Der Abend war lau und die Stimmung im Burghof ausgelassen. Es wurde nach Lust und Laune getanzt, gelacht und geschmaust. Auch auf dem Hangpfad zur Stadt herrschte reges Treiben. Viele Krämer und Handwerker wollten sich die Möglichkeit, an dem fröhlichen Gelage teilzuhaben, nicht entgehen lassen, denn schon morgen wurde gewöhnliches Fußvolk wie sie nicht mehr ohne Weiteres zur Festung und deren Feierlichkeiten eingelassen. Heute Abend jedoch war jedes Gesicht im Burghof willkommen. Waren seine Zähne auch faul, die Nase noch so schief und der Besitzer desselben ein stinkender Geselle.
Der Vizegeneral des dritten Heeres hatte sich bereits vor einiger Zeit vom feiernden Volk getrennt und suchte auf einem Spaziergang durch den die Serçeburg umgebenden Arboloro ein wenig Abstand zu all dem Trubel. Ein kleiner, verwilderter Pfad führte ihn auf der Westseite um das Felsmassiv herum, auf dem hoch oben die Festung thronte, die in der Dunkelheit wie ein riesiges, schwarzes Monster mit unzähligen glutglühenden Augen wirkte. Mit seinem jüngeren Bruder im Schlepptau geriet er immer tiefer in den nachtschwarzen Wald hinein und wie gehofft blieb die Lautstärke des Festes im dichten Blätterwerk der Bäume hängen. Eine wohltuende Stille mochte man meinen, doch zu seinem Leidwesen ging Forsos Mundwerk ohne Unterlass. Begeistert berichtete der Blondschopf ihm von seinen unzähligen Abenteuern und sprang um ihn herum wie ein aufgescheuchtes Huhn. Der Ältere ließ den Jüngeren zwar gewähren, doch war er so erschöpft und müde, dass er eigentlich nur seine Ruhe haben wollte. Forso schien dies jedoch nicht zu bemerken und sein Geschichtenfundus endlos zu sein. Gerade eben stellte er mit vollem Körpereinsatz seinen Kampf gegen drei aehranische Söldner nach, wobei Inor wider Willen den Anführer der feindlichen Truppe darstellte. Weswegen sein Freund mit den Männern aneinandergeraten war, hatte nicht mitbekommen und auch dessen Eifer konnte er zu dieser späten Stunde nicht nachvollziehen.
„Nimm es mir nicht übel, Kleiner, aber kannst du bitte einen Moment still sein?“, unterbrach er ihn schlussendlich doch. „Ich …“
Ein warmer Lufthauch fuhr zwischen sie. Abrupt blieb Inor stehen und vergaß, was er sagen wollte. Die Augen zu Schlitzen verengt suchte er ihre Umgebung nach einer möglichen Bedrohung ab und bekam eine leichte Gänsehaut. Ein zweiter Windstoß umhüllte sie mit sengender Luft und erschwerte kurzzeitig das Atmen. Jetzt schien es auch Forso bemerkt zu haben. Instinktiv stellten sie sich Rücken an Rücken und gaben einander Deckung. Wenngleich sie nicht wussten wovor. Stockfinster war es hier am Waldrand und Inors Pupillen hatten sich noch immer nicht ganz angepasst. Die sprichwörtliche Hand vor Augen konnte er zwar erkennen, doch alles, was sich außerhalb eines Radius‘ von zwei Schrittlängen befand, war nicht mehr vom Dunkel des Forstes zu unterscheiden. Überall um sie herum knackte und knirschte es leise im Unterholz und selbst hoch oben in den Baumwipfeln raschelte es unentwegt. Der junge Mann spürte, wie sich der Körper des Blondschopfs in seinem Rücken versteifte. Abermals fegte eine Böe, glühend heiß wie Wüstenwind, über ihre Köpfe hinweg, bevor sie einem Wasserfall gleich auf sie herniederprasselte. Inors Haarspitzen begannen, zu glimmen, und eine böse Vorahnung bemächtigte sich seiner.
„Yo“, seufzte er gleichermaßen genervt und besorgt.
„Was ist mit ihm?“, fragte Forso leise.
„Ich weiß es nicht, aber ich habe so ein seltsames Gefühl“, erwiderte der Ältere argwöhnisch. „Und das verheißt nichts Gutes! Denn üblicherweise habe ich diese Ahnung immer dann, wenn er in Gefahr ist.“
„Aber wieso sollte er in Gefahr sein?“, sinnierte sein Bruder halblaut vor sich hin und hob den nächsten Worten folgend langsam den Blick. „Er ist doch da oben bei … INOR!“, schrie Forso plötzlich erschrocken auf und stieß ihm mit Wucht den Ellbogen in die Seite.
