So schnell ich eingeschlafen war, kam auch das Wochenende auf mich zu. Samstag Morgen lief ich meine Runden im Park, danach konnte ich nichts mit mir anfangen. Ich hatte ein mulmiges Gefühl, als würde ich ständig unter Druck stehen. Am Vormittag meditierte ich noch ganze zwei Stunden. Ich saß auf einem Fleck auf dem Bett und versuchte in das unsystematische Durcheinander meiner Gedanken ein wenig Ordnung zu bringen. Das Sitzen wurde langsam zum Liegen und mit der Systematisierung kam ich auch nicht weit. Es war mir lieber, alles auf mich zukommen zu lassen, während ich die Decke anstarrte. Nach einer Weile wurde auch dies langweilig und ich setzte mich an die Hausaufgaben. Am Montag war ein Literaturaufsatz abzugeben. Ich schrieb ihn.
Am Nachmittag rief ich, wie versprochen, Stella an. Ich hatte noch zwei freie Stunden, die wir auf einem Satz verbrauchten. Ich hielt ihr einen ausführlichen Vortrag über meine gestrige Einkaufstour während sie mir schweigend zuhörte. Stella meinte, ich hätte die beste Gelegenheit meines Lebens damit ruiniert, ihn ohne jegliche Informationen über seine Person verschwinden zu lassen. Es klang ironisch, doch ich spürte, wie sie das Wesentliche traf. Sie hatte recht, ich hätte mindestens nach seinem Namen oder seinem Wohnort fragen sollen.
Nachdem wir unseren Gesprächsstoff losgeworden waren, nahm ich Abschied von ihr, doch sie bestand auf eine detailliertere Beschreibung des Vorfalls. Vergeblich versuchte ich ihr klarzumachen, dass ich ihr schon alles erzählt hatte. Letztendlich musste ich Stella versprechen, ihr das Ganze am Montag noch ausführlicher zu schildern.
Im Laufe des Tages verspürte ich auf einmal den Drang, einkaufen gehen zu müssen. Schnell zog ich die Jeans an, durchbürstete meine Haare und ging runter in die Küche.
»Wohin so eilig?« fragte mein Vater.
Ich bin ihm seit seiner Ankunft gestern Abend nicht begegnet. Seine braunen Augen kamen mir durch die dünne Brille noch größer vor, er starrte mich stirnrunzelnd an. Meine Augenfarbe hatte ich definitiv von ihm geerbt.
»Hi Dad! Schön dich zu sehen. Ich geh nur kurz einkaufen. Brauchst du was vom Geschäft?« ich schaute ihn unschuldig an, nachdem ich ihn umarmte und mich schnell wieder zurückzog. Kurz später erschien auch meine Mutter in der Küche.
»Wohin willst du, Blanka?« wollte sie ebenfalls wissen.
Ich hatte eigentlich keinen nachvollziehbaren Grund dafür, weshalb ich so dringend weg wollte. Ich musste mir schnell etwas einfallen lassen.
»Ich gehe in den Laden um eh... um Mais zu holen. Ja, heute möchte ich Maissalat essen.« Das klang ziemlich unglaubwürdig.
»Du warst doch gestern im Laden« stellte meine Mutter fest.
»Schon, aber wir haben keinen Mais« verteidigte ich mich.
»Wir haben Mais im Küchenschrank« warf mein Vater ein.
»Der Käse ist nicht mehr frisch« protestierte ich. Ich musste unbedingt hin.
»Und wer wird den Rest aufessen?« fragte meine Mutter.
»Der will unbedingt auf eine Pizza gerieben werden« antwortete ich rasch. »Könnten wir morgen Pizza backen? Lucas wartet schon seit Wochen auf eine saftige Pizza.«
Dagegen konnte meine Mutter nicht mehr argumentieren und gab nach.
»Gut« seufzte sie. »Hast du noch Geld?«
»Es ist von gestern noch was übrig, das müsste reichen. Ich bin gleich wieder da« sagte ich und verließ winkend das Haus.
