Das Dorf sah im Mondschein beinahe harmlos aus. Die strohgedeckten Hütten schienen von oben her winzig, eine Herde gelblicher Schafe, die sich in dem Tal zusammendrängten, nah am Wasser des klaren Baches.
Maki ahnte, dass der Eindruck täuschte, als sie Skoko von der Kuppe des Hügels herab folgte. Die Bäume blieben hinter ihnen zurück, und damit der letzte Schutz. Auf dem offenen Gelände wuchsen die Häuser groß und bedrohlich in den Himmel.
Die drei Erddrachen, Maki, Skoko und Tati, krochen auf das Dorf zu. Die Zwillinge, Meri und Dian warteten nicht weit entfernt in einer Grube.
Die Verzweiflung trieb sie. Seit Tagen hatten sie nichts als Matsch und Schlamm gegessen. Die Erddrachen benötigten festen Stein, Stein voller Nährstoffe. Lange schon war die Schwäche in ihre Glieder gekrochen. Ihre untrüglichen Nasen hatten sie zu diesem Dorf getrieben, denn nah am Fluss gab es Lehm. Kostbaren, leckeren, mehligen Lehm. Maki spürte, wie ihr das Wasser im Mund zusammen lief. Das Dorf war auf gutem Boden erbaut.
Jetzt mussten sie ihn nur erreichen, ohne von Menschen entdeckt zu werden.
Skoko führte ihre kleine Gruppe in den Schatten der ersten Hütte. Das Gebilde der Menschen war so groß wie Maki, sogar etwas höher. Die jungen Erddrachen lauschten. Mai reckte auch ihre Tastfühler. Die Luft erzitterte von dem Zirpen der Grillen. Sie konnte sogar das Schnarchen der Menschen spüren, ein bedrohliches, unregelmäßiges Brummen.
Maki versuchte, das beunruhigende Geräusch auszublenden.
"Alles still", erklärte Skoko nach einigem Lauschen. Er kroch vorsichtig weiter, die kräftigen Hinterbeine stießen ihn vorwärts, mit den Vorderbeinen ertastete er ihren Weg durch das Gras.
Maki fühlte sich unwohl. Die Holzhütten wirkten tot und starr, stumme Wächter, die jeden ihrer Schritte bewachten, argwöhnisch auf jede falsche Bewegung, unbilligend gegenüber den Eindringlingen. Die Schatten waren lang und tief, eine dunkle Welt, so ganz anders als die geschützte, warme Erde, in die sie gehörten.
Tati hielt sich dicht an Makis Seite. Die beiden Freundinnen gaben einander Sicherheit und Schutz. Schon im Bau hatten sie jede freie Minute miteinander verbracht.
Jetzt gab ihnen nur die Anwesenheit der Anderen genug Mut, um weiter zu kriechen.
Nah am Fluss ließ Skoko sie anhalten. Er drehte den Kopf in jede Richtung, lauschte und reckte die Tastfühler.
"Hier ist Lehm", sagte er überflüssigerweise. Längst hatten Maki und Tati das vertraute Gefühl unter den Tatzen erkannt. "Nehmt, so viel ihr tragen könnt. Esst auch, wenn es nicht anders geht, denn wenn ihr satt seit, müsst ihr nur für die anderen tragen."
Die beiden jungen Drachen nickten. Skoko stellte sich auf einen kleinen Hügel, von dem aus er sie überwachen konnte. Maki senkte den Kopf und vergrub das Gesicht zum ersten Mal seit langer Zeit in Lehm.
Er schmeckte so süß, wie sie ihn kannte, mit einer sauren Note darunter, war weich und feucht, mit wenigen, harten Stückchen darin, fast schon wie eine Creme.
Sie war froh, dass Skoko ihnen erlaubt hatte, zu essen, denn sie hätte sich nicht beherrschen können. Sie schaufelte sich Lehm in den Magen, gierig, als hätte sie nie zuvor in ihrem Leben gegessen. Tati tat es ihr gleich, und eine Weile glich ihr Diebstahl einem Rausch. Sie schmatzten laut, die Welt um sie her war vergessen. Warm und vertraut füllte der Lehm ihre drei Mägen, bis Maki sich schwer und schläfrig fühlte.
"Reißt euch zusammen!", zischte Skoko nach einer Weile von oben.
Maki sah sich um. Sie und Tati hatten zwei tiefe Gruben von der Größe ihrer Körper hinterlassen, wo der Lehm fehlte.
"Denkt an die anderen", warnte Skoko, der selbst eine prankvoll Lehm im breiten Maul hatte. "Sonst wollen die Zwillinge das nächste Mal mitkommen."
