»Geht es ihnen wieder gut?« fragte er auf meine Flügel deutend.
»Ich kann sie wieder schmerzfrei bewegen« lächelte ich und war stolz auf diesen Fortschritt.
»Es tut mir leid, dass ich dir Schmerzen zugefügt habe.«
Ich schüttelte widersprüchlich den Kopf und schmieg mich noch enger zu ihm. Wir waren uns gefährlich nah, sein Atem auf meinen Lippen verstärkte das Verlangen nach ihm. Ich schloss die Augen und legte die Hände auf seinen Brustkorb.
Alex küsste mich. Er spielte sanft mit meinen Lippen und streichelte meinen Hals, doch sein Kuss wurde immer leidenschaftlicher. Ich spürte seine Hand am Rücken und an meiner Taille und konnte mich von den überwältigenden Gefühlen, die er in mir auslöste, kaum bewegen. Erst ließ ich mich auf dieses Spiel ein und küsste ihn zurück. Als er mich jedoch sanft auf den Rücken stieß und sich über mich beugte, stoppte ich ihn und umarmte seine Schulter. Mein Körper protestierte und schrie nach ihm, aber ich war stärker und hielt stand. Ich zog Alex zu mir und hielt in fest, bis wir uns beruhigt hatten. Wir waren beide durcheinander und aufgewühlt von den letzten Tagen und befanden uns in einem Zustand, den ich nicht ausnutzen wollte. Ich durfte die Kontrolle über meine Gefühle nicht verlieren.
Alex‘ Atemzüge wurden langsamer. Er lehnte sich auf die Ellbogen und musterte mich.
»Wenigstens ist einer von uns stark genug« stellte er flüsternd fest.
»Ich bin noch nicht so weit« sagte ich ihm und es war die Wahrheit. Ich musste erst zu mir selbst zurückfinden, bevor ich mich auf Alex‘ Nähe einlassen konnte. Wir haben uns im Labyrinth des Vertrauens gerade erst wiedergefunden, vor wenigen Tagen hatte ich noch Angst vor ihm und wollte davonlaufen. Jetzt den nächsten Schritt zu gehen, wäre falsch. Ich brauchte Zeit, um mich von den letzten Wochen erholen zu können.
Er legte sich wieder auf den Rücken und streckte die Arme nach mir aus. Ich kroch zu ihm und schlief in seiner beschützenden Umarmung ein.
»Wach auf, Kleines« weckte mich Alex am Morgen. Ich öffnete die Augen und sah, dass er schon bereit war, weiterzufahren.
»Wann fahren wir?« fragte ich müde und stieg aus dem Bett.
»Sobald du fertig bist« antwortete er mir.
»Ich beeile mich« sagte ich und griff nach meinem Oberteil.
»Warte« Alex nahm den Verband aus der Tasche und trat zu mir. »Den müsstest du aufsetzen.«
»Wenn es unbedingt sein muss« seufzte ich.
»Zu deiner Sicherheit« sagte er und streichelte über meine Flügel. Ich hob die Arme hoch, damit er den Verband um meine Taille wickeln konnte.
Ich zog mich an, warf alle meine Sachen in die kleine Sporttasche und setzte die Sonnenbrille auf.
»Ich bin fertig« sagte ich Alex.
Er nahm meine Hand und wir verließen das Gasthaus. Kurz später saßen wir im Wagen und machten uns auf den Weg nach Hause. Obwohl mich nur noch Stunden von meiner Heimat trennten, verspürte ich eine tiefe Traurigkeit. Ich durfte zwar heim, aber für wie lange? Minuten? Stunden? Ich durfte mich zu Hause nur kurz aufhalten, danach mussten wir weiterfahren. Wohin, war mir nicht bekannt. Wir waren noch immer auf der Flucht, und diese Flucht würde nie enden.
Wir fuhren über Wien auf die Grenze zu. Als ich die bekannte Landschaft sah, musste ich lächeln. Alex blickte mich fragend an.
»Hier war ich auch schon« teilte ich ihm mit und lehnte mich zurück. »Eine wunderschöne Strecke.«
»Du bist sehr mutig« schüttelte er den Kopf.
Mit jeder Minute stieg die Spannung in mir. Nachdem wir die Grenze erreicht hatten, fingen meine Hände an, zu zittern.
»Was ist der Plan?« fragte ich leise.
»Ich fahre dich nach Hause. Du darfst bleiben, solange du brauchst, aber es ist besser, wenn du deinen Eltern nicht begegnest. Pack die Sachen zusammen, die du unbedingt brauchst und komm dann zum Wagen zurück.«
Schon vom Gedanken, daheim zu sein, wurde es mir übel. Ich war gleichzeitig aufgeregt und besorgt. Würde jemand daheim sein oder wartete ein leeres Haus auf mich? Was sage ich meinen Eltern, wenn ich ihnen begegne? Auch für sie waren die vergangenen Wochen eine Qual, ich wüsste nicht, wie ich ihnen mein plötzliches Auftauchen erklären könnte. Sie wussten nichts von meinen Flügeln. Oder hatte sie Lucas bereits aufgeklärt?
Wir kamen in Győr an und ich spürte das Pochen meines Herzens im Hals. Alex stellte den Wagen am Ende der Straße ab und wartete geduldig, bis sich meine Nervosität legte.
Ich blickte auf die Straße, in der ich wohnte. Es war ein komisches Gefühl, wieder daheim zu sein.
»Ist dein Bruder im Haus?« wollte er wissen.
»Ich weiß es nicht. Falls nicht, werde ich ihm eine Nachricht hinterlassen, dass ich am Leben bin.«
»Blanka« Alex drehte sich zu mir. »Pass bitte auf dich auf, ok?«
»Ich werde vorsichtig sein« sagte ich. »Noch vorsichtiger, als je zuvor.«
»Wir werden Camilla aus dem Institut holen« hörte ich ihn sagen. »Wir sind die einzigen, die ihr helfen können. Ich werde mir einen Plan ausdenken« versprach er. Ich war von seinen Worten derart überwältigt, dass ich nur nach vorne schauen und nicken konnte. Alex griff in die Hosentasche und nahm einen Schlüssel hervor. Meinen Schlüssel.
»Woher hast du den?« fragte ich ihn erstaunt.
»Nach der Party habe ich ihn behalten, weil ich gewusst habe, dass du ihn noch brauchen wirst.« Er streckte mir das silberne Teilchen entgegen.
»Danke« sagte ich, nahm meinen Schlüssel und betrachtete ihn. Es hat sich vieles verändert, während ich weg war. Wie könnte ich einfach in mein Zimmer spazieren, als wäre nichts passiert?
»Alles in Ordnung?« fragte Alex.
»Nein« gestand ich und holte tief Luft. »Ich bin nervös. Was, wenn alle daheim sind? Oder wenn das Haus leer steht?«
»Es wird alles in Ordnung sein, Blanka. Ich kann dich begleiten, wenn du möchtest.«
»Nein« sagte ich hart. Alex würde mich nur noch mehr durcheinanderbringen. Ich musste alleine gehen und dem gegenübersehen, was nach meinem Verschwinden übriggeblieben war.
»Du bist stark. Ich bin für dich da, wann immer du mich brauchst.«
»Danke, Alex« flüsterte ich.
Ich musste los, bevor ich es mir anders überlegte. Ohne Zögern öffnete ich die Autotür und stieg mit einer entschlossenen Bewegung aus dem Wagen. Ich blickte nicht mehr nach hinten, als ich zum Haus lief.
Nicht wissend, was auf mich zukam, schob ich den Schlüssel ins Schlüsselloch und öffnete die Tür. Mit zittrigen Händen schloss ich sie wieder, als ich drinnen war.
Das Haus war leer und die Stille machte mich noch nervöser. Ich sah mich im Erdgeschoss nicht um, sondern lief leise die Treppen hoch und blieb vor meinem Zimmer stehen.
Gerührt stellte ich fest, dass alles noch an seinem Platz war. Ich trat hinein und entdeckte ein Foto auf dem Bett, auf dem ich mit Lucas und meinen Eltern zu sehen war. Wir lächelten alle glücklich in die Kamera… Das Foto war letzten Sommer im Urlaub entstanden. Ich hob es vom Bett und brach fast in Weinen aus, als ich die Spuren von getrockneten Tränen spürte.
Behutsam legte ich es wieder auf die Bettdecke und ging zum Kleiderschrank. Alles sah gleich aus, niemand hatte meine Sachen angerührt. Ich zerrte die größte Tasche aus dem Regal und fing an, sie mit meinen Kleidern zu befüllen. Danach trat ich wieder zum Bett, steckte auch das Foto ein und überlegte, was ich noch gebrauchen könnte. Ich hatte nicht viele persönliche Gegenstände, doch das Wichtigste hätte ich fast vergessen. Ich öffnete die Schublade, in der sich mein Tagebuch und die Mappe mit den geflogenen Routen hätte befinden sollen, doch sie war leer. Die Mappe und meine Notizen waren die einzigen Beweise für die Existenz meiner Flügel… Jemand musste sie absichtlich mitgenommen haben. Auch die kleine Box, in der ich die schönsten meiner ausgefallenen Flaumfeder aufbewahrte, war weg.
Nur zwei Personen konnten wissen, wo sich die Mappe befand. Ich drückte die Stirn gegen meine Hände, ich hatte Kopfschmerzen. In der anderen Schublade befanden sich einige Schulhefte mit Tagebucheinträgen und Erinnerungen. Auch diese legte ich in die große Tasche. Zuletzt nahm ich das gemeinsame Bild mit Camilla vom Tisch.
Ich wusste, dass das Verschwinden meiner Sachen schnell auffallen würde und hatte deshalb keine Zeit zu verlieren. Zwar würde niemand davon ausgehen, dass ich im Zimmer war und alles mitgenommen hatte, doch meine Nachricht, die ich Lucas hinterlassen wollte, könnte mich verraten.
Ich schlichtete in der Tasche alles so um, dass ich sie zuziehen konnte und formulierte gedanklich schon die Sätze, die ich meinem Bruder schreiben würde. Ich war mir sicher, dass das Institut bald anfangen würde, dieses Haus zu beobachten und durfte deshalb keine Informationen hinterlassen, die etwas über meinen Aufenthalt in Boston oder über Alex verrieten. Die Nachricht durfte dem Institut nicht helfen, uns zu finden.
Ich rannte in Lucas‘ Zimmer und suchte nach einem Stück Papier, auf das ich ein paar Zeilen schreiben konnte. Mitten im zweiten Satz hörte ich unten die Tür aufgehen und erstarrte vor Schreck.
Jemand kam die Treppe hoch. Ich riss den Kopf Richtung Tür, mein Herz hämmerte laut gegen meinen Brustkorb. Die Person ging erst in mein Zimmer, wo die vollgepackte Tasche lag. Dann hörte ich die Schritte auf mich zukommen.
Lucas erschien und blieb erschrocken in der Tür stehen, als er mich erblickte. Er musterte mich, als würde er es nicht glauben, dass ich tatsächlich hier war. Ich konnte mich vor lauter Nervosität nicht rühren und sah meinen Bruder nur mit großen Augen an.
»Blanka!« rief er dann und eilte zu mir.
Als er mich fest in die Arme schloss, wusste ich, dass der Abschied schwieriger sein würde, als ich es bislang angenommen hatte.