Dem entsetzten Blick seines Freundes folgend sah er ebenfalls die steile Burgmauer hinauf und augenblicklich verschlug es ihm den Atem. Umrahmt von einem lichterloh lodernden Feuer saßen ihre Lehrmeister in dem sperrangelweit geöffneten Fenster. Yo war weit über Cru gebeugt und beide hingen gefährlich schräg über dem Abgrund. Nur einen Augenblick später riss der Vampirelb den Sibulek ganz um.
„Ancante!“, rief Forso im Reflex laut aus und zeichnete mit seiner rechten Hand ein sich rückwärts drehendes Rad in die Luft, während Inor blitzschnell eine waagerechte Handbewegung und drei kurze Fingerzeichen machte.
Für einen kurzen Augenblick verlangsamte der Fall der zwei Männer sich daraufhin und eine durchsichtige Platte materialisierte sich direkt unter dem Fenster. Keinen Wimpernschlag zu früh. Denn obgleich sein Bruder unablässig mit dem Arm ruderte und drehte, ließ das Rad der Zeit sich nicht anhalten und nur begrenzt manipulieren. Immerhin stürzten ihre Ziehväter so aber nicht in den sicheren Tod, sondern kippten lediglich eine Handlänge tief auf den magischen Schild.
„Das war knapp“, atmete Inor erleichtert auf und wischte sich den kalten Angstschweiß von der Stirn.
Wie konnte man nur derart leichtsinnig sein? Was wenn sie jetzt nicht hier gewesen wären? Inor schüttelte sein Haupt. Dass er seinen Mentor auch nie allein lassen konnte. Yo war ja schlimmer als … Erst jetzt bemerkte er, dass Forso wie vom Donner gerührt dastand und mit offenem Mund sprachlos nach oben starrte. Das leicht verwunderte, teils entsetzte, aber auch überaus neugierige Gesicht seines Freundes verriet deutlich, dass dieser das, was er da gerade sah, offenbar nicht ganz einordnen konnte. Selbst als Inor sich auffällig laut räusperte, blieb sein jüngerer Bruder wie angewurzelt stehen und wandte den Blick nicht ab. Neugierig, was den Blondschopf derart faszinierte, sah er nun ebenfalls genauer hin.
‚Was genau treiben die da oben eigentlich?‘
Augenblicklich verstand er Forsos Verblüffung. Das Bild, das sich ihnen bot, war tatsächlich mehr als merkwürdig. In offensichtlich inniger Umarmung lagen ihre Ziehväter scheinbar in der Luft und küssten sich wild. Oder besser gesagt, sah es ganz so aus, als ob Yo über Cru hergefallen war und diesem seine körperlichen Gelüste geradezu aufdrängte. Immerhin schien der Vampirelb unverkennbar die Oberhand über den Sibulek, der unter ihm lag und sich unter den wilden Zärtlichkeiten wand, zu haben. Seltsam war nur, dass ihre Meister nicht nur halbnackt, sondern auch über und über mit Blut beschmiert waren. Offenbar war dem erotischen Schauspiel, dessen ungebetene Zaungäste sie gerade wurden, ein heftiger Kampf vorausgegangen. Dies passte nicht nur ins Bild der sich belauernden und umtanzenden Auren, die Forso und er beobachtet hatten, nachdem sein Ziehvater Crus Kammer betreten hatte. Es ergab auch hinsichtlich Yos ziemlich verquerem Charakter und der eigenartigen Beziehung der beiden durchaus einen Sinn. Augenscheinlich verstanden ihre Lehrmeister unter einer Begrüßung und einem Wiedersehen etwas völlig Anderes als sein kleiner Bruder und er.
Forsos Augen begannen, im Dunkel der Nacht zu strahlen, und er murmelte ergriffen: „Hast du so etwas schon einmal erlebt?“
„Nein“, gab Inor leise zurück und konnte seinen Blick ebenfalls nicht von dem gleichermaßen faszinierenden wie verstörenden Schauspiel abwenden.
Dann herrschte eine Weile Stille und keiner von ihnen beiden wagte, einen Ton von sich zu geben. Die Welt um sie herum begab sich zur Nachtruhe und selbst der Wind war deutlich abgeflaut. Kein Rauschen und Rascheln war mehr zu vernehmen. Kein Knistern und Knacken, kein Zirpen und Summen, kein Säuseln und Knirschen. Nichts war mehr zu hören. Nichts außer unablässigem Keuchen und Stöhnen, das ihnen die Schamesröte ins Gesicht trieb. Gespenstisch flatterten die Hemden ihrer Anführer im Nachthimmel und gingen langsam über ihnen nieder.
„Schön nicht?“, brach Forso die schwere Stille.
„Mhm“, brummte Inor leise und machte sich nicht die Mühe, nach einem der Kleidungsstücke zu greifen. „Ja, sie scheinen es endlich geschafft zu haben.“
Der junge Mann konnte eine gewisse Ergriffenheit nicht leugnen. Cru schien das Unmögliche tatsächlich vollbracht und freundschaftliche, gar leidenschaftliche und begehrende Gefühle in seinem Mentor geweckt zu haben. Wer hatte darauf noch zu hoffen gewagt?
„Jetzt bist du aber der Voyeur!“, vernahm er plötzlich die Stimme seines Bruders ganz nah am Ohr und konnte Forsos Grinsen regelrecht hören.
Augenblicklich fühlte Inor das Blut in die Wangen schießen. Sich räuspernd sah er peinlich berührt weg und war für einen Wimpernschlag heilfroh, dass sie sich mitten in der Nacht in einem dunklen Wald befanden.
„Hoffentlich bereut er es nicht“, murmelte er unwillkürlich vor sich hin und nahm das im Augenwinkel hell leuchtende, zu Boden gegangene Leinenhemd des Sibulek auf.
Die Hitze ihrer Ziehväter konnte er selbst hier unten ganz deutlich spüren und allmählich wurden auch die Geräusche des Liebesspiels lauter. Insbesondere Crus Stöhnen hatte stark an Inbrunst zugenommen und allmählich mischten sich sogar flehende Töne darein. Wohl daher beschloss Forso, die beiden Heermeister lieber sich selbst zu überlassen, und forderte ihn am Ärmel zupfend zur Umkehr auf. Inor nickte, doch vorher musste er noch etwas Wichtiges klarstellen. Unvermittelt packte er seinen jüngeren Bruder am Arm und zog ihn zu sich heran.
„Lass sie bloß nie erfahren, dass du es weißt“, ermahnte er den Blondschopf. „Yo würde dich auf der Stelle töten!“
„Denkst du, das weiß ich nicht?“, schob Forso beleidigt die Unterlippe vor.
„Und wehe, du verquatschst dich“, sah der Ältere ihn verschwörerisch an.
„Entspann dich, Großer. Schon verstanden“, nickte sein Freund. „Wenn das hier irgendwer erfährt, sind sie geliefert. Richtig?“
„Rich …“
Ein schmerzlicher Schrei lenkte ihre Aufmerksamkeit jäh nach oben, wo sein Ziehvater sich aufbäumte und die Hände vors Gesicht schlug. Unter ihm der Sibulek, der regungslos in einer dunklen Lache lag. Eine schreckliche Ahnung erfasste Inor und sein Magen verkrampfte.
‚Nein‘, dachte er und wollte es nicht wahrhaben. Das konnte unmöglich sein!
Ungläubig blickte Inor auf das weiße Hemd in seinen Händen und wurde jäh gewahr, dass es nur noch ein völlig zerrissener Fetzen und mit rotem Blut getränkt war. Eine schockartige Lähmung befiel den jungen Mann, als er begriff was geschehen war. Yo hatte Cru nicht etwa geküsst, er hatte ihn gebissen.
Eine Erkenntnis, zu der offensichtlich auch Forso gelangt war. Mit einem Schlag wurde sein kleiner Bruder leichenblass, tastete zitternd nach seiner Hand und sackte noch im selben Moment in die Knie. Doch seine ungläubigen Augen von diesem schrecklichen Anblick abwenden, das konnte der Blondschopf nicht.
„Nein. Nein! Das darf nicht sein!“, stammelte er mit brechender Stimme und Inor sah Tränen in den Augen seines kleinen Bruders glitzern.
In der verzweifelten Hoffnung, einer Sinnestäuschung erlegen zu sein, wanderte sein Blick von seinem bestürzten Freund über die Burgmauer zum Fenster zurück. Übelkeit stieg in ihm auf, als er gewahr wurde, in welch großer Menge Blut der Sibulek lag, und ein starkes, unkontrollierbares Zittern erfasste ihn, als die dunkle Lache zum Rand der unsichtbaren Platte floss. Große, schwere Tropfen fielen gen Erde und in dem Moment, da der erste mit einem unendlich lauten Klatschen vor ihre Füße fiel und die Stille zerriss wie ein Peitschenknall, fuhr ein heißer Stich durch den Körper des Braunhaarigen. Die Welt schien stillzustehen, als auch