Der Hunger war sowieso besiegt. Gemeinsam schaufelten Maki und Tati so viel Lehm wie möglich in ihre Wangentaschen und den Beutel vor dem Bauch. Bald hatten sie noch einmal so viel Lehm eingepackt. Beide rollten auf den Hügel, was ihnen jetzt deutlich schwerer fiel. Skoko tauschte mit ihnen, fraß sich satt und schaufelte dann ebenfalls Lehm.
Eine große, leere Grube war entstanden, als sie sich vorsichtig vom Fluss fort bewegten. Schon füllte Wasser sprudelnd den See, den die Menschen am Morgen vorfinden würden. Maki tat es leid, die Lehmgrube zu verlassen. Es war guter Lehm, die Menschen wussten nicht zu schätzen, worauf sie da lebten. Es wäre guter Boden, um eine neue Kolonie hinein zu fressen.
Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als etwas quietschte. Die drei Erddrachen erstarrten.
Sie befanden sich noch im Dorf, auf einer Straße. Und vor ihnen öffnete sich eine Tür. Dahinter, aus der Schwärze der Hütte, trat ein Mensch.
Sofort rollten sich die drei zusammen, schlangen die Fühler um die Körper und wurden zu drei braunen Hügeln auf der Straße.
Es war der erste Mensch, den Maki sah. Damals, als diese ihr Nest überfallen hatten, hatte sie nur deren Eisenmaschinen gespürt.
Jetzt war sie erstaunt, wie klein dieses Wesen war. Nur halb so hoch wie sie, wenn sie sich in ihrem vollgefressenen Zustand aufrichten würde. Zwei dünne Arme, zwei dünne Beine, ein lächerlich winziger Kopf. Das sollte der Untergang aller Drachen sein? Solch ein zerbrechliches, winziges, seltsames Wesen?
Blind in der Dunkelheit sah der Mensch sie nicht. Er stolperte in die andere Richtung, ungeschickt und hilflos wie ein Küken. Dabei brabbelte er in ihrer seltsamen Sprache vor sich hin. "But I... sssstill lover. Lover. Love... love her." Trotzdem rührten sich die drei nicht, bis selbst die Schritte des Menschen auf dem Boden nicht mehr nachbebten.
"Wie ... klein sie sind", murmelte Tati erschüttert.
"Lasst euch nicht täuschen", wiederholte Skoko, was die Ältesten ihnen immer wieder gesagt hatten. "Im Rudel sind sie sehr gefährlich. Und ihre Maschinen sind furchtbare Jäger."
Sie kroch lautlos durch das Dorf, nun noch angespannter. Sie wollten nicht von einem Rudel von Menschen angegriffen werden. Maki fand zudem die Vorstellung ekelig, einen von ihnen zu beißen oder mit den Hörnern zu pieksen. Was für Blut besaßen diese Menschen eigentlich? Sie hatte gehört, es sollte gelb sein und sehr dickflüssig. Sie schüttelte sich. Igitt!
Maki war mehr als erleichtert, als sie das Dorf hinter sich zurück ließen. Sie krochen de Hügel herauf und hinterließen nur eine auffällige Spur von Lehm hinter sich. Bald tauchten sie in den Schatten der Bäume ein, deren Rascheln ihnen schon beinahe vertraut war.
Die vier anderen kamen ihnen aufgeregt entgegen.
"Habt ihr was gefunden?", fragte Dian. "Und habt ihr Menschen gesehen? Sind sie wirklich so schrecklich?"
"Wir haben einen gesehen", erzählte Maki und schaufelte derweil den Lehm aus ihrem Bauchsack. Didai und Sakai stürzten sich gierig darauf.
"Danke -", sagte Didai.
"- Maki", mampfte Sakai.
"Einen Menschen?", Dian hatte den Hunger vergessen, und so verschlang Meri das, was Skoko vor sie kippte, während Tatis Haufen nicht angerührt wurde. "Habt ihr ihn getötet?", fragte Dian sie aus und hüpfte ein wenig herum. Die drei, die zurückgeblieben waren, waren nur drei Meter hoch. Mit jedem Bissen wuchsen sie wieder ein Stück in die Höhe. Selbst Dians Hunger meldete sich, während Tati ihm ihre kurze Begegnung mit dem Menschen wieder und wieder vorkauen musste.
Über die Köpfe der jüngeren hinweg grinste Skoko Maki zu. Ja, ihr riskanter Ausflug war ein voller Erfolg gewesen! Maki fühlte sich glücklich. Das Futter würde für eine ganze Weile reichen, bis sie neuen Lehm bräuchten. Bis dahin hatten sie vielleicht die nächste Kolonie erreicht.
Wenn es noch eine andere Kolonie gab. Aber Maki zweifelte nicht daran, nicht, seitdem sie die Menschen wirklich gesehen hatte. Die konnten nie im Leben alle Drachen ausrotten.