste ich mich vor Erschöpfung fast übergeben, während ich mich auf der Rolltreppe durch die Menschen quetschte. In wenigen Sekunden brach Panik aus. Der erneute Schub an Adrenalin gab mir Kraft, nicht stehen zu bleiben.
Vor mir ging eine Lifttür zu, ich schaffte es durch den kleinen Spalt gerade noch in den Aufzug. Es war mir heiß im Pullover, Schweißtropfen verzierten mein ganzes Gesicht. Die gleichgültigen Blicke waren wieder auf mich gerichtet, mit meinen zittrigen Händen betätigte ich den obersten Knopf. Es leuchteten schon viele Zahlen – zu viele, um meinen Verfolgern entkommen zu können. Ich werde früher aussteigen und zu Fuß weiterlaufen müssen, wenn die bewaffneten Männer den Lift einholen.
Der Aufzug blieb im vierten Stockwerk stehen, wo die meisten auch ausstiegen. Ich presste mich gegen die Wand und betrachtete die Knöpfe. In den obersten Stockwerken befanden sich Büros – vielleicht könnte ich mich dort oben verstecken, bis sich meine Verfolger zurückzogen. Ich drückte wieder einen Knopf, der zur Ebene oberhalb des Einkaufsbereiches gehörte.
Mein Magen drehte sich, als der Lift wieder stehen blieb. Meine Knie waren weich, ich zitterte immer stärker. In das letzte Stockwerk fuhr ich alleine und verließ panisch den Aufzug, sobald die Tür aufging. Die langen Flure und unendlich vielen Türen erinnerten mich an das Institut. Sah hier überall alles gleich aus? Ich lief ziellos den Gang entlang, bis ein Angestellter im schwarzen Anzug auftauchte. Er hielt in der einen Hand Papiere, in der anderen seine Aktentasche. Ich verlangsamte sofort meine Schritte und versuchte, nicht aufzufallen. Der Mann ging neben mir vorbei, doch dann drehte er sich um und fragte, ob er mir behilflich sein kann. Ein dünnes »Nein, danke« war das Einzige, was ich herausbrachte, ehe er weiterging. Ich hörte noch, wie er in den Lift stieg, meine Sinne waren geschärft.