Im Laden verbrachte ich eine halbe Stunde damit, den Einkaufswagen in der Kühlabteilung hin und her zu schieben. Mit der Zeit fühlte ich mich immer unangenehmer und wurde nervös. Den Einkaufswagen brauchte ich eigentlich nur, um mich an irgendetwas festhalten zu können. Meine Hände zitterten.
Ich wusste, dass meine Hoffnungen schwachsinnig waren... Alles nur ein großer Schwachsinn. Ich bildete mir ein, ich würde ihn hier wieder treffen...
Ich wartete auf den Jungen mit den traumhaft grünen Augen. Aber er kam nicht. Letztendlich gab ich die Hoffnung und das Warten auf, nahm Mais und Käse und verschwand so schnell wie möglich aus dem Laden.
Ich war enttäuscht über den Misserfolg und meine Laune war im Keller.
Zuhause teilte mir mein Vater seine geplante Abwesenheit nächste Woche mit. Am Dienstag und Mittwoch hatte ich sturmfrei, doch nicht mal das konnte meine Laune verbessern. Es waren zwar die besten Voraussetzungen für einen Flug, aber ich befürchtete, dass ich dazu keine Lust haben würde.
Am Sonntag ging ich Radfahren, um die negative Energie loszuwerden. Es waren zwei Fliegen auf einem Klatsch, denn damit hatte ich auch das Training erledigt. Ich ging wieder einkaufen, kam aber mit leeren Händen nach Hause. Im Laden befand ich mich nur einige Minuten, diesmal wartete ich auf niemanden. Nur ein Schimmer der Hoffnung funkelte, vielleicht, aber nur vielleicht würde er auch dort sein... Ich wollte seine Augen sehen. Ich musste sie sehen und dieses Bedürfnis war so stark, dass ich einen Entschluss fasste. Ich nahm mir vor, die schlechte Laune nicht noch einmal Macht über mich nehmen zu lassen. So war meine Laune am Abend schon viel besser und ich zeichnete den Weg meiner Flugtour am Dienstag auf der Karte ein. Ich markierte die Ruheplätze mit einer anderen Farbe und berechnete, wie viele Schokoriegel ich gebrauchen werde.
»Warum bist du so deprimiert?« fragte Stella am Montagmorgen in der Schule. »Ist es das, was ich denke?«
»Was? Ja... Ich war zweimal im Laden und er war nicht dort« teilte ich ihr gelangweilt mit, während ich in meiner Schultasche nach dem Matheheft suchte. Ich wollte nicht davon reden und versuchte es mit einem Themenwechsel. »Zudem ist es Montag. Und jeder Montag bedeutet eine neue Woche, neue fünf Tage, die wir hier aushalten müssen. Dann kommt das Wochenende, was bei mir furchtbar war, und dann, wie aus dem nichts, ist es schon wieder Montag. Macht dich dieser Kreislauf nicht müde?« stellte ich ihr die Frage.
Stella schaute mich an, als hätte sie einen Alien gesichtet. Dann lockerten sich ihre Gesichtszüge.
»Doch. Aber im Gegensatz zu dir flieg ich nicht die ganze Nacht herum und verbringe auch nicht das ganze Wochenende im Laden.«
»Sehr witzig« murmelte ich.
»Du musst es aushalten. Wir gehen bald ins Klassenlager. Ich weiß noch gar nicht, was ich mitnehmen soll! Sag, hast du schon deinen Koffer eingepackt?« fragte Stella aufgeregt. Offenbar versuchte sie, mich aufzuheitern. Ich gab ihr eine Chance, schließlich konnte sie nichts für meine schlechte Laune.
»Sehe ich so aus?« ich schaute Stella so blöd an, wie ich nur konnte.
»Nein« stellte sie lachend fest. Ich fühlte mich gleich viel besser.
»Wozu die Eile? Wir haben noch über zwei Monate« sagte ich. »Das ist noch genügend Zeit. Ich werde wahrscheinlich erst kurz vor der Abreise packen, wie immer.«
»Blanka?« Stella starrte mich plötzlich an, als wäre ihr was eingefallen. Ich kannte diesen Blick.
»Ja?» fragte ich. Natürlich war mir klar, was sie wissen wollte.
»Du hast mir noch nicht alles erzählt! Du hast es versprochen. Von Ihm« sie grinste hoffnungsvoll.
