Wochen später war die Luft klarer geworden und der Winter hatte Einzug genommen.
Mit seinem starken Wind hatte er die letzten Blätter von den Bäumen gerissen, die der Herbst noch in viele Farben getaucht hatte und die Welt verändert.
Nach der Schlacht zu Beginn von Lads Aufenthalt, hatte es lange Verhandlungen mit den Skalanern gegeben. Man hatte versucht, die Lage zu entschärfen und Tanis gab sein Bestes, um den Frieden zu wahren, den doch alle erreichen wollten. Jedenfalls nach außen hin. Im Hintergrund wussten beide Parteien der kriegsführenden Länder, dass neue Pläne bereits die Köpfe der Strategen rauchen ließen und die Fai wappneten sich für einen neuen Angriff. Darauf bedacht, diesmal noch vorsichtiger vorzugehen. Zu viele Seelen waren im Spätsommer auf der Ebene geblieben.
Liadan, die Feuereifer an den Tag legte und es am liebsten allein mit dem gesamte Reich Skala aufgenommen hätte, wurde nur durch langes Zureden von ihrem Stellvertreter Daeron und Nysander gebremst. Schweren Herzens hatten sie beschlossen, dass es besser wäre, alles langsamer anzugehen. Sie wollten abwarten, bis sich die Aufregungen beruhigt hatten und weitere diplomatische Gespräche mit den Skalanern erfolgt waren.
So waren viele Wochen ins Land gezogen und von den einst emsigen Reisevorbereitungen nach Skala zeugten nun nur mehr ein paar Notizen und ein halb gepackter Seesack in einer Ecke von Liadans Schlafzimmer.
Schneeflocken tanzten im Wind, als Lad durch den Wald lief. Carrakas, ihre neue Heimat seit fast einem halben Jahr, faszinierte sie. War das Laub von den Ästen verschwunden, wurden die Skelette der Bäume und Häuser deutlicher. Stundenlang konnte sie diese betrachten und wieder einmal fiel ihr auf, wie die Fai nicht gegen, sondern mit dem Wuchs der Bäume gebaut hatten.
Sie hatte in ihrer Zeit in Aurenien gelernt, dass die Fai eine Elfenart war, die stolz auf ihre Geschichte und Naturverbundenheit war, doch die auch den Menschen ähnlicher war, als ihre fernen Verwandten. Im Unterschied zu den Hochelfen war ein Bart nichts Ungewöhnliches und auch die Statur der Fai glich mehr den Menschen. Manche waren hochgewachsen mit edlen Zügen, wie Nyal und wieder andere konnten ihre Ohren so einfach wie Lad verbergen und sich unter eine Menschenmasse mischen, ohne aufzufallen.
Ihre grauen Augen folgten dem Weg vor die Tore Carrakas’, wo der Wintermarkt Wurzeln geschlagen hatte. Der Boden glitzerte von Schnee und Eis und die Fai waren, eingehüllt in warme Gewänder und Mäntel, auf demselben Weg wie sie.
Die Nasenspitze gerötet und kalt, spürte Lad die Kälte kaum. Zu aufgeregt war sie, die bunten Stände zu sehen, von denen Liadan ihr im Herbst in den Ohren gelegen hatte.
„Aura sei mit dir, Daeron!“, grüßte sie den Soldaten, den sie eben eingeholt hatte. Er hatte ihr in der ersten Zeit in Aurenien geholfen, sich zurecht zu finden.
Daeron erwiderte ihren Blick aus Augen, die wie das frische Gras einer Frühlingswiese waren. „Aura sei mit dir, Lad í Sathil. Bist du auch auf dem Weg zum Markt?“, fragte der Fai sie mit einem warmen Lächeln, das, wie Lad festgestellt hatte, typisch für die Fai war. Sie war vermutlich die Einzige, die es nicht hatte.
„Welch eine Frage. Sind das nicht alle?“, erwiderte sie mit einem Lachen, fasste ihn sogleich an der Hand und zog ihn im Laufschritt mit sich.
„Sag mir, ist dir nicht kalt?“, Daeron lief neben ihr her, musterte sie von Kopf bis Fuß, „Du trägst kaum wärmere Kleider als im Sommer.“
Tatsächlich trug sie ihr alltägliches Gewand und darüber einen dünnen Umhang, den sie von Liadan geliehen hatte. Sie wollte nicht zur Last fallen, sich alles andere auch auszuborgen, denn das meiste ihres Besitzes war noch in Merenwens Schloss.
Sie schüttelte bloß den Kopf auf seine Frage und schob sich durch die Menge, die ihr den Blick auf die Händler versperrte, die mit lauter Stimme ihre Waren anpriesen.
Prächtig war der Markt mit bunten Girlanden geschmückt, in die Lichter flackerten. Überall glitzerte es von Schnee und Eis und die Ware der Händler bot einen willkommenen farbenfrohen Fleck. Lad erblickte Stände, auf denen es reichlich Geschmeide für die feinen Damen gab, edle Stoffe verschiedenster Art oder Flaschen mit duftendem Inhalt, der ihre feine Nase kribbeln ließ.
