An diesem Tag war das Wasser ruhig. Sonnenlicht durchflutete die Meeresoberfläche. Zwischen der Luft und der düsteren Tiefsee glitt die Schule voran. Die jungen Kälber der Wasserdrachen huschten um den massigen Leib der Brutmutter, spielten Fangen zwischen ihren langen Seitenflossen oder stupsten gegen ihr Maul in der Hoffnung auf Futter.
Kaikaja ließ sich von den Küken und Jungdrachen nicht aus der Ruhe bringen. Ihre Schuppen hatten die Farbe der Lichtspieles um sie her angenommen, ein helles, von weißen Linien durchzogenes Blau.. Viele der Jungdrachen dagegen schillerten in aufgeregtem Lila oder tiefem Blauschwarz. Kaikaja brummte, ein tiefer Ton, der die Welt unter Wasser erzittern ließ.
Die See war von Tönen erfüllt. Das Keckern und Fiepen der Küken würde weithin zu hören sein. Doch auch Kaikaja konnte viel hören. Tief unter sich vernahm sie das Fauchen von Riffdrachen. Das Zischeln von Schwarmdrachen wäre eine verlockende Einladung zur Jagd, wenn Kaikajas Aufgabe nicht der Schutz der Küken und Jungdrachen wäre. Ein paar Seedrachen befanden sich ganz in der Nähe. Kaikaja lauschte dem Klatschen, das entstand, wenn die kleineren Verwandten über die Wellen sprangen und dann zurück ins Wasser tauchten. Doch die Seedrachen mussten die Geräusche der kleinen Schule vernommen haben. Sie würden sich niemals in die Nähe einer Schule von Tiefseedrachen wagen.
Kaikaja hielt in ihren ruhigen Schwimmbewegungen inne, als sie ein neues Geräusch hörte. Dieses seltsame Stampfen klang laut. Kaikaja hörte auf, die Seitenflossen und die Vorderflipper zu bewegen und verharrte regungslos, während sie lauschte. Schon begann sie, in die Tiefsee zu sinken, die dunkel auf sie wartete. Doch waren diese dunklen Abgründe noch kein Ort für die Küken.
Wieder erklang das Stampfen, laut wie der Ruf eines Strömungsdrachen, doch schneller als irgendein Geräusch, das die trägen Giganten verursachen konnten. Konnten das Leviathane sein? Doch was sollten sie so nah an der Oberfläche tun?
Kaikaja stieß drei schnelle, klickende Warnrufe aus. Sofort huschten die kleinen Drachen der Schule zu ihr.
Die Küken hielten sich dicht an ihren Flanken, kauerten sich auf ihren Rücken zwischen den beiden kurzen Finnen oder verbargen sich sogar im Schatten ihres Kragens. Die größeren Jungdrachen strichen an ihrer Seite entlang, ein ständiges Kitzeln und Streicheln, wie die Bewegung des Wassers.
Die Schuppen der Tiefseedrachin nahmen die hellen Farben und das Lichtspiel des Wassers auf, bis sie beinahe unsichtbar war. Kaikaja durchkämmte das Wasser mit ihren Vorderbeinen, die in breiten Pfoten mit vier Krallen endeten, kräftigen Fingern mit dichten Schwimmhäuten dazwischen.
Das Stampfen rollte jetzt näher, mit einer plötzlichen Geschwindigkeit. Kaikaja erkannte, dass das Geräusch nicht aus dem Meer stammte – es kam von der Oberfläche.
Sie ließ sich sinken. Der Wasserdruck um sie her nahm zu. Kalt strich das Wasser der Tiefsee über ihre Schuppen, die sich dunkler färbten. Die Tiefsee, Kaikajas Heimat. Doch in der Dunkelheit und Last der Tiefe konnten die Küken nicht lange überleben. Die ersten jammerten leise über die Kälte und drückten sich tiefer zwischen den langgestreckten Rückensegel von Kaikaja.
Sie zischelte unschlüssig und schmeckte das Wasser mit ihrer gespaltenen Zunge. Sie nahm Holz wahr. Unschlüssig trieb sie zwischen der Tiefe und dem warmen Reich unter der Oberfläche, als auch schon die Ursache des Lärms in Sicht kam.
Ein Schiff der Menschen. Der Holzbug schnitt durch die Wellen und störte das Wasser auf. Kaikaja trieb völlig regungslos in der See, sank langsam, und starrte zu dem Bug auf. Das Holzding war um ein Weniges länger als Kaikaja, und sehr viel breiter als die schlanke Tiefseedrachin, die unruhig die Kiemen bewegte. Sie müsste nur warten, bis das Schiff vorbei war, dachte sie und behielt das Menschending in den Augen.
Doch das Schiff wurde langsamer, als es über ihnen war. Kaikaja konnte nicht viel sehen, doch offenbar faltete dieses Objekt vom Land seine weißen Flügel ein. Unruhig schoben sich die Jungdrachen übereinander. Kaikaja schlug leicht mit der Fluke, um nicht zu tief zu sinken.
Warum wartete das Schiff? Roch es sie?
Plötzlich schossen Stacheln in das Meer. Eine weiße Spur folgte den Splittern von der Oberfläche in das Wasser hinein. Kaikaja machte einen Schlag mit der Fluke und schoss vorwärts, doch sie hatte bereits zu lange gewartet. Stacheln bissen durch ihre Schuppen, in ihre Finnen und die Fluke, kratzen über die Kiemen an ihrem Hals und über ihre Flanken.
An den Stacheln hingen Seile. Kaikaja warf sich hin und her und schnappte nach den Fesseln, aber es waren unzählige Seile. Die Haken in den Stacheln rissen ihre Schuppen auf und ihr Blut wurde zu Wolken in der See.
Kaikaja tobte. Sie brüllte und fauchte. Die Küken und Jungdrachen flohen in Panik in alle Richtungen, manche blieben auch bei ihr, andere waren schon durchbohrt. Seile waren überall, bald auch um Kaikajas Vorderbeine und um ihre Fluke. Das Schiff über ihr stampfte. Die Seile banden sie an das Holz aus dem fernen Reich über der Oberfläche. Die Schmerzen machten sie rasend. Ihre Schuppen schillerten in bunten Warnfarben, lila und rosa und rot. Wieder schossen Stacheln auf sie zu. Unzählige Stöße drangen in ihren Rücken ein, jetzt, da sie nicht mehr fliehen konnte. Die Schnüre zogen sich um sie, enger und enger, je mehr sie zappelte. Um sie her trieben tote Küken zur Oberfläche, zusammengerollt, von den Stacheln zerfetzt oder von ihrem Todeskampf erschlagen.
Mit einem Ruck riss Kaikaja weiter. Doch nicht die Haken gaben nach, sondern ihr Fleisch. Sie brüllte, als ihre Seitenflosse abriss. Für einen Moment ließ der Druck nach, doch schon schoss man wieder auf sie. Die Seile wurden immer kürzer, die verhasste Oberfläche kam immer näher. Mit einem letzten Aufbäumen warf Kaikaja sich herum, brüllte laut und stieß mit dem dreifach gehörten Kopf gegen das Schiff. Gift spritzte aus dem Horn an ihrer Stirn, als sie den Bug traf und durchschlug. Mit den gekrümmten Hörnern riss sie das Holz auf und hörte den Schrei des Schiffes, als Wasser in seinen Bauch drang.
Eng an die Trümmer gefesselt wand Kaikaja sich. Das Boot sank, sein Gewicht fiel auf ihren Rücken. Splitter durchstießen die empfindlichen Rückensegel.
Sie schrie vor Schmerz, als das fremde Gewicht sie in die Tiefe zog. Eine Wolke aus Blut blieb zurück, durchtränkt von schwarzen Trümmern, mit winzigen Gestalten darin, die sich gegen die tobende See wehrten.
Und die Küken folgten Kaikaja, ihrer Brutmutter. Sie rief ihnen eine Warnung zu, wollte ihnen befehlen, an der Oberfläche zu bleiben. Doch ohne eine Brutmutter waren die Jungdrachen nur Beute. Also folgten sie ihr, in die Kälte und Stille der Tiefsee, die sie erst als ausgereifte Drachen erobern sollten. Kaikaja wurde das Herz schwer. Die Küken würden erfrieren und verhungern!
Doch sie konnte sich nicht befreien. Hilflos sank sie ihrem Tod entgegen, ohne Kraft.
Nur ein einziger Jungdrache, ein kleines Weibchen, blieb an der Oberfläche zurück, schutzlos im weiten Meer, doch zu klug, um in seiner eigentlichen Heimat zu sterben. Kaikaja hoffte, dass das Jungtier nicht gefressen werden würde. Sesewja war ihr Name, erinnerte sie sich. Ein pfiffiges Kind. Vielleicht hatte sie eine Chance, zu überleben.
Dann nahm die Dunkelheit Kaikaja auf.