Langsam wie der Atem eines Riesen trieben die Gezeiten dahin. Im blauen Dämmerlicht unter der Oberfläche ließ Sesewja sich von der Strömung schaukeln.
Hin und her. Hin und her.
Ein ruhiger, rauschender Herzschlag, der das Ozeanblut, die salzigen Wellen, gen Land trieb. In Jahren, so hatte Dojadoja erzählt, verschlangen die Wellen immer ein Stück Land, kontinuierlich, ein so winziges Stück, dass es vielleicht nur den Strömungsdrachen auffiel.
Sesewja lauschte Atem und Herzschlag der See, wie Dojadoja es sie gelehrt hatte. Sie hörte die scharfen Schnitte, mit denen die Holz- und Eisenboote der Menschen die Oberfläche zerschnitten. Sie fügten der See tiefe Wunden zu, zerschnitten den Herzschlag, der doch gerade für die Küste so wichtig war. Und obwohl in dem glatten Wasser keine Narben blieben, konnte Sesewja den Schmerz spüren.
Sie verbarg sich am dunklen Grund des Golfes, zwischen warmen Strömungen und kalten Stagnation, in den Überresten von Korallenriffen. Jetzt waren die kunstvoll verschlungenen Wälder des Meeresboden zerbrochen und vertrocknet, die ersten Opfer der Metallschnitte hoch über ihnen. Das Meer mochte es nicht, wenn man seinen Rhythmus störte. Die große Mutter der Wasserdrachen war launisch geworden und strafte ihre Kinder und die Fische für jede Tat der Menschen.
Mit ruhigen Bewegungen glitt Sesewja dahin. Sie wusste, dass die Menschen eine schnelle Bewegung wahrnehmen würden. Ihre Metallwesen würden sie dann wittern. Sie ließ sich von der Strömung wiegen, wie Seegras, wie ein Wrack. Das Wasser floss kühl durch ihre Kiemen und teilte ihr mit, dass die See nach Metall schmeckte.
Sesewjas Muschelohren drehten sich nach jedem Geräusch. Sie hatte Angst, sogar Angst, sich zu bewegen. Ihre Schuppen waren dunkel am Rücken, hell am Bauch, machten sie unsichtbar vor dem düsteren Meeresgrund und dem hellen Schein des Himmels über ihr. In dieser Zwischenwelt, zwischen Schwere und Nichts, trieb sie dahin.
Vielleicht schon seit Jahren.
Sie war inzwischen ausgereift. Nicht mehr lange, und sie würde großjährig sein. Seit Jahren hatte sie keinen anderen Drachen gesehen, nicht mehr, seit Dojadoja tot war.
Seit Jahren trieb sie am Grund des Meeres, ging nur des Nachts auf die Jagd und war selbst dann vorsichtig.
Jetzt veränderte sich etwas. Der Meeresgrund erzitterte wie von Schlägen, und weit entfernt röhrte die See hasserfüllt aus.
Die Menschen taten neues Unheil. Sesewja spürte förmlich, wie sich ein Schatten über sie legte. Dunkel wuchs etwas am Strand heran, eine Stadt der Menschen, die in die Höhe schoss. Scheinbar in dem Bruchteil eines Augenblicks.
Sesewja hatte von Dojadoja gelernt, still und ruhig zu sein, sich treiben zu lassen wie ein Strömungsdrache, ohne Energie zu verbrauchen.
Jetzt aber war diese Zeit vorbei. Immer mehr Holzkrallen zerschnitten den Herzschlag der See. Sesewja schwamm zum Rande des Golfs. Die Stadt wuchs und Sesewja kehrte in den Geist eines Tiefseedrachen zurück. Ein schnellerer Verstand, weniger träge, weniger ruhig.
Sie schwamm schneller. Bald war der Wechsel von Tag und Nacht kein Blitzen mehr für sie, sondern ein langsamer Vorgang von Stunden. Ihr Herzschlag wurde schneller und lebendiger.
Im Geist wiederholte sie immer und immer wieder die Zeilen, alles, was ihr von Dojadoja geblieben war. Die Zeit des Wartens war um.
Am Rande der großen, stillen Wasserfläche, die von den Menschen Gulf of Aarth genannt wurde, ließ sich Sesewja an den Strand spülen. Ihre Kiemen klebten zusammen, als sie das Wasser verließ. Ihr ganzer, langer Hals fühlte sich an wie zugeklebt. Sie bekämpfte die aufsteigende Panik mit melancholischer Ruhe. Denn ob sie heute starb oder morgen, was spielte es für eine Rolle?
Aber noch bevor sie erstickte, geschah, was Dojadoja vorausgesagt hatte: Die Gabe setzte ein. Sesewja schloss die Augen und spürte, wie sie sich veränderte. Die kräftigen Arme wurden schlanker, die Pranken verloren ihre Schwimmhäute. Ihr langer, schuppiger Schwanz verschwand und ebenso formten sich die Hinterflossen um. Die kurzen Segel auf ihrem Rücken trockneten in der Sonne, Sesewjas Herz schlug wild vor Angst.
