Am Morgen sah ich aus wie ein Waschlappen und fühlte mich auch dementsprechend miserabel. Ich gähnte groß und machte mich bereit für die Schule. Ein bisschen Schminke ließ die dunklen Augenringe blasser wirken, aber nicht verschwinden. Eigentlich war es egal, wie viel Make-up ich auf mein Gesicht schmierte, die Müdigkeit war mir anzusehen. Ich richtete noch meine Haare, dann ging ich in die Küche frühstücken.
Nach dem Frühstück rannte ich wieder hoch, weil meine Schultasche liegen geblieben war. Wenn ich schon oben bin, verabschiede ich mich von Lucas – dachte ich mir. Er hatte freitags erst später Unterricht. Ich blickte in sein Zimmer und sah ihn im Bett liegen, er schlief noch. Ich schloss seine Zimmertür und machte mich auf den Weg zur Schule.
Ich besuchte die elfte Klasse eines Gymnasiums in der Innenstadt. Die Schule war groß, sie zählte etwa achthundert Schüler. Ich mochte sie – je mehr Schüler eine Klasse hatte, umso geringer war die Wahrscheinlichkeit, dass sich Lehrer die einzelnen Gesichter einprägten. Morgens kam ich frühzeitig an, der Weg zu Fuss war akzeptabel. Ich liebte es, in der Vorstadt zu wohnen. Es war ruhig, aber trotzdem in unmittelbarer Nähe zur Innenstadt. Nachts konnte ich unauffälliger das Haus verlassen, als ich das in der Innenstadt hätte tun können. Großteils war ich zufrieden mit dem, was mir das Schicksal bot.
Sobald ich im Klassenzimmer ankam und meinen Platz in der Bank besetzte, riss mich die Müdigkeitswelle mit sich. Ich warf die Schultasche an ihren Platz und ließ meinen Kopf samt Oberkörper fallen. Meine Augenlieder kamen mir vor wie zwei Betonklötze, die zur Sicherheit mit Sekundenkleber an die jeweiligen Gegenstücke geheftet wurden. Mitschüler kamen und gingen und beachteten mich nicht. Sie alle waren es gewohnt, mich morgens so aufzufinden.
Ich fühlte mich, als hätte ich die ganze Nacht durchgefeiert. Wäre ich doch lieber daheim geblieben, dann müsste ich mich nicht erschöpft durch den Tag kämpfen! Und die dunklen Augenringe hätte ich jetzt auch nicht. Musste ich nachts herumfliegen? Hatte ich es wirklich nötig? Meine Antwort, ich konnte es nicht leugnen, war Ja. Ich brauchte das Fliegen. Ich brauchte meine nächtlichen Touren. Ohne sie war meine Existenz verschwendetes Glück. In diesem Augenblick konnte ich zwar in Gedanken zum Bett navigieren und mich unter der Decke verkriechen, aber das Bedürfnis nach Schlaf wurde irrelevant, sobald ich nicht mehr müde war. Immer, wenn ein Flug geplant war, konnte ich es kaum erwarten, aus dem Fenster zu springen, sobald allen anderen im Haus die Schäfchen ausgegangen waren und sie einschliefen. Vielleicht flogen auch sie in der Traumwelt? Jedenfalls musste ich fliegen. Das Fliegen war meine Leidenschaft und jeder Betonklotz war es wert.
Es klingelte, die erste Stunde begann. Kraftlos rieb ich meine müden Augen, während ich versuchte, den Stundenplan in meinem Kopf zu suchen, der sich ab und zu versteckte, wenn ich zu wenig Schlaf bekommen hatte. Es war Freitag. Literatur war die erste Stunde. Motorisch fischte ich das Buch aus der Schultasche, dann fiel ich wieder auf die Bank. Stella, meine Freundin, zwickte mich, als der Lehrer ins Klassenzimmer trat. An Morgen wie diesen nervte sie, aber ich war ihr dankbar, dass sie mich ohne zu zögern aus dem Halbschlaf riss. Sie warf ihre langen blonden Haare nach hinten und richtete sich auf. Es fiel mir unfassbar schwer, dasselbe zu tun, mir blieb allerdings nichts anderes übrig. Ich wollte nicht zur Schuldirektorin wegen inakzeptablen Benehmens.
Die Stunde verbrachte ich an der Grenze zwischen Wachsein und Halbschlaf. So sehr ich mich auch anstrengte, es war unmöglich zu begreifen, was der Lehrer sprach. Zum Ende hin ging es mir besser, die Müdigkeit war, zumindest vorübergehend, weg.
Stella wollte mir etwas mitteilen, doch dass wir eine Schulbank teilten, half ihr nichts. Sie kam nicht dazu, sich auszusprechen. Als die Klingel ertönte, war ich schon draußen und drehte meine Runden im Schulgebäude, um das Schlummern-auf-der-Schulbank zu vermeiden.
»Du schaust gequält aus« sagte sie, als ich zurückging.
»So fühle ich mich auch« antwortete ich. »Du schaust auch nicht überglücklich aus.«
Sie ließ meine pikante Bemerkung außer Acht.
»Wo warst du die ganze Nacht?« Stella sah mich fragend an.
»Weg« mein Lächeln endete in einer Grimasse. Stella verdrehte die Augen. »Fliegen« fügte ich noch hinzu.
