Ein eingehender Anruf weckte mich. Müde tastete ich die Kommode nach meinem Handy ab, das meinen Lieblingssong spielte. Mit einer ungewollten Bewegung stieß ich die Wasserflasche von der Kommode.
»Shit« brummte ich. Ich ärgerte mich im Voraus über diverse Anbieter, die versuchen würden mich zu überreden, mit ihnen einen Vertrag abzuschließen. Jedoch blinkte auf dem Bildschirm der Name Tom. Tom, mein Exfreund. Kennengelernt hatten wir uns im Kindergarten, in der Grundschule trennten sich dann unsere Wege und nachdem wir uns nach langer Zeit wieder begegnet sind, entwickelte sich eine Beziehung. Diese Beziehung dauerte nicht länger als drei Monate, weil mir schnell klar wurde, dass ich ihn nicht näher an mich ranlassen kann. Mein Vertrauen reichte nicht aus, um ihm mein Geheimnis anzuvertrauen. Ich fürchtete mich vor jeder seiner Berührungen und hatte Angst, dass er meine Flügel entdeckt. Diese Angst dominierte unsere Beziehung, bis ich es nicht mehr aushielt und sie beendete.
Ich drückte neugierig die grüne Taste.
»Hallo?«
»Blanka?« hörte ich am anderen Ende der Leitung.
»Hi Tom, ich bins« wer sonst? – fügte ich gedanklich hinzu. »Wie geht’s? Wir haben lang nicht mehr geredet.«
»Ich versuche schon seit Tagen dich zu erreichen« sagte er.
Hups. Er hat gemerkt, dass ich ihn nicht zurückgerufen habe.
»Das tut mir leid. Du weißt doch, wie beschäftigt ich bin.« Ich versuchte, eine Entschuldigung für mein Desinteresse zu finden.
»Ich will dich nicht stören…«
»Du rufst mich gerade zum richtigen Zeitpunkt an« fiel ich ihm ins Wort. »Ich wollte eh aufstehen.« Zimmer aufräumen, trainieren, einkaufen gehen – ich hatte heute noch viel vor. Das alles, bevor meine Mutter nach Hause kommt.
Ich blickte auf die Uhr – es war halb sieben. Wenn ich noch was zu essen bekommen will, muss ich mich beeilen. Ein weiterer Grund um aufzulegen.
»Blanka? Bist du noch da?« fragte Tom ungeduldig.
Ich hielt eine Hand vor den Mund um nicht laut zu kichern.
»Sicherlich« antwortete ich. »Aber nicht mehr lange, gleich hab ich keinen Empfang.«
»Wieso? Wo bist du?« er klang erstaunt.
»Unter meinem Bett zwischen den Staubkätzchen. Ich suche meine Wasserflasche, die mir davongerollt ist.«
»Oh…«
Stille.
»Tom« sagte ich. »Sag endlich wieso du mich angerufen hast.«
Er zögerte kurz.
»Können wir uns treffen?« fragte er dann.
Ich wollte mich nicht mit ihm treffen. Es war zu riskant.
»Tom, hör zu… Ich muss jetzt gehen, ok? Danke, dass du angerufen hast.«
»Wart kurz…« hörte ich.
»Ich ruf dich an« sagte ich, obwohl ich wusste, dass ich es nicht tun werde.
»Okay.«
»ByeBye.«
»Bis bald.«
Ich legte auf. Ich musste los, bevor die Geschäfte zumachten. Als ich mein knallrotes Handy zurück in seine Schutzhülle schieben wollte, wurde ich auf den blinkenden Bildschirm aufmerksam. Der Speicherplatz für SMS war wieder voll. Drei neue Nachrichten warteten darauf, gelesen zu werden. Eine verspätete Gute-Nacht-SMS von meiner Freundin Stella, die wusste, dass ich am Nachmittag schlafen würde, und zwei Nachrichten von Raimund. Super. Wochenlang meldet sich keiner, dann fällt allen auf einmal ein, dass ich auch auf diesem wundervollen Planeten lebe.
Raimund schrieb romantische Nachrichten und war ein netter Junge, aber leider nicht mein Typ. Ich hatte ihn vor einem halben Jahr in einer Schuldisko kennengelernt, wir wurden sofort Freunde. Zumindest von meiner Seite aus. Er macht sich seitdem Hoffnungen, dass zwischen uns mehr als Freundschaft sein könnte. Wie sollte ich ihm meine Sichtweise verständlich machen, ohne ihn zu verletzen? Wenn er es nur verstehen würde… Der andere Grund, der gegen eine Beziehung sprach, war gewichtiger. Es war gefährlich zu verraten, dass ich fliegen konnte. Ein Nachteil von vielen, den ich samt meiner Flügel akzeptieren musste. Was bedeutete, dass ich mein ganzes Leben lang alleine sein werde. Doch was ich stattdessen bekam, war unbezahlbar.
Ich schrieb Raimund ein paar Sätze über das Wetter, fügte noch hinzu, dass es mir gut geht und ließ die SMS zu ihm fliegen. Dann ging ich zum Spiegel und richtete meine Haare. Am einfachsten war, sie zu einem Pferdeschwanz zusammenzubinden. Ich zog wieder die Jeans an, nahm das Geld vom Küchentisch und machte mich auf den Weg.
