Thorstein hatte Jorunns Vorwürfe mit ein paar allgemeinen Sprüchen abgewiegelt. Und obwohl die Völva ihm das nicht hatte durchgehen lassen wollen, war es Ragnar, der das Thema beendete. Sein Freund hatte die Sklavin ausgepeitscht, war vielleicht auch ein wenig zu hart dabei vorgegangen, aber mehr müsse man darüber nun wirklich nicht diskutieren. Im Stillen wusste der Jarl, dass sich sein Steuermann auch ohne die Vorwürfe der Heilerin genug Sorgen machte. Immer wieder war sein Blick unruhig zum Eingang seines Hauses geschweift, während sie sich über die Pläne Horiks unterhalten hatten. Ja, der sonst so besonnene Krieger musste sich manchen Satz seines Jarls wiederholen lassen, weil er zu sehr in Gedanken versunken war, um wirklich zuzuhören. Thorstein würde schon von selber darauf kommen, was ihm die kleine Rúna bedeutete.
Brummend hatte schließlich auch Jorunn hingenommen, dass den Männern der drohende Krieg wichtiger schien als das Überleben des verletzten Mädchens. Und doch hatte Thorstein sie auf seinem eigenen Lager zur Ruhe gelegt … Die Völva machte sich ihre eigenen Gedanken. Doch anders als Ragnar war sie sich über die Beweggründe des alleinstehenden Kriegers nicht so sicher. Er mochte durchaus nur aufgrund seines schlechten Gewissens nach ihr geschickt haben. Dass die Sklavin ihm etwas bedeutete, ließ er sich zumindest nicht anmerken.
Jorunn aber hatte die freundliche junge Frau gefallen. Selbst wenn die Raben nicht zu ihr gesprochen hätten, wäre sie für Rúna eingetreten. Doch mit dem Wissen, in ihr wahrscheinlich eine Nachfolgerin gefunden zu haben, entschloss sich die Völva, noch mehr zu tun. Fürsorglich wachte sie in der Nacht über Rúnas Befinden und als sich die Hofbewohner am nächsten Morgen samt Ragnar und Lathgertha beim Morgenmahl einfanden, ergriff sie das Wort und forderte beim Jarl jenes Versprechen ein, dass er ihr vor einem Mond gegeben hatte.
"So, wie Thorstein sie zugerichtet hat, wird Rúna eh in den nächsten zwei Monden keine schweren Hofarbeiten verrichten können", argumentierte sie. "Da kann sie auch gleich bei mir bleiben und ihre Zeit für das kommende Jahr ableisten."
Ragnar musterte die Seherin mit zusammengekniffenen Augen. Manchmal waren ihm die Gedankengänge der Alten unerklärlich. Warum sollte sie sich die aufwändige Pflege der Verletzten zumuten, wenn diese auch auf dem Moorseehof versorgt werden könnte? Warum eine Sklavin durchfüttern, die so wenig Arbeit verrichten konnte, wenn sie es gar nicht musste? Andererseits hatte auch dem Jarl die aufgeweckte junge Frau gefallen und obwohl er Thorsteins unbeherrschtes Handeln mit einer Handbewegung abgetan hatte - immerhin waren sie beide Krieger - blieb auch bei Ragnar ein wenig Enttäuschung und Bitterkeit zurück, dass der Freund sein Geschenk so niedrig erachtet hatte. Und er konnte der Seherin schlecht widersprechen, war sie doch in vielen Dingen eine enge Beraterin und den Göttern und ihren Wünschen weit näher als er.
Also entschied der Jarl, dass Jorunn das verletzte Mädchen mit nach Straumfjorður nehmen würde. Sobald Rúna soweit genesen war, dass sie ihre Ausbildung zur Heilkundigen aufnehmen konnte, würden auch die zwei Monde beginnen, die sich Jorunn pro Jahr auserbeten hatte. Außerdem, so legte der Jarl fest, würden Jorunn und die Sklavin bei Lathgertha und ihm leben. Eigentlich nahm die Völva nur im tiefen Winter in seinem Langhaus Quartier. Diese Jahr sollte das anders sein.Er begründete seine Entscheidung damit, dass er die Völva nicht unnötig belasten wolle. In Wirklichkeit war auch Ragnar gespannt, das von allen begehrte Mädchen näher kennenzulernen. Und so kam es, dass Rúna den Moorseehof viel schneller wieder verließ als gedacht.
Drei Tage nach dem entscheidenden Gespräch gab die Völva bekannt, dass die Verletzte nun stark genug wäre, um die Reise nach Straumfjorður anzutreten. Um Rúna nicht den Strapazen eines langen Rittes auszusetzen, war Thorstein bereit gewesen, seinen Karren zur Verfügung zu stellen, auf dem auch jene Gaben transportiert werden würden, die Jorunn als Preis für ihre heilerische Arbeit gefordert hatte: Ein halbes Schock Rüben, einen Sack Brotgetreide und ein Dutzend Eier.