Da waren ihr die Händler lieber, von deren Plätzen es himmlisch roch. Zahlreiche, verschiedene Leckereien wurden verkauft. Von süßen Äpfeln, die mit einer zuckerhaltigen Glasur überzogen worden waren, bis hin zu gewürztem Gebäck konnte man alles finden, was das Herz an Naschereien begehrte. Jeden Winter brachten die Händler neue Überraschungen aus aller Welt herbei.
Sie bemerkte, es waren nicht nur Fai unter den Handelsreisenden, sondern auch andere Elfen und Menschen, die einen weiten Weg zurückgelegt hatten, um hierher zu kommen. Das ganze Jahr über war es die Hafenstadt Akendi, zu der man reiste, doch im Winter zog es die Händler aus alter Tradition ins Inland und Carrakas galt mit seinen Soldatenfamilien als der Umschlagplatz schlechthin.
Daeron lächelte vergnügt und sie freute sich, als sie dies in seinen, vom Kampfe gezeichneten, Zügen sah. Er wirkte sonst immer recht ernst und konzentriert. Sie hatte ihn selten Lachen gesehen und doch verstand sie sich mit dem jungen Soldaten, von dem sie bald erfuhr, dass selbst sie ihn im Zweikampf mit Leichtigkeit schlagen konnte, denn dies war nicht seine Stärke. Als Bogenschütze war er jedoch unübertrefflich.
„Sieh mal! Dort drüben haben sie bunte Steine“, rief Lad durch den Lärm der Menge und wies auf den bunten Stand hin, auf dem sich viele Steine reihten, die in atemberaubenden Farben schimmerten und die Augen vieler in ihren Bann zogen.
„Dort werden Eier angeboten, Lad. Eier von allen denkbaren und undenkbaren Tieren, die sie versteinert gefunden haben. Unter anderem auch vermeintliche Dracheneier. Aber sie haben natürlich auch sehr viele normale Steine, die einfach nur von der Natur geprägt wurden. Schließlich kann man sie nicht einfach unterscheiden.“, erklärte Daeron und führte sie näher zu dem Stand, da auch ihn all die herrlichen Farben faszinierten.
„Dracheneier? Du meinst echte Dracheneier?“, Lads Augen begannen zu glänzen. Wie gerne würde sie einmal selbst einen Drachen sehen und berühren. Richtig berühren und nicht nur selbst einer sein. Auch auf dem Rücken eines so mächtigen Tieres mitfliegen statt selbst die Schwingen zu strecken, stellte sie sich wunderbar vor. Vor allem hatte sie es seit damals nicht mehr geschafft, sich in einen zu verwandeln und es kam ihr dadurch schon so weit entfernt und unglaubwürdig vor, dass sie die Seele eines Drachen in sich tragen könnte.
Mit einem Seufzen beäugte sie all die eiförmigen Steine, streckte sanft die Hand aus und strich darüber. Es war ihr, als würde sie das Leben darin pulsieren können. Sie schüttelte leicht den Kopf. Wahrscheinlich bildete sie sich das nun ein, da sie sich so sehr danach sehnte, Aug in Aug mit einem Wesen wie diesem zu stehen.
„Lad? Ist alles in Ordnung?“, rief Daerons Stimme sie zurück in die Wirklichkeit.
Plötzlich wurde sie sich bewusst, dass er sie schon die ganze Zeit ansah und errötete leicht.
„Hier. Der ist für dich, damit du diesen Stand nicht mehr vergisst.“, er legte ihr sanft einen Stein in die Hände, der in allerlei Farben getaucht war. Der Stein lag überraschend leicht in ihren Händen lag und das, obwohl er sie ganz ausfüllte.
„Danke!“, hauchte die Fai gerührt und ehe sich Daeron versah, hatte sie sich gestreckt und ihn zum Dank auf die Wange geküsst.
~*~
Lad positionierte das Ei vorsichtig auf einem Kissen in Liadans Wohnraum. Ihre Finger streichelten über die steinerne Fläche und sie wünschte, es wäre wahrlich ein Ei und nicht, was wahrscheinlicher war, ein bunter Stein, der zufällig groß und rau und eiförmig geraten war.
Wäre sie ein wahrer Drache, wäre sie aus einem solchen Ei geboren, dachte sie mit einem glückseligen Lächeln im Gesicht, das ihre Augen funkeln ließ.
Die Tür flog krachend auf und Liadan stapfte hinein, eine Spur von schmelzendem Schnee hinter sich lassend. Dicht hinter ihr folgte Nyal ins warme Haus, ein grüßendes Lächeln auf den Lippen.
Liadan warf ihren Umhang über die Lehne eines Stuhls, streifte ihre Stiefel ab und trat sie beiseite, bevor sie sich erschöpft vor dem Kamin niederließ. „Das Wetter dort draußen könnte kaum besser sein für ein Training im Schnee“, erklärte sie an Lad gewandt, die fragend eine Braue gehoben hatte.