Im Laden schlenderte ich ziellos zwischen den Regalen. Diverse Werbungen und Vergünstigungen irritierten meine Netzhaut, einige Regale standen leer. Es war Freitag Abend, ich musste bis Montag auf frisch gebackene Süßwaren verzichten. Während meiner Suche nach Lebensmitteln war ich mit den großen Dingen des Lebens beschäftigt und ganz in Gedanken versunken. Wieso konnte ich fliegen? Was hatte bewirkt, dass mir über Nacht Flügel gewachsen waren? Würde ich mich ganz in einen Vogel verwandeln? War ich nur in einem Traum und würde bald aufwachen und mein Leben als ganz eine normale 14-Jährige weiterführen? Oder bin ich tatsächlich ein genetischer Defekt? Es musste eine Erklärung für alles geben. Ich war sicher nicht die Einzige, die fliegen konnte.
Meine Gedanken lenkten mich so sehr ab, dass ich die Kollision mit einem unbekannten Objekt zu spät bemerkte und vor Schreck fast einen Herzinfarkt bekam.
»Tut mir Leid!« schrie ich reflexartig. Ich wusste nicht, ob es ein Einkaufswagen, ein anderer Mensch oder doch eine gestapelte Pyramide von Konservendosen war. Vor meinen geistigen Augen sah ich, wie die Dosen in Zeitlupe in alle Richtungen fliegen und ich sie wieder aufstapeln kann…
Ich sah auf und all meine Sorgen lösten sich auf. Es war nur ein anderer Kunde, genauer gesagt, nur sein Einkaufswagen. Ich hatte Glück, dass keine Dosen umgefallen sind. Den Jungen sah ich nicht, weil seine dunkelgrünen Augen meinen Blick fesselten.
»Nichts passiert« lächelte er. »War mein Fehler.«
»Nein, ich war unaufmerksam« sagte ich, noch immer verloren in den Farben seiner Augen. Sie waren tiefgrün. Innen. Und nach außen wurden sie heller. Dazwischen alle Farbtöne von grün. Ich kannte niemanden mit ähnlicher Augenfarbe. Kann es sein, dass er Kontaktlinsen trug?
»Kein Problem« sagte er noch immer lächelnd, fast grinsend.
Ich schüttelte meinen Kopf, dann gab ich nach. Egal – dachte ich und lächelte zurück. Mir fiel sofort auf, dass er blonde Haare hatte. Ein perfekter Kontrast zu seiner Augenfarbe. Was für ein Anblick! Sowas sieht man selten im Leben. Mein Bruder war auch blond und hatte grüne Augen, aber der Junge, der vor mir stand, war hellblond und seine Augen waren grüner als grün.
»Wenn du die Schuld unbedingt auf dich schieben willst« fing er an und schaute mir in die Augen, »dann könntest du mir als kleine Entschuldigung behilflich sein.«
Ich blickte verlegen weg. Er lachte.
»Ich würde dich gerne um einen Rat bitten« setzte er fort.
»Um einen… Rat?« fragte ich nach kurzem Überlegen. Was will er?
Meine Reaktionszeit verlängerte sich. Vielleicht wegen meines unterbrochenen Gedankenflusses, vielleicht wegen etwas anderem, etwas Grünem…. Zum Glück redete der Junge weiter.
»Glaubst du, dass der fettarme Joghurt weniger Kalorien enthält als der Diätjoghurt?« fragte er.
Meine Beine verschmolzen mit dem Fliesenboden. Ich musste meine Lippen mit Gewalt wieder aneinander pressen und schaute blöd wie die Milka-Kuh in der Drehpause. Was hat er mich da gerade gefragt?
»Hab ich was falsches gesagt?« seine dunkelgrünen Augen musterten mich besorgt.
Woher soll ich wissen, welcher Joghurt was enthält? Ich mag keinen Joghurt.
»Nein… « bekam ich endlich raus. »Aber es ist so… Ich mag keinen Joghurt. Weder fettarm noch fettig.«
»Oh je. Deshalb hast du mich so angeschaut« stellte er laut lachend fest. »Ich habe schon gedacht, ich hätte was falsches gesagt.«
»Ne. Aber schau« ich nahm angewidert jeweils ein Stück von dein beiden Sorten aus dem Kühlregal und las die Werte. »Es macht kaum einen Unterschied. Aber am besten ist, wenn du keinen Joghurt isst.«
»Hast recht« sagte er leise und war für einen kurzen Augenblick abwesend. Dann blickte er mich wieder mit seinem perfekten Lächeln an. »Danke für den Ratschlag. Ich nehme den« er nahm einen ganz normalen Joghurt aus dem Kühlregal und legte ihn in den Einkaufswagen.
Der hatte zweimal so viel Fett wie die beiden anderen insgesamt! Schon der Gedanke an Joghurt machte mich Seekrank.
»Ja. Nimm den« stimmte ich gleichgültig zu.