Noch immer war sich die Völva über die Beweggründe des Steuermanns unsicher. Ja, er schien sich um die Gesundheit seiner Sklavin Gedanken zu machen und von Ferne tat er einiges, um ihr das Leid ein wenig zu erleichtern. Dennoch! In den vergangenen Tagen war der Krieger kein einziges Mal ans Lager der von ihm verletzten Frau getreten. Noch am Abend ihrer Ankunft hatte er sich nach dem letzten Mahl in die Scheune zurückgezogen und dort vermutlich im Stroh geschlafen. Nicht, dass ihm das geschadet hätte, aber Jorunn wäre es lieber gewesen, er hätte sich neben Rúna zur Ruhe gelegt.
Auch heute, am Tag ihrer Abreise, schickte Thorstein nur einen der Knechte, um Rúna zu dem bereitstehenden Karren zu führen. Er selbst verabschiedete sich zwar von seinen Freunden, doch für die junge Frau, die sich resigniert in eine der Decken auf der harten Ladefläche gehüllt hatte, fand er nur ein kurzes Nicken. Der Heilerin entging das entsetzte Flackern in Rúnas Augen bei diesem Abschied nicht, noch übersah sie, dass sich das Mädchen danach noch tiefer in die fadenscheinige Wolldecke verkroch und sich abwandte.
So begannen sie ihre Fahrt still und nachdenklich. Ragnar ritt voraus, da er sich nicht der geringen Geschwindigkeit des Karrens anpassen wollte. Nur Lathgertha und Jorunn begleiteten auf ihren Pferden das dahinzuckelnde Ochsengespann und unterhielten sich halblaut über die Pläne des Jarls für den bevorstehenden Herbst.
"Ich hätte nicht gedacht, dass Ragnar noch einmal losfährt, und sei es auch nur bis Haithabu", ließ die Frau des Anführers ihre Freundin wissen. "Es ist schon so spät im Jahr und wenn nicht Horiks Bote gekommen wäre, hätten die Männer in ein oder zwei Wochen auch die Handelsschiffe winterfest gemacht."
Jorunn runzelte die Stirn bei diesen Überlegungen. Nachdenklich warf sie einen Blick auf die feinen Federwölkchen, die dem herbstlichen Himmel ein Muster aus Blau und Weiß gaben. "Es ist spät, Lathgertha, wohl wahr. Doch der Winter wird in diesem Jahr noch auf sich warten lassen. Sie werden den Rückweg gut meistern, wenn sie nicht zu viel Zeit beim Handeln verstreichen lassen. Und wer weiß? Wenn sie jetzt erst zum Markt kommen, wird ihnen ihre Ware vielleicht besonders gern abgenommen. Jeder will sich für die kalte Jahreszeit noch vorbereiten, sei es mit Nahrung oder einer warmen Frau auf seinem Lager." Jorunn lachte auf. "Und Ragnar will ein paar seiner vielen unnützen Esserinnen loswerden, oder nicht?"
Lathgertha nickte. "Es sind wirklich ein paar mehr, als wir gebrauchen können", stimmte sie der Heilerin zu. "Auch, wenn es mir lieber wäre, sie könnten bleiben und beim Weben der Segel mithelfen. Wenn wir nach dem kommenden Sommer neue Boote bauen müssen, werden wir auch viel Tuch brauchen."
Nachdenklich schwiegen die beiden Frauen und nun entging ihnen das leise Weinen, das aus dem Karren drang, nicht mehr. Sie wechselten einen überraschten Blick, dann ließ die Frau des Jarls halten. Hatte Rúna so starke Schmerzen?
Doch es waren nicht ihre Wunden, die die junge Frau plagten. Obwohl die beiden Reiterinnen leise gesprochen hatten, war jedes Wort bis an ihr Lager gedrungen und Rúna war sich nun sicher, dass auch sie eine der überzähligen Esserinnen war, die nach Haithabu gebracht werden würden. So, wie es ihr gerade ging, würde sie diese Überfahrt vielleicht nicht einmal überleben. Und falls doch, mochte es gut sein, dass man sie an einen Händler gab, der sie weit in den Süden brachte. Ihre nordische Heimat, ihre Sprache, all das ihr Vertraute wären dann unerreichbar fern.
Sie blieb still auf dem Karren sitzen, als dieser hielt und Jorunn eine Pause verkündete. Erst als die Heilerin sie aufforderte abzusteigen und sich zu ihnen zu setzen, kam sie dem Befehl nach und kroch langsam von dem Gefährt. Lathgertha half ihr, die wenigen Meter bis zu dem kleinen Bach neben dem Weg zu gehen. Dort ließen sich die drei Frauen für eine kurze Erfrischung nieder. Der Knecht brachte einen Schlauch mit dünnem Wein und ein kleines Brot, das vom Moorseehof stammte und die Frau des Jarl teilte die Mahlzeit gerecht unter allen vier Rastenden auf.
