Man möchte meinen, dass noch einmal alles gut gegangen war, aber es sollte noch dicker kommen... Zwar waren wir für den Rest der Woche aus dem Schneider und ich hatte eigentlich einen schönen Sieg heim gefahren, aber die Vortragsreihe in München hing wie ein Damoklesschwert über mir und ich hatte ein ungutes Gefühl. Ich kann es nicht beschreiben, aber irgendwie wartete etwas in mir auf den ganz großen Knall. Es gibt solche Momente von Gefühlen, von denen man nie erfährt, wie man drauf kam, aber sie bewahrheiten sich oft und wenn, dann immer dann, wenn man sie gar nicht brauchen kann!
Der restliche Tag aber verlief ruhig. Gegen fünfzehn Uhr kam ein Rettungswagen angefahren, dem Renate Montar entstieg, die von den Sanitätern zur Anmeldung gebracht wurde. Dort wies sie sich aus und zeigte neuerlich eine Überweisung. Selina hatte das Personal angewiesen, so zu tun, als sei nie etwas vorgefallen, falls sie einen zweiten Versuch machen würde, zu uns in Behandlung zu kommen. Sie sollte höflich aber bestimmt über die Hausregeln aufgeklärt werden und erhielt neuerlich die Möglichkeit, sich hier behandeln zu lassen. Sie hatte wohl im Lokalfernsehen meine Stellungnahme gesehen und wusste, dass sie sich keine Frechheiten mehr zu erlauben brauchte. In Anbetracht der Tatsache, dass sie an Krebs erkrankt war, war es für sie die einzige Chance! Sie war praktisch mittellos und hatte meiner Stellungnahme durchaus entnehmen können, dass ich mich sehr wohl daran erinnerte, dass sie meine Sachen eiskalt verkauft hatte damals und dass ich der Ansicht war, ihr nicht das Geringste zu schulden. Man brachte sie, wie angeordnet zu Selina.
Selina forderte sie auf, sich zu setzen, und sah sich die Überweisungspapiere an. "Frau Montar, mein Name ist Selina Montar-Bücker, ich bin mit ihrem Sohn verheiratet und leite diese Klinik gemeinsam mit ihm sehr erfolgreich. Ich möchte vorrausschicken, dass ich ihren Sohn sehr liebe, und nicht zulassen werde, dass sie ihn auch nur noch einmal kränken. Sie haben dem Image unserer Stiftung großen Schaden zugefügt, wozu überhaupt kein Grund bestand, weil Michael von Anfang an zugestimmt hatte, sie hier zu behandeln. Dennoch sind wir bereit, es noch einmal mit ihnen zu versuchen, wenn sie sich kooperativ zeigen. Haben sie alles verstanden Frau Montar?" - "Ja!" - "Dann unterschreiben sie bitte diese Formulare hier!" - "Entschuldigung, ich hab keine Brille mehr. Ich kann es nicht lesen!" - "Möchten sie, dass ich es ihnen vorlese, oder ihre Brille holen lasse?" - "Wenn sie meine Schwiegertochter sind, kann ich ihnen wohl auch so vertrauen. Ich habe keine Brille mehr, weil mir das Geld dazu fehlt." Renate Montar wirkte kleinlaut und geläutert. Selina fragte: "Sind sie kurz- oder weitsichtig?" - "Weitsichtig. Zwei komma fünf." Selina nahm das Telefon zur Hand. "Ja, Ines! Kannst du bitte im Kiosk nachsehen, ob die Lesebrillen da haben und eine besorgen mit zwei-fünf? Danke dir!" Kurz darauf kam Ines ins Zimmer. Sie stutzte, als sie Frau Montar sah, fing sich aber sofort und reichte ihr die Brille, die sie eben besorgt hatte. "Danke! Ich schäme mich so! Es tut mir furchtbar leid Schwester! Ich habe alles falsch gemacht! Mein ganzes Leben lang habe ich alles falsch gemacht! Ich war eben noch ein dummes Mädchen, als ich mit Michael schwanger wurde...! Ich werde mich in Zukunft benehmen Schwester, bitte verzeihen sie mir meine Unverschämtheiten. Ich war zu stolz, zuzugeben, dass ich mir keine Brille leisten kann und habe mir gedacht, als Mutter von Michael muss ich das nicht unterschreiben." schluchzte sie. "Das hätten sie einfacher haben können! Die knapp vier Euro hätt ich ihnen gerne spendiert, wenn sich das ganze Medientheater dadurch vermeiden hätte lassen." Ines tauschte mit Selina einen resignierten Blick und ging aus dem Zimmer. "Jetzt kann ich alles lesen." Sie unterschrieb alle Formalitäten vorbehaltlos und verhielt sich absolut kooperativ. "Frau Doktor?" - "Bitte?" - "Können sie Michael sagen, dass ich hier bin?" - "Selbstverständlich werde ich es ihm sagen, Frau Montar, aber ich kann ihnen nicht versprechen, dass er zu ihnen kommt. Nach all dem, was wir diese Woche durchgemacht haben, meinte er, er will sie gar nicht mehr sehn!" Renate Montar schluchzte. "Wie konnte ich nur so dumm sein?" - "Ich werde versuchen, ihn umzustimmen. Mir wäre es auch lieber, wenn sich ihr Verhältnis zumindest ein Wenig bessern würde." Selina war sich nicht ganz sicher, wie echt Renates Tränen wohl waren, aber nachdem sie sich kooperativ verhielt, wollte sie das zumindest an Michael berichten. "Nun gut, Frau Montar, Schwester Ines wird sie auf das Zimmer bringen lassen. Es wird vermutlich heute schon die ersten Untersuchungen geben. Ich hoffe, das wir ihnen helfen können!" - "Vielen Dank, Frau Doktor!"
Eine seltsame Person war das. Das gefiel ihr. Eine Schwiegertochter die ein Doktor war. Wo Michael seinen brillanten Verstand her hatte, war bei dem kleinen Horizont dieser Frau ein Rätsel.