Der leise Motor beruhigte meine Sinne, ich tanzte auf dem schmalen Grat zwischen Schlaf und Wachsein. Meine Flügel schmerzten, doch dieser Schmerz wurde großteils ausgeblendet. Irgendetwas erinnerte mich daran, dass ich noch immer in Gefahr war. Es war eine Erinnerung an den Tag, als mir beim Versuch, im Zimmer zu fliegen meine Wunde riss… Natürlich. Sie hatten mich mit einem Sender versehen.
»Der Chip« sagte ich eintönig. Meine Stimme zitterte noch immer, klang aber nicht mehr verzweifelt. Ich hoffte, dass sie Alex erreichen würde.
Ich spürte, wie er im Sitz verharrte. Dann sagte er etwas, allerdings nicht zu mir.
»Der Plan ändert sich. Wir fahren in die andere Richtung.«
»Wohin? Wenn sie wirklich einen Sender in sich trägt, dann werden sie uns überall finden« hörte ich den Mann am Steuer.
»Ich weiß… Wir müssen etwas unternehmen. Wir müssen den Chip beseitigen, sofort« meinte Alex kühl.
Mein Magen verkrampfte sich. Ich würde keine weiteren Schmerzen mehr ertragen.
»Blanka?« Alex wandte sich zu mir.
Ich antwortete nicht, ich war nervös. Seine Beine bewegten sich, dann sah ich sein Gesicht vor mir. Ich sagte noch immer nichts. Aus irgendeinem Grund konnte ich seine Augen mustern, ohne dabei Schmerz oder Freude zu empfinden. Als würde ich dieses Gesicht nicht kennen. Als hätte ich diese fremden Augen noch nie gesehen.
»Blanka, hör mir bitte zu« bat er.
Ich war abgeschweift. Mühsam kletterte ich halb unter dem Sitz hervor. Meine Handgelenke waren taub, meine Beine spürte ich nicht mehr. Ich bereitete mich darauf vor, was mir Alex sagen würde und hörte ihm aufmerksam zu.
»Wo haben sie dich markiert?« wollte er wissen.
Ich dachte nach. Meinen linken Flügel? Oder war es doch der rechte? Ich versuchte, mich zurückzuerinnern, mein Gehirn ließ mich jedoch in Stich.
»Blanka! Konzentriere dich! Du musst jetzt wach bleiben!«
War ich tatsächlich kurz davor, mein Bewusstsein zu verlieren? Es kam mir so vor, als wären meine Augen offen.
»Blanka!« Alex zog mich zu sich hoch, bevor mein Kopf wieder auf den Teppichboden fiel. »Wir brauchen dich jetzt! Wo ist der Chip?«
Mein Kopf begab sich hinter seine Schulter, wie er mich umarmte.
»Mein Flügel« sagte ich schwach.
»Oh mein Gott, du blutest überall« er nahm vorsichtig meine Flügel und legte sie auf meinen Rücken.
»Aua« stöhnte ich und biss vor Schmerz in seine Schulter.
Er befreite mich aus der Umarmung und legte mich in sein Schoss, mein Gesicht berührte den weichen Sitz. Mir war egal, was er vorhatte, solange er mich von diesem Ort wegbrachte.
Mein Kopf wurde immer schwerer, ich konnte mich nicht mehr auf meine eigenen Gedanken konzentrieren.
Eine Nadel stach mich irgendwo und kurz später verschwanden alle meine Schmerzen.
»Danke« flüsterte ich.
Er stand reglos vor mir wie ein Engel. Seinen Körper bedeckte ein schwarzes, enges Kleid, aus seinem Rücken ragten zwei riesige, pechschwarze Flügel in die Höhe. Etwas Unheimliches verbarg sich in seiner Miene, aber ich kam nicht drauf, was mir an diesem schneeweißen Gesicht nicht gefiel. Ich betrachtete ihn lange, bis mir schließlich die tiefschwarzen Haare auffielen, die die markanten Linien seines Gesichtes umhüllten. Alex war kein Engel, sondern ein Dämon.
Das helle Licht, das von allen Seiten kam, blendete stark. Ich trat einen Schritt näher zu ihm, doch er schaute mich weiterhin nur leblos an, als wäre er eine Attrappe. Ich hoffte, seine grünen Augen bewundern zu können, traf zu meiner Enttäuschung aber auf zwei dunkelgraue, ausdruckslose Flecken. Wohin war die Schönheit verschwunden? Ich hob eine Hand in die Höhe und stockte halbwegs. Ein unsichtbarer Widerstand hinderte mich daran, sein Gesicht zu berühren. Ich bewunderte diesen Widerstand, ließ mich jedoch nicht von der Bewegung abhalten.
Seine Haut war kalt und hart, als meine Finger ihn erreichten. Die ausdruckslose Miene änderte sich und wirkte nun bedrohlich. Seine glasige Haut bekam plötzlich Risse und zersprang in tausend Stücke. Ich drehte mich um und lief weg, doch die Scherben bohrten sich in meinen Rücken.
Es wurde immer heller, ich kniff meine Augen zusammen. Die Scherben lösten sich langsam auf. Ich war alleine inmitten vom raum- und zeitlosen Nichts.
Als ich die Augenlider wieder öffnete, zog sich der weiße Nebel langsam wieder zurück und zwei leuchtend grüne Augen erschienen vor mir. Sie musterten mich, ein Mund verzog sich zu einem Lächeln. Ich merkte, wie ich es unwillkürlich erwiderte.
»Hi meine Liebe« sprach der lächelnde Mund und ich erkannte das Gesicht. Es war Alex.
Mein Kopf lag weich auf einem Kissen in seinem Schoss. Es fühlte sich so an, als würde ich auf Wolken schweben.
»Hi« flüsterte ich. Die Freude des Wiedersehens ließ mein Herz tanzen. Ich sah ihn blinzelnd an und wartete darauf, dass er mir mit seiner samten Stimme eine Geschichte erzählt.
»Wie fühlst du dich, Liebes?« fragte er. Eine Hand ließ er auf meinen Haaren ruhen und spielte mit einer Strähne.
»Gut« antwortete ich. »Glücklich. Frei.«
»Willkommen in deiner neuen Heimat« tönte seine Stimme.
»Eine schöne Heimat« lächelte ich und schloss wieder die Augen.
Alex hauchte einen sanften Kuss auf meine Stirn. Ich konnte die Wärme und Zuneigung seines Wesens fühlen, am liebsten hätte ich ihn fest umarmt und nie wieder losgelassen. Ich war glücklich, denn er gab mir die Freiheit, nach der ich mich so sehr sehnte. Oder war er die Freiheit selbst? Ich drehte mein Gesicht zu ihm und drückte meine Wange gegen sein weißes Shirt, das seinen Bauch bedeckte. Sein Duft war himmlisch, genauso wie an dem einen Nachmittag, als uns der Regen überraschte und seine Lippen das erste Mal meine berührten…
Von der Freiheit träumend schaukelten wir im unendlichen Raum. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft – sie waren für uns nicht mehr von Bedeutung. Wir fanden uns in einer neuen Dimension wieder, in einer anderen Welt. In einer Welt, die sich Freiheit nannte.