Inzwischen hatte sie ein wenig über Rúnas Kummer nachgedacht und war sich fast sicher, dass diese ihrem Gespräch mit der Völva gefolgt war. Vielleicht, wenn sie die Kleine weniger gern gemocht hätte, wäre es ihr egal gewesen. Doch nach allem, was der jungen Frau widerfahren war, gab es keinen Grund, sie über ihre Zukunft im Unklaren zu lassen. Schon, dass Thorstein nicht mit ihr über das Kommende gesprochen hatte, missfiel Lathgertha sehr. Sah er denn nicht, wie viel mehr in Rúna steckte als in anderen gefangenen Frauen?
Sie zwinkerte Jorunn zu, deren Gedanken wohl ebenfalls ein wenig abgeschweift waren. "Ich freue mich, dass du wieder bei uns im Langhaus leben wirst", ließ sie die Alte nun wissen. "Deine Geschichten über die Götter und deren Abenteuer haben mir schon die ganzen letzten Monate gefehlt." Die Völva lachte leise. "Dann sollte ich mir schnell Gedanken machen, womit ich euch unterhalten kann", stimmte sie zu. "Ein wenig Gesellschaft wird mir bestimmt auch gut tun. Und ein großes warmes Feuer ist nie zu verachten."
"Kannst du eigentlich spinnen, Mädchen?", wandte sie sich dann an Rúna, die diese Frage mit einem stummen Nicken beantwortete. "Und weben vermutlich auch?", schlussfolgerte Lathgertha aus der stillen Zustimmung. "Auch das", flüsterte Rúna.
"Nun, dann werden uns Jorunns Erzählungen gut unterhalten, während wir an den neuen Segeln arbeiten", gab die Schildmaid zufrieden bekannt. "Es ist immer viel schöner, etwas gemeinsam bei einer Geschichte zu tun, als allein vor dem Webstuhl zu sitzen." Sie lachte leise. "Wobei ich schon lieber webe als spinne", gab sie zu und sah dann freundlich zu Rúna, die ihr ungläubig zugehört hatte. "Vielleicht magst du ja lieber spinnen als ich?"
Die beiden Frauen sahen deutlich, wie die Sklavin trocken schluckte und einen Moment lang nach Worten suchte. "Aber ich dachte … Haithabu?"
Und obwohl die Worte ihre Frage eigentlich nur ungenau ausdrückten, wussten beide, welche Ängste Rúna quälten. Lächelnd schüttelte Lathgertha den Kopf. "Du wirst nicht mit nach Süden segeln, Rúna", beruhigte sie die verschüchterte junge Frau. "Nicht in diesem Herbst und auch nicht später. Ragnar hat dir ein Versprechen gegeben und daran werden wir uns halten. Diesen Herbst wirst du uns dienen, indem du spinnst und webst und gleichzeitig möchte dich Jorunn in der Kräuterkunde unterweisen, damit du ihr in den kommenden Jahren zur Hand gehen kannst. Ob du im Winter zurück auf den Moorseehof gehen sollst, wird der Jarl entscheiden. Doch verkaufen will er dich ganz sicher nicht. Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen, so lange du dir nichts zu Schulden kommen lässt!"
Eine Weile ließ Rúna die Worte auf sich einwirken. Das, was Ragnars Gefährtin ihr da versprach, war etwas ganz anderes, als sie erwartet hatte. Doch konnte sie diesen Versprechungen trauen? Und wussten die beiden Frauen überhaupt, was sie sich zu Schulden kommen lassen hatte? Rúna wollte niemanden betrügen. Im Stillen glaubte sie noch immer, dass Thorstein sie irgendwie doch zu Recht geschlagen hatte. Sie hatte geschlafen! Daran gab es einen Zweifel. Sie war ihren Aufgaben an jenem Morgen nicht nachgekommen. In leisen Worten und mit gesenktem Kopf gab sie vor Lathgertha ihr Vergehen zu. Es nutzte doch nichts, wenn sie jetzt schwieg und später doch noch alles ans Licht kam. Thorstein war Ragnars Freund. Sicher hatte er sich über sie und ihre Faulheit bei ihm beschwert. Anders ließ es sich nicht erklären, dass sie nun zurück nach Straumfjorður musste.
Jorunns Blick wurde eisig bei Rúnas Worten und auch die Miene Lathgerthas war ernst, als sie davon sprach, an jenem Morgen verschlafen zu haben. Als sie schwieg, kramte die Völva umständlich in einer ihrer großen Rocktaschen und zog dann die Hand daraus zurück, um sie Rúna geöffnet entgegenzustrecken. Zwei elfenbeinschimmernde Wolfszähne lagen auf der Handfläche.
"Wir wissen, was in jener Nacht und dem Morgen darauf geschehen ist", stellte sie grimmig fest. "Und auch Thorstein weiß es ganz genau! Du hast dir gar nichts zu Schulden kommen lassen, Mädchen. Im Gegenteil! Es gibt sicher wenige Frauen, die es mit zwei Wölfen aufgenommen hätten, von Sklavinnen ganz zu schweigen."
Lathgertha nickte. "Wir wären schön dumm, wenn wir dich wegschicken würden. Für Frauen mit Mut gibt es immer einen Platz in Straumfjorður!"