„Verstehe. Da kannst du alle durch die weiße Pracht jagen“, Lad umarmte kichernd ihre Mutter, die auf sie zu kam. Noch immer war es ein seltsames Gefühl dieser Frau so nah zu sein. Liadan war ihr bereits ans Herz gewachsen, doch wie lange würde es noch dauern, bis sie ebenso für den Rest ihrer Familie empfand? Nyal, die eine liebevolle Mutter war und ihr so viel Aufmerksamkeit und Zuneigung schenkte, als wolle sie all die Jahre ungeschehen machen, obwohl Lad das nicht wollte. Sie hatte kein Bedürfnis, die Zeit zurückzudrehen, doch sie hätte ihren Vater, Khirani, gerne kennengelernt. In der vagen Hoffnung, er wäre nicht ganz so darauf bedacht, keinen Fehler zu machen, sondern würde einfach dazu stehen, dass sie im Jetzt lebten und daraus das Beste machen sollten. Vielleicht wäre er auch jemand, mit dem sie offen über ihre Zweifel reden konnte, die sie hatte. Bisher wusste sie nur, dass sie das gleiche unbändige dunkle Haar wie er hatte.
Nyal entließ sie aus der Umarmung und machte es sich in einem Sessel bequem. Sie war immer elegant, jedes Wort und jede Bewegung von ihr war fließend und mit Bedacht. Eine Botschafterin, die ihre Rolle perfektioniert hatte.
„Euer Onkel Tanis konnte leider nicht mit mir kommen. Seine Pflichten ließen ihn nicht gehen, aber wir können sicher auch zu dritt alles bereden, worum du uns hergebeten hast, Liadan“, Nyals warme Stimme erfüllte den Raum. Ihre Hände waren in ihrem Schoß gefaltet und sie betrachtete ihre Töchter. Die eine erschöpft von einem Training in ihrem Stuhl sitzend, die andere hatte sich bäuchlings auf den Boden begeben.
„Ich habe überlegt, wie wir es am besten machen. Die Reise nach Skala. Im Moment scheinen die Dinge wieder günstiger zu liegen. Es wäre ideal, wenn wir uns unter die Händler mischen könnten“, erklärte Liadan ruhig.
Lads Finger spielten mit der rauen Oberfläche des Steins. Sie stützte das Kinn auf eine Hand. Bei Liadans Worten verzog sich leicht das Gesicht und erwiderte: „Weißt du, was ihr alle vergessen habt, in den tollen Plänen? Wir haben nicht alle Waffen! Wir haben nur drei. Das Schwert der Missgunst ist nicht in unserem Besitz und soweit es die Informationen zulassen, haben die Skalaner es seit mindestens hundert Jahren nicht mehr gesehen.“
Es war als hätten ihre Worte einen Stein durchs Glas geworfen. Liadan sah die Pläne für ihre Reise vor geistigem Auge in tausende kleine Splitter zerbersten, die glitzernd zu Boden fielen.
„Du hast recht“, flüsterte sie tonlos. Ihr Mund fühlte sich so trocken an und ihr Blick glitt ins Leere, „Wir haben wahrlich nicht alle vier. Orcomhiel und Brythir sind bei mir. Eglesiel trägst du und Galmyn ist verschollen. Ohne es können wir gar nichts ausrichten.“
„Das sehe ich genauso, Liadan. Darum sage ich es doch. Es wäre ein Fehler zu fahren. Außerdem möchte ich noch etwas Anderes tun.“, sie wandte ihre Aufmerksamkeit dem Feuer zu. Lange hatte sie nachgedacht. Überlegt, wie sie es ansprechen könnte. „Ich möchte nach Hause. Dahin, wo ich hergekommen bin und noch einmal alles sehen, bevor Aurenien wirklich mein Zuhause wird. Meine Familie dort vermisst mich und ich vermisse sie auch.“
Die blonde Fai schluckte schwer. Erst zerschmetterten die Worte ihrer Schwester alle Pläne und nun stachen sie ihr ins Herz. Langsam, sehr langsam, rang sie sich ein Nicken ab. „Dann tu das. Ich werde dich nicht aufhalten, aber versteh bitte, dass ich dich nicht begleiten kann. Mein Platz war und ist hier bei meiner Reiter-Turma.“
Auch Nyals Miene war erstarrt über die Worte ihrer jüngsten Tochter, doch genau wie Liadan, nickte sie langsam. „Du... bist hier immer willkommen, wenn du zurückkommst und ich hoffe, Aurenien wird irgendwann dein Zuhause sein“, flüsterte sie und blinzelte, denn Tränen waren in ihre Augen getreten.
Und damit hieß es für Lad warten. Warten bis der Winter sich dem Ende neigte und das richtige Schiff im Hafen anlegte und der Winter hatte erst begonnen.