Die Wipfel der Bäume rauschten über ihnen. Der Boden war schlammig und mit gefallenen Blättern bedeckt. Matsch drang zwischen Makis zehn Vorderzehen nach oben und hatte ihre Füße und den Bauch bereits braun eingefärbt.
"Ich kann nicht mehr!", jammerte Meri und ließ sich auf den Boden fallen.
Skoko, der als Ältester die Führung übernommen hatte, bliebt stehen und drehte sich um. Meri sah elend zu ihm auf. Ihre Schnurrhaare zitterten.
"Wir müssen weiter", sagte Skoko gedehnt. Oft hatte er es in den letzten Tagen schon wiederholt.
"Aber wohin?", fragte Meri kläglich.
Jetzt ließen sich auch die Zwillinge Didai und Sakai fallen.
"Hunger!", sagte Didai.
"Durst!", klagte Sakai.
Skoko stöhnte. Er war ungeduldig. Mit der Vorderpfote grub er Matsch von Boden und warf es vor die drei jüngsten der Gruppe. Meri zählte gerade einmal 13 Jahre und war zudem schwächlich. Didai und Sakai hatten vor Kurzem erst ihren vierzehnten Sommer gesehen.
"Da, esst!", befahl Skoko den dreien grimmig. Maki nutzte die Pause, um unauffällig ihre Hinterbeine zu strecken. Erddrachen waren nicht für lange Wanderungen an der kalten Oberfläche geschaffen. Tati und Dian schwiegen, Tati aus Rücksicht und Dian, weil er einen Regenwurm entdeckt hatte und dessen langsamen Ringelungen folgte.
"Aber das ist Matsch!", beschwerte sich Didai.
"Voller Wasser und Würmer", ergänzte Sakai. "Ich will Lehm."
"Es gibt hier aber keinen Lehm!", fuhr Skoko auf. "Deswegen suchen wir nach der anderen Kolonie!"
"Ich will nach Hause!", weinte Meri. Maki sah zu, wie Skoko sich um Fassung bemühte. Er war selbst erst 15, und damit hatten ihn die Ereignisse genau so schwer getroffen wie sie alle. Nur konnte Skoko sich nicht erlauben, der Verzweiflung nachzugeben, denn er musste für ihre kleine Gruppe stark sein.
"Wir können nicht zurück", erklärte er mit mühsam gezügeltem Zorn. "Die Menschen sind gekommen. Unsere Kolonie existiert nicht mehr. Wir müssen weiter, damit sie uns nicht doch noch finden. Sie töten uns sonst."
Skokos braune Augen waren weit aufgerissen, dem Wahnsinn nah. Maki erschauerte, als die Erinnerung bei seinen Worten zurück kam. Stampfen war da gewesen, die Erde wild aufgewühlt, Schreie von sterbenden Drachen, Schreie von verwundeten Drachen, und überall das Donnern, Stampfen und Atmen der furchtbaren Maschinen.
Die Tastfühler auf den Rücken der sieben Erddrachen ringelten sich bei der Erinnerung. Selbst Dian war still und beinahe zu festem Fels erstarrt, dass er aussah wie ein Gargoyle. Tati sah stumm auf den Boden. Maki warf ihrer besten Freundin einen Blick zu und drückte sich sanft gegen ihre Seite. Schweigend dankte ihr Tati mit einem Blick.
Die Zwillinge und Meri konnten Skoko nicht in die Augen sehen. Trotzdem machten sie keine Anstalten, aufzustehen.
"Wenn ihr nicht mitkommt, lasse ich euch hier!", drohte Skoko, aber sein verzweifelter Unterton machte deutlich, dass er das niemals tun würde.
Maki kroch ein Stück vor.
"Wisst ihr, ich habe einmal von der anderen Kolonie gehört", sagte sie. Alle Blicke richteten sich auf sie. Skoko wirkte irritiert.
"Die Kolonie ist ganz nah", log Maki und lächelte den Jüngsten zu. Dabei lagen nur wenige Monate zwischen ihnen. Sie waren alle noch Jungdrachen. "Und dort gibt es den leckersten Lehm im ganzen Wald. Außerdem kommen dort nie Menschen hin! Es sind nur noch ein paar Tage. Vielleicht sogar weniger."