Dann öffnete sie das Maul, das kein Maul mehr war, und keuchte.
Sand geriet ihr in den Mund. Sie blinzelte in die Welt, die immer noch furchtbar grell und trocken aussah. Ihre Augen wandelten sich nicht, und es waren auch noch Kiemen an ihrem Hals geblieben.
Aber die salzigen Wellen leckten nicht mehr an einem massigen Körper voller Schuppen, sondern über schlanke, weiße Haut. Sesewja richtete sich auf und sah auf zwei verschwommene Hände, die sich in den Sand stützten. Menschenhände, jedenfalls dem Aussehen nach. Sie fand ihren neuen Körper in blaues, dünnes Tuch gehüllt. Immer noch atmete sie übertrieben achtsam. Ein Tiefseedrache besaß Lungen, ja, aber die meiste Zeit atmete er über Kiemen. Jetzt, an Land, war alles fremd, alles furchtbar. Sesewja sah sich um, entdeckte ein kleines Wäldchen, das ihr Schutz bieten könnte.
Sie konnte ihre neuen Beine nicht bewegen. Sie waren schwach wie ihre Hinterflossen gewesen waren, nicht fähig, um Gewicht zu tragen, aber geeignet um ihre Steuerung im Wasser zu unterstützten. Sesewja grub die weichen Hände in den hellen Sand und vermisste ihre rauen Tatzen. Mit Muskeln, die sich erst an ihre gewandelte Form gewöhnen mussten, zog sie sich über Land.
Die Menschenstadt hatte in ihrem scheinbaren Wuchern innegehalten, doch Sesewja wusste, dass sich nur ihr Bewusstsein verschoben hatte. Sie nahm die Welt wieder in Echtzeit wahr, hatte die Meditation, die sie von Dojadoja kannte, beendet.
Als sie vorwärts kroch, spürte sie etwas Kaltes am Bauch. Sie streckte die Hände aus und berührte das kalte Gold, das kleine, leuchtende Ei in einer Tasche, die sie über der Schulter trug.
Vorsichtig umschloss sie es mit den Fingern. Es war groß wie ihr Menschenkopf, ohne den kleinsten Makel geschwungen und so schwer, dass es ganz massiv sein musste. Fraglich, das darin etwas wartete, um als neue Hoffnung der Drachen zu schlüpfen.
Dennoch presste Sesewja das Ei mit den Armen an ihren Leib, wärmte es mit ihrer kalten Haut, die noch nass und voller Salz war. Sie kroch voran, lange Haare von blauer Farbe bedeckten sie wie Algen. An manchen Stellen schimmerte ihre Haut noch wie von Schuppen.
Sie war die letzte Hoffnung der verbliebenen Drachen. Während sie sich durch den Sand zog und die Gabe erfuhr, die ihr zuteil geworden war, nicht sicher, ob diese Fluch oder Segen war, lauschte sie mit spitzen, beweglichen Ohren nach jedem Geräusch. Die Sonne brannte heiß auf ihrer Haut, verbrannte sie, bevor sie sich in den Schatten retten konnte. Das Rot spielte mit dem blau von Kleidung und Haaren. Nur langsam gewöhnten sich ihre trockenen Augen daran, an der Luft zu sehen.
Die Luft war zu trocken. Das Land zu hart und das Leben hier so schwer. Sesewja spürte, wie ihr Tränen kamen, Tränen ohne Gefühle dahinter, die ihren Augen eine Wohltat waren.
Sie rief sich Dojadojas Gedicht in Erinnerung, jedes Wort:
There will be a time when the fire will cry
and gods will rage in the dragon's sky.
The world will tremble, the sea will rise
and a burning storm will vanquish the wise.
From misery four serpents of myth shall come
and shall fight their broken fate all as one.
If they fail, they will die and join the worms,
born to the cold blue of the peak of the storms.
Following the shadows and the fires of hell,
the serpents shall arrive at the land of farewell,
escape from the swallow and from the inerrant hunter
before the dragon's moon will fall in winter.
Unite fire and water, earth and sky,
turn destiny's page, or all hope will die,
'cause if the hunter will reach the final stage,
he shall listen to the crack of a dawning age.
Fieberhaft murmelte sie die Worte vor sich her, wohl wissend, dass es alles war, was ihr geblieben war. Die Prophezeiung des Drachenmondes, die sie führen sollte. Eine Prophezeiung, deren Worte sie nur unvollständig verstand, und deren Sinn ihr gänzlich verborgen war.
Die Verzweiflung war groß, und so rollte Sesewja sich im Schutz einer tiefgrünen Wiese zusammen, saugte den feuchten Tau von den Wurzeln der Blätter und horchte in ihren veränderten Körper, der ihr nie zuvor so fremd gewesen war.