Nach meinem Lieblingssong spielte der DJ einen langsameres Lied. Ich nahm die Wange von seiner Brust und schaute zu ihm rauf. Seine Augen waren bei dem wenig bunten Licht bläulich, ihre Schönheit jedoch unverändert.
Am Ende des Songs tanzten wir Stirn an Stirn. Ich spürte seine heißen Atemzüge auf meinen Lippen. Alex’ Augen waren zu, sein Lächeln kaum erkennbar. Als die Musik aus war, hielt ich Inne und blieb stehen. Ich hoffte, das Verlangen nach seinen Lippen stillen zu können. Meine Gefühlswelt stand auf dem Kopf. Alex zog mich als Antwort auf meine Gedanken näher zu sich und streichelte mit einer Hand über mein Gesicht. Meine Knie wurden weich, allein seine Umarmung hielt mich aufrecht. Sein Atem brannte immer heißer auf meinen Lippen. Die Vollkommenheit war so nah…
»Verdammt« dröhnte plötzlich aus seiner Kehle und er zog sich zurück.
Ich schaute erschrocken auf und verstand nichts. Alles drehte sich wild.
»Die müssen gerade jetzt anrufen« ärgerte er sich und nahm sein wild vibrierendes Handy aus der Hosentasche hervor. Ungewollt blickte ich auf das Display. Mir fiel sofort die ausländische Nummer auf. »Es tut mir echt leid, Blanka« sagte er und drängte sich nervös durch die Masse von der Tanzfläche. Der DJ spielte das nächste Lied und ich blieb alleine.
Ich hatte keine Lust mehr zu tanzen. Enttäuscht suchte ich den Weg von der Tanzfläche, blieb am Eingang stehen und wartete auf Alex.
Eine viertel Stunde verging. Ich ging raus, um mich umzusehen, vielleicht telefonierte er noch. Doch draußen war er auch nicht. Mein Verstand versuchte mir mit jeder weiteren langen Sekunde klar zu machen, dass er nicht mehr zurückkommen wird. Ich ging wieder in die Disko und setzte mich auf einen weißen Stuhl aus Kunststoff.
Mein Bruder hüpfte energisch zu mir. Ich sah ihm an, dass er vor Freude strahlte. Ich blickte ihn betrübt an.
»Was hast du getrunken?« fragte ich.
»Nichts. Du siehst aus wie eine Leiche. Hast du was getrunken?«
»Ach, lass mich doch in Ruhe« antwortete ich deprimiert.
»Willst du gehen?«
»Wir können noch bleiben.«
»Was ist mit dir los? Du schaust unglücklich aus« stellte er fest. »Dein Gesicht ist ganz blass.«
»Okay, gehen wir. Ich fühl mich nicht gut« sagte ich dann.
Man hofft immer das Beste und bekommt dann das Schlimmste. Ich stand auf und ging raus. Lucas folgte mir und redete darüber, wie schnell ich mich meine Meinung ändere.
Ich kannte ihn kaum und doch hatte ich das Gefühl, ihn gut zu kennen. Er stand mir näher als ich es mir hätte erlauben sollen, trotzdem war er ganz weit weg… Jedes mal, wenn wir redeten, strahlte er so viel Wärme und Freude aus. Das Leben war ungerecht.
Der Weg nach Hause war ein Alptraum. Mein Bruder erzählte er mir, was in der Disko los war. Wie ich es bereits vermutet hatte, war ein Mädchen der Grund seiner übertriebenen Freude. Sie hatten ihre Nummern getauscht und die ganze Nacht miteinander getanzt. Ich selbst war zu enttäuscht, um mich für Lucas richtig freuen zu können. Das Gefühl, dass Alex vor mir weggelaufen war, wurde immer stärker. Er wurde angerufen, aber das war keine Erklärung für sein Verschwinden. Es musste einen anderen Grund geben.
Wir kamen daheim um fünf an. Ich hatte Kopfweh, riss mich dennoch zusammen und stellte mich unter die Dusche. Das heiße Wasser beruhigte meine Nerven, ich konnte mich endlich entspannen. Nach dem Duschen verkroch ich mich unter der Decke und schlief sofort ein.
Das Summen meines Handys weckte mich. Es war hell, die Sonne schien ins Zimmer. Ich schaute auf die Uhr. Schon neun. Bevor ich jedoch aus dem Bett sprang, las ich die neue Nachricht auf meinem Handy. Alex hatte sie geschickt. Er schrieb, dass es ihm leid tut, was in der Nacht passiert ist. Und dass er unser Treffen absagen muss. Wir können es nächste Woche nachholen.
Das war alles. Ich ließ mich in die Matratze sinken und entschied innerhalb der nächsten Sekunden, ihn anzurufen. Entschlossen drückte ich den grünen Knopf auf dem Gerät. Es klingelte lang, Alex ging nicht ran. Beim dritten mal konnte ich ihn endlich erreichen.