Daraufhin flammte Hoffnung in den Augen der Zwillinge auf. Nur Meri zweifelte noch. "Kennen wir den Weg überhaupt? Und wie viele Tage?"
"Wenige Tage. Zwei. Oder drei. Allerhöchstens", log Maki weiter. Sie grinste. "Natürlich kennt Skoko den Weg. Er ist schon fünfzehn!"
Skoko reckte sich leicht und streckte die Hörner in den Himmel. Seine Wangentaschen blähten sich nervös.
Meri stand schwerfällig auf.
"Nur noch zwei Tage, habt ihr das gehört?", rief Dian laut und sprang aufgeregt voraus. Die Zwillinge folgten ihm kichernd.
Maki, Tati, Meri und Skoko folgten den Jüngsten etwas langsamer. Maki spürte das Gewicht ihres Keulenschwanzes plötzlich doppelt so schwer.
Sie hatte gelogen. Keiner von ihnen wusste, ob es überhaupt noch andere Kolonien gab. Sie waren nie zuvor außerhalb des großen Baus gewesen, indem die Erddrachen lebten, bis sie ausgereift waren. Jetzt hatten Maki, Skoko, Tati und alle anderen zum ersten Mal Tag und Nacht erlebt, das kalte, ungemütliche Wetter, und die Schrecken des Waldes, den die Menschen Tiny Woodland getauft hatten. Seit die Menschen gekommen waren und sie sich aus der Seite ihrer Wohnhöhle gegraben hatten, immer und immer weiter gegraben, bis Schaufelhände und Schiebebeine schmerzten, war nichts mehr wie vorher gewesen. Maki fühlte sich blind, denn in der dünnen Luft schwangen so viele Eindrücke mit, die ihre Tastfühler nicht aufnehmen konnten. Ihr Rücken schmerzte von dem Versuch dazu. Ihre Augen, an die Dunkelheit des Erddrachenbaus gewöhnt, konnten nur langsam beginnen, in Richtung der Sterne zu blicken - Tageslicht war unerträglich, obwohl die älteren Drachen immer behauptet hatten, dass man sich daran gewöhnte.
Maki schnaufte leise und richtete dann die Schnurrhaare wieder auf. Sie musste positiv denken, und das bedeutete auch, sich nicht auf ihre Schmerzen zu konzentrieren. Denn der Wald war wunderschön, besonders jetzt im Herbst. Die Menschen hatten sie seit Tagen nicht gesehen und es sah ganz so aus, als würde sich der Boden endlich ändern. Zwar war es noch kein Lehm, aber Maki spürte Kiesel und Sand zwischen den zwanzig Fingern. Sie mussten nur weiter kriechen. Schon jetzt konnte sie die Hinterbeine in den Boden graben, wo es warm war.
Noch war nicht alles verloren.
Skoko schloss zu ihr auf.
„Lauft nicht zu weit voraus!“, rief er den Kleinen zu. Dann warf er Maki einen Blick zu. „Danke dir.“
Er hatte die Stimme gesenkt, damit Meri sie nicht belauschte. Das tat jedoch dem Ernst in seiner Stimme keinen Abbruch.
Maki blinzelte ihm zu, als Zeichen dafür, dass er ihr nicht zu danken brauchte.
Sie wollten alle eine neue Heimat finden, so bald wie möglich. Sie wollten alle wieder Lehm unter den Tatzen spüren, weichen, warmen, lebendigen, leckeren Lehm, sie wollten alle wieder unter dem Schutz von großen Drachen stehen, sich in den Bauchtaschen von Älteren, Stärkeren verkriechen und den Wind, den Regen und das laute Rascheln des Herbstlaubs vergessen.
Wir müssen zusammenhalten, dachte Maki bei sich. Skoko hatte sie inzwischen überholt und sich an die Spitze der Gruppe gesetzt. Tati lief neben ihr, und Meri bildete die Nachhut.
Sie mussten zusammenhalten, sonst würden sie sterben.