Insgesamt wussten zwei Personen von meinen Flügeln. Stella, meine beste Freundin und Lucas, mein Bruder. Stella meinte, mit Flügeln ist man cool. Ich wusste, dass sie mein Geheimnis nie im Leben weitersagen und damit mein Wohlbefinden riskieren würde. Ich konnte ihr vertrauen.
»Ich hab’s mir gedacht« sagte sie, ihr Mund verzog sich zu einem Lächeln. Sie richtete ihre zwei strahlend blauen Augen auf mich und wischte eine schwarz gefärbte Strähne kunstvoll hinters Ohr. Schwarze Strähnen in der blonden Mähne – Stella hatte einen bewundernswerten, einzigartigen Stil. Vor den schwarzen hatte sie rote Strähnen, die als hellrosa Flecken noch immer zu sehen waren. Ich war ein bisschen neidisch, mich hätte ein exotischer Look auch gefreut. Ich musste mich mit dunkelbraunen Augen und Haaren zufrieden geben.
»Wohin ging’s diesmal?« fragte sie neugierig.
»Richtung Balaton, an der Bakony-Gebirge vorbei. War nicht allzu ereignisvoll.«
»Das ist weit. Du bist schnell« stellte Stella fest.
»Ich habe ja auch eine ganze Nacht gebraucht« warf ich ein. »Mehrere Stunden. Zu Fuß kommst du auch in der Zeit hin.«
Stella verzog den Mund.
»Das glaub ich nicht. Nicht mal mit dem Rad würde ich hinkommen. Und zurück muss ich auch.«
»Ich fliege in Luftlinie, Liebling« zwinkerte ich. »Vergiss das nicht.«
Was eigentlich nicht ganz stimmte, weil ich manchmal im Zickzack-Muster flog und mich mich anhand der Lichter der Städte und Dörfer orientierte… Anfang Sommer wird’s lustig, wenn die Wildgänse ziehen. Die können wenigstens was mit den Sternen anfangen. Es wäre schön, wenn ich das auch könnte. Was mir bleibt, sind Siedlungen und ausgestorbene Autobahnen.
»In Luftlinie« wiederholte sie nachdenklich. »Wie schön für dich.«
»Die Tour hat mir viel Energie gekostet. Ich habe gerade darüber nachgedacht, dass ich den Wildgänsen lästig sein könnte… Was sagst du dazu?«
»Du fliegst so hoch?!« rief sie fast zu laut. Der Lehrer und einige Mitschüler blickten zu uns. Stella legte beide Hände auf ihre Lippen. Ich sah sie böse an.
»Schrei doch nicht so herum« zischte ich. »Stella, verdammt!«
»’Tschuldigung« flüsterte sie und ließ den Blick über die Klasse gleiten.
Ich wusste nicht, dass Stella nichts Konkretes über meine Flüge wusste. Es war Zeit, sie auf eine kürzere Tour mitzunehmen.
Wir schwiegen. Dem Lehrer schossen in den nächsten Minuten grantige Blitze aus den Augen, in unsere Richtung natürlich, ehe er in seinen Gedanken versank und den Vortrag hielt. Das Thema war das einwöchige Klassenlager Ende Juni, das einen Tag nach dem Jahresabschlussball beginnt. Wir hatten noch fast drei Monate bis dahin. In diesen drei Monaten würde ich meinen Koffer sicherlich zehn- bis fünfzehnmal ein- und auspacken, weil ich nicht entscheiden kann, was ich mitnehmen soll.
»Hoch, ja« sagte ich. »Es wird lustig, sie in der Luft zu jagen.«
»Die werden dich attackieren« meinte Stella.
»Falls sie nicht lieber einen Sturzflug machen als von mir genervt zu werden.« Ich kicherte. Die Vorstellung war amüsant.
»Blanka, wenn du ständig unterwegs bist und nie deinen Schlaf kriegst, dann ist das nicht OK« sagte sie, „OK“ zusätzlich betont. Das war ein Ausdruck, der zur Standardausrüstung unserer Klassenlehrerin gehörte. Ihr Wortschatz war so gering, dass sie nie ein anderes Wort fand um ihre Enttäuschung über versäumte Hausaufgaben preiszugeben.
»Es gibt sowas wie Nachmittage. Die sind nicht zum lernen da.«
»Sondern?«
»Schlafen. Lernen hat am Abend, nach dem Training, Zeit. Und Chatten interessiert mich nicht. Igitt. Alles ist virtuell.«
Stella schüttelte den Kopf und machte eine fegende Handbewegung.
»Mir bleibt mehr Zeit für den Rest« sagte ich schließlich.
Die Stunde verging und ich wurde wieder müde, aber Stella ließ mich nicht schlafen.
»Wenn du so unkonzentriert bist, passiert’s wieder« sie klang geärgert.
Ich musste nicht lange nachdenken um zu checken, worauf sie hinauswill.
»Du weißt ganz genau, dass das ein blöder Zufall war und nie wieder vorkommt.« Zugegeben, sie hatte recht. Ich war oft müde und unkonzentriert, es könnte wieder passieren.
»Du kannst dir nicht sicher sein. Solche Gefahren kann man nicht ausschließen.«
»Ich weiß« flüsterte ich mit gesenktem Blick. »Ich werde in Zukunft besser aufpassen« versprach ich in der Hoffnung, das Thema abschließen zu können.