Warum ging ich solche Versprechen ein? Ich seufzte.
»Was willst du wissen?« fragte ich, um Zeit zu gewinnen.
Zum Glück ertönte die Schulglocke bevor Stella mir Löcher in den Bauch fragen konnte.
»In der Pause« flüsterte ich, weil der Lehrer schon im Klassenzimmer war. Stella schüttelte widerwillig den Kopf. Sie riss ein Blatt aus einem Heft und faltete es in der Hälfte. Toll – dachte ich. Jetzt werden wir heimlich Briefe schreiben und der Lehrer wird davon überhaupt nichts mitkriegen. Ich hätte schon am Sonntag überlegen sollen, was ich ihr sonst noch berichten soll.
Erzähl noch was über ihn! – schrieb sie.
Was denn? Ich weiß nichts von ihm – antwortete ich. Ich hatte es ihr schon fast zurückgegeben, aber ich ergänzte meine Nachricht mit einer weiteren Zeile:
Er hat verblüffend grüne Augen, die müsstest du sehen! In jedem Farbton... – ich schob das Stück Papier unter der Schulbank zu ihr. Dann löste ich eine Gleichung, bevor sie es mir zurückschickte. Sie passte darauf auf, nicht vom Lehrer gesehen zu werden. Wir schrieben einander, ohne dabei erwischt zu werden.
Du hast gesagt er ist blond. Aber nicht so wie die Blondinen? Er hat dich ja nach Kalorien gefragt xD
Nein, so hat er nicht gewirkt. Ich schätze ihn als intelligent ein :) Er schien alles andere als blondinendumm zu sein. Und außerdem sind Blondinen nur deshalb dumm, weil sie sich einbilden, wirklich blond (und dumm) zu sein...
Danke :P
Damit meinte ich nicht dich, du Fakeblondine – ich löste noch eine Aufgabe und gab Stella den Brief.
Ich bin blond – schrieb sie zurück. – und stolz darauf : D
Die eine Gleichung hatte keine Lösung in der Menge der ganzen Zahlen. Ich schrieb die nächste Übung von der Tafel in das Heft.
xD – antwortete ich.
Wie läuft es derzeit bei dir? – wollte sie wissen. Stella meinte damit das Geheimnis, das nur drei Personen wussten. Meine Flügel.
Schwer
Ist es schlimm?
Ja und nein – schrieb ich. – Das ist die Schattenseite der Sache, ich muss damit leben. Aber der Gedanke, sofort den Kontakt abzubrechen, sobald die Nähe einer Person riskant wird, macht mich unglücklich -.-
Das tut mir Leid : (
Irgendwie werd ich es überleben, oder? Es sei denn, ich finde jemanden, dem ich blind vertrauen kann. Jemanden wie du, nur männlich : )
Ich übergab Stella den Brief. Ich wusste, wie schwer es sein würde, so einen Jungen zu finden. Zu unterscheiden, wem ich vertrauen kann und wer mich verraten würde. Es wäre einfach zu riskant, meine Flügel zu zeigen.
Glaubst du, er würde es weitererzählen? – wollte Stella wissen.
Der Junge mit den grünen Augen? – schrieb ich zurück.
Aham – sie rückte den Brief schnell zu mir, als der Lehrer uns den Rücken zuwandte.
Weiss ich nicht :I ich kenne ihn nicht. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich glaube nicht, dass wir uns wieder begegnen werden. Das wäre das größte Wunder in der Geschichte der Menschheit :D
Kopf hoch, Blanka! Das Leben ruft dich : ) – ermutigte sie mich.
Mein Mund verzog sich zu einem Lächeln. Ich blickte rüber zu Stella, dann faltete ich unsere schriftliche Unterhaltung noch einmal in die Hälfte und schob sie in die Hosentasche meiner Jeans.
In den restlichen Minuten der Mathestunde lösten wir weitere Aufgaben. Sobald die Stunde vorbei war, drückte mir Stella einen Kuss auf die Wange und fischte den Turnsack unter der Bank hervor.
»Ich gehe mich umziehen. Wärest du so lieb mir ein Sandwich im Schulbuffet für die große Pause zu bestellen?«
»Natürlich. Mit Schinken und Champignons?«
»Nur mit Schinken« sagte sie lächelnd und ging Richtung Turnhalle los.