»Wohnst du eigentlich in der Stadt? Ich frag nur, weil du mir bekannt vorkommst. Bist du oft hier?«
In meinem Hals bildete sich ein Kloß. Hoffentlich kannte er mich nicht von dem einen Morgen und auch nicht von einem anderen Morgen, an dem ich mit zwei großen Flügeln am Rande eines Blockhauses balancierte… Ich schluckte den Kloß runter. Es war unmöglich und deshalb nicht nötig, mir deswegen Sorgen zu machen.
»Ich komme oft einkaufen. Vielleicht hast du mich schon mal gesehen, ich wohne in der Nähe. Nicht in der Stadt, aber auch nicht auf dem Land. Am Stadtrand oder so« ich kam mir dumm vor, wie ich versuchte, ihn aufzuklären.
»Ich weiß was du meinst« er schenkte mir ein weiteres Lächeln. »Wenn du mir nicht böse bist« er schaute zur Kasse, »dann werde ich jetzt gehen. Ich habe heute noch viel vor und bald schließen die Geschäfte. Es war mir eine Freude, dich kennengelernt zu haben.«
»Ebenfalls« erwiderte ich.
»Schönen Tag noch« sagte er, ehe er mit seinem Einkaufswagen, in dem sich ein ganz normaler Joghurt befand, zur Kasse eilte. Ich erlaubte mir einen letzten Blick in seine grünen Augen. An die Farbe möchte ich mich erinnern, wer weiß, wann ich sie das nächste mal sehen werde.
»Tschüss« flüsterte ich etwas verspätet.
Wahnsinn! Das war Krass… Meine Mundwinkel zogen sich in die Höhe. Ich wurde soeben von einem attraktiven, blonden Jungen angesprochen, der Besitzer zweier wunderschönen, dunkelgrünen Augen war. Ich starrte noch minutenlang die Kasse an, wo er gezahlt hat. Als hätte ich was vergessen… Verdammt! Ich habe nicht mal gefragt, wie er heißt oder wo er wohnt! Wie kann ich nur so bescheuert sein?! Die Erkenntnis fing an, mich von innen aufzufressen. Ich ärgerte mich über mich selbst, fluchte Wörter, die im Fernsehen zensiert werden müssten und bemerkte, wie vergeblich ich versuchte, den Griff des Einkaufswagens zu zerdrücken. Ich ließ ihn sofort los und schüttelte die Hände, meine Finger taten weh. Ich atmete tief ein und aus und konnte mich damit langsam wieder beruhigen.
Wenn ich mich nicht irrte, war ich bei den Kühlregalen. Genau dahin wollte ich, bevor ich abgelenkt wurde. Ich nahm Milch und Topfenriegel, stellte sie in den Einkaufswagen und ging weiter. Ich besuchte die üblichen Regale, zahlte und ging heim.
Nachdem ich den Kühlschrank aufgefüllt hatte, eilte ich in mein Zimmer, um mich umzuziehen und meine Trainingseinheit hinter mich zu bringen. Das Training war unentbehrlich, ich musste mich fit halten, damit ich lange Strecken fliegen konnte. Es war nicht so, dass man für das Fliegen nicht kämpfen und hart trainieren musste. Ohne gute Ausdauer würde ich nicht weit fliegen können.
Nicht, dass ich das Laufen nicht mochte, ganz im Gegenteil. Ich hatte nur die Nase voll, der Tag war zu stressig. Diese schönen grünen Augen… Seit ich den Laden verlassen hatte, konnte ich an nichts anderes denken. Schade, dass er unbedingt über Joghurtsorten reden musste. Ich hasse Joghurt.
Ich suchte im Kleiderschrank meine Laufhose und das passende Shirt dazu. Grüne Augen hier und dort – ich musste meinen inneren Hippopotamus überwinden und laufen gehen. Zum Glück war meine Entschlossenheit stärker als die Faulheit. Außerdem verstreut das Laufen Glückshormone im Körper, die mir noch mehr Lust aufs Training machen würden. Es half, an den heutigen Ausflug zu denken und schon wollte ich laufen.
Auf der Treppe begegnete ich wieder meinem Bruder. Er sah mich mitfühlend an, ich ignorierte seine unausgesprochene Meinung. Sobald ich das Haus verließ, lief ich los.
Ich war fast eine Stunde in der frischen Abendluft unterwegs und wurde den ganztägigen Stress los. Ich war so glücklich, wie noch nie zuvor in meinem Leben, fühlte mich fit und angenehm erschöpft. Und hungrig, weil ich das Mittagessen durch das Nickerchen am Nachmittag ersetzt hatte. Daheim aß ich in Ruhe ein Käse-Schinken Sandwich und nahm eine kalte Dusche. Meine Flügel hielt ich wie gewohnt hoch. Kurze Zeit später war ich schon im Bett.
Heute Nacht hatte ich nicht vor zu fliegen, der Tag war lang und anstrengend. Ich versuchte, meine Gedanken zu lüften, aber der heutige Einkauf ging mir nicht aus dem Kopf. Ich musste diese grünen Augen unbedingt wieder sehen. Ich werde sie suchen und solange nicht aufgeben, bis ich sie wieder gefunden habe.