Die ersten Sonnenstrahlen ruhten auf seinem Gesicht. Langsam öffnete er die Augen und blinzelte. Es dauerte einen Moment bis er begriff, wo er war. Gerade noch rechtzeitig, bevor er dem Druck nachgegeben hätte, um sein Bett in militärischer Genauigkeit zum Appell fertig zu machen. Leise lachte er vor sich hin. Dafür gab es nun keine Notwendigkeit mehr.
Er schaute auf den Wecker. Es war 7:00 Uhr. Langsam stand er auf und ging zum Schrank. Einige seiner alten Hosen und Hemden hingen hier. Er wählte ein weißes Hemd und eine schwarze Hose. Nachdem er den Gürtel auf das letzte Loch geschnallt hatte, betrachtete er sich im Spiegel. Ein abgemagerter Mann schaute ihm aus zurückgelegenen Augenpartien entgegen. Das Hemd und die Hose saßen bollerig wie die Kleidung eines anderen. Er lächelte. "Das bin ich." dachte er und winkte seinem Spiegelbild zu.
"Hallo!" sagte er laut und lachte kurz.
Dann schaute er über seine Schulter. Aber schon im selben Moment fragte er sich, warum er sich eigentlich umgeschaut hatte. Schließlich befand er sich allein in seinem alten Kinderzimmer in der ersten Etage, das seit Jahren leer stand. Seine Mutter benutzte es gelegentlich zum Bügeln. "Gut, dass mich hier niemand sehen oder hören kann.", dachte er.
Kopfschüttelnd ging er die Treppe herunter, durchquerte die Diele und öffnete die Tür zur Küche. Erna stand bereits hinter dem Herd und kochte Rührei.
"Guten Morgen, Karl! Hast du gut geschlafen?"
Jeden Morgen dieselbe Frage und der gleiche abwartende Blick, als wenn er seinen Verstand eines schönen Morgens verlieren und mit lautem Geschrei aus dem nächsten Fenster springen würde. Karl wusste nicht welche Reaktion Erna eigentlich erwartete. Aber seine Schwägerin hatte diesen Blick, seitdem er zurückgekehrt war, nicht mehr abgelegt. Er konnte sich kaum noch daran erinnern, wie sie ihn vor dem Krieg angesehen hatte. Vielleicht war sie schon immer die Frau mit dem besorgten Blick gewesen. Er wusste es nicht.
"Guten Morgen, Erna! Danke, ich habe sehr gut geschlafen. Und du?"
"Ich kann nicht klagen, möchtest du etwas essen?" Noch bevor er auf diese Frage reagieren konnte, ergänzte sie: "Wilhelm hat gestern mit Bollmanns gesprochen. Du kannst heute mitgehen." Etwas beschämt fügte sie hinzu, "Du solltest dir aber etwas anderes anziehen." Karl schaute an sich herunter. Auch ihm war klar, dass er mit einem weißen Hemd und einer schwarzen Hose nicht in Bollmanns Tischlerei vorstellig werden konnte. Jedenfalls nicht, wenn er sich für eine Beschäftigung empfehlen wollte. "Danke Erna, wenn du mir auch ein Rührei machst, ziehe ich mich gerade um."
Als er Bollmanns Tischlerei betrat, stieg ihm der bekannte Geruch von frischem Holz sofort in die Nase. Die Halle war gefüllt von lauten Geräuschen. Hier wurde gearbeitet. Holzspähen flogen und Männer schwitzten.
"Karl!"
Der Chef persönlich kam ihm mit ausgestreckter Hand entgegen. Übertrieben überschwenglich lächelte ihn der alte Bollmann an. Karl konnte es kaum glauben. Der Alte schaute ihn doch tatsächlich mitleidig an. Er wusste, wie er auf andere wirkte. Zwar war seine Statur immer noch hochgeschossen und breitschultrig, doch wog er nun 20 Kilo weniger, als es gut für ihn war. Er greulte sich davor von irgendjemanden mit mitleidigem Blick betrachtet zu werden.
Karl schüttelte dem Alten mit entschlossem Blick fest die Hand. Bloß keine Schwäche zeigen. "Chef!" sagte er kurz angebunden. "Mensch Karl! Wie lange es schon wieder her ist! Bestimmt ..." aber hier unterbrach sich der alte Bollmann schnell selbst. Stattdessen fuhr er fort: "Wie du siehst, haben wir reichlich zu tun." er lachte. Karl lächelte höflich. "Von daher freuen wir uns natürlich über jede Hilfe, dir wir bekommen können. Und eine Fachkraft, wie du es bist, ist natürlich immer gern gesehen." Er schüttelte Karl erneut die Hände. "Was sagst du? Willst du gleich anfangen?" Natürlich wollte Karl und nickte.