Stella hatte bisher immer ein Sandwich mit Schinken und Champignons bestellt. Anscheinend war es ihr langweilig geworden, immer dasselbe zu essen.
»OK!« schrie ich ihr nach und fing an, meine Mathesachen zurück in die Schultasche zu packen.
Es folgte meine absolute Lieblingsstunde. Ich hatte fünfundvierzig Minuten ganz für mich allein, weil ich an der Turnstunde offiziell nicht teilnehmen durfte. Dank Stella galt die Freistellung für meine ganze Schulzeit. Würde ihre Mutter nicht dort arbeiten, wo sie arbeitete, müsste ich mich in der Toilette umziehen und mir ein extra Korsett nur für den Sportunterricht besorgen. Außerdem hätte ich ständig Angst, davor, dass jemand meine Flügel erblickt. Glücklicherweise konnte Stellas Mutter mir die Bestätigung über chronische Skoliose besorgen, was nicht gerade mein Leben rettete, aber zumindest ein wenig erleichterte. So musste ich mich nicht in der Toilette verstecken und übergroße T-Shirts tragen. Stattdessen hatte ich das Mitleid meiner Mitschüler, die dachten, ich hätte auch noch einen üblen Plattfuss. Obwohl rein optisch nichts zu erkennen war.
Ich setzte mich an meinen üblichen Platz, der ein zusammengerollter Riesenteppich am Rande der Turnhalle war, und machte es mir gemütlich. Ich war nicht die Einzige, die nicht an der Turnstunde teilnahm. Außer mir saßen noch drei weitere Klassenkameraden auf dem Teppich, die sich aus reiner Faulheit hatten freistellen lassen. Um ehrlich zu sein, verstand ich sie völlig. Ich würde dasselbe tun, wenn ich keine Lust hätte, kreuz und quer durch die Turnhalle rennen zu müssen wie eine Herde tollwütiger Kühe. Es war noch schließlich früh am Morgen.
Ich schaute der turnenden Klasse zu, doch nach einer Weile wurde mir langweilig was sie machten und ich fing einen Smalltalk mit einem Klassenkameraden an, der neben mir saß.
Die Hälfte der Stunde war schon vorbei, als die Sportlehrerin zum Teppich kam und uns mit feurigem Blick anschaute.
»Wer sich nicht an der Stunde beteiligt, hat nicht viel zu tun. Vor allem du, Blanka, du könntest gelegentlich Interesse zeigen, damit ich dir eine Note geben kann« sagte sie, ungeachtet der Tatsache, dass ich, seit ich diese Schule besuche, noch nie an der Sportstunde teilgenommen habe.
Schon von der Stimme dieser Lehrerin wurde es mir übel. Keine Ahnung, was für ein Diplom sie hatte, aber es würde ihr nicht schaden zu wissen, dass ich mit meiner Erkrankung keine ihrer bescheuerten Übungen machen darf.
»Die Schulärztin wartet oben auf euch« setzte sie fort. »Ihr könnt einzeln zu ihr gehen. Meines Wissens nach war noch keiner von euch bei ihr.«
Eine ärztliche Untersuchung... Jetzt... Sofort... Verdammt! Darauf war ich nicht vorbereitet. Eine Untersuchung, und das gerade jetzt.
Stella hatte meinen panischen Gesichtsausdruck erblickt, ehe ihr der Ball zugeworfen wurde und sie weiterspielte. Mein Puls schoss in die Höhe, mein Herz raste verrückt.
Ich konnte es einfach nicht begreifen... Ich musste wieder verschwinden, um meine Flügel zu schützen. Wie ich es durchführen würde, ohne daran gehindert zu werden, wusste ich nicht. Solange alle da waren, konnte ich nicht fliehen. Ich ging alle Möglichkeiten durch und kam zu dem Schluss, dass der einzige Ausweg war, gleich als Erste zu gehen. Ich atmete tief ein und versuchte mich zu beruhigen. In meinem Inneren tobte ein heftiger Sturm, der vom Adrenalinschub ausgelöst wurde.