»Ja?« hörte ich seine Stimme. Er klang nervös.
»Hi, ich bins« sagte ich leise. »Blanka.«
»Hi« begrüßte er mich.
Irgendetwas stimmte nicht. Ich überlegte, ob ich auflegen soll. Dann würde er mich wohl als Geisteskrank einstufen. Keine gute Idee…
»Hast du heute wirklich keine Zeit?« platzte aus mir heraus. Ich wusste seine Antwort. Ich bereute es, ihn angerufen zu haben.
»Hör mal, Blanka« sagte er kalt. »Es ist nicht der beste Zeitpunkt, über das Thema zu reden, ok?« er hielt eine Pause. Ich blieb still, mir wurde kalt. »Tut mir echt leid, wir können uns heute nicht treffen.«
Ich spürte, wie sich die Tränen in meinen Augenwinkeln ansammelten und in einem dünnen Streifen über meine kalten Wangen rannen. Ich sagte nichts, seine abweisende Tonalität tat weh.
»Ich melde mich« versprach er. Ich war mir nicht sicher, ob ich seinen Worten vertrauen konnte. »Tschüss.«
»Tschüss« sagte ich, aber die Leitung war schon tot. Ich verbarg mein Gesicht im Kissen und weinte.
Am Nachmittag entschied ich, ins Einkaufszentrum zu gehen und mir die MP3-Player anzuschauen, anstatt in meinem Zimmer über die Witzigkeit und Absichten des Schicksals zu philosophieren. Ich nahm ein paar Scheine aus meinem Sparschwein, zog mich an und verließ die bedrückende Aura meines Zimmers.
Trotz der schlechten Laune setze ich meinen Weg fort. Die Innenstadt war sonntags einsam. Das Einzige, was offen hatte, war das Einkaufszentrum. Der Weg dorthin war lang und bot viel Ablenkung. Ich fuhr mit den Fingern durch die Haare und warf sie nach hinten, damit die Sonnenstrahlen sie besser erreichen konnten. Es war warm, beim Einkaufszentrum bekam ich Lust auf ein Erdbeereis.
Bevor ich ins Technikgeschäft ging, um mir einen, wenn möglich, wasserdichten MP3-Player zu kaufen, spazierte ich an den Schaufenstern der Modegeschäfte vorbei. Anschließend suchte ich den MP3-Player Abteil im Fachgeschäft und begutachtete die kleinen Geräte. Es gab unzählige Modelle, von Billigprodukt bis Luxuskategorie. Die aus der Luxuskategorie gefielen mir am Besten, doch mein Taschengeld reichte leider nicht aus. Ein kleiner, hellblauer MP3-Player mit einer dünnen, ebenfalls hellblauen Kette weckte meine Aufmerksamkeit. Die Kette würde die Wahrscheinlichkeit, dass das Gerät in die Donau fällt, massiv verringern. Am Ende entschied ich mich für keines der Modelle. Ich würde lieber noch ein wenig sparen, um mir ein Gerät aus der Luxuskategorie kaufen zu können. Oder bis zu meinem Geburtstag warten und mir dann einen neuen MP3-Player wünschen. Das Fliegen war auch ohne Musik unterhaltsam.
Ich sah mir die restlichen Abteile an, was mir schnell langweilig wurde. Als Entschädigung für meine unbefriedigte Nachfrage holte ich mir ein Erdbeereis beim Café und spazierte durchs Einkaufszentrum. Es war ein beruhigendes Gefühl zu sehen, was ich alles nicht kaufen werde. Ich achtete nicht auf die Menschen um mich herum, ich wollte nur meine Gedanken reinigen und den Tag überleben. Ab morgen würde mich die Schule wieder ablenken. Ich kaufte meiner Mutter einige Semmel und beendete meine Shopping-Tour.
In der Zwischenzeit hatten sich dicht stehende Wolken am Himmel angesammelt. Sie waren flauschig und süß, genau wie Schafe, ich konnte beinahe das „Mäh“ von oben hören. Das Wetter war sommerlich, nur etwas schwül. Auf dem Heimweg dachte ich über den idealen Zeitpunkt meiner nächsten Tour nach. Flügel waschen und Knoten ausbürsten stand auch bald an.
Daheim hatte ich nichts mehr zu tun – alle Hausaufgaben waren erledigt, lernen musste ich nicht. Trotzdem hatte ich keine Lust auf Skype zu gehen oder meine E-Mails zu checken. Die Auszeichnung für das geselligste Wesen im Haus hätte ich auch nicht bekommen. Im Laufe des Tages sagte ich insgesamt nur zwei Sätze: dass ich mir einen neuen MP3-Player kaufen gehe, weil ich den anderen beim Laufen verloren habe, und dass ich im Geschäft kein passendes Stück gefunden habe. Ich fühlte mich erschöpft und verletzt. Ironischer Weise war die Schule meine einzige Hoffnung. Ich konnte es kaum erwarten, Stella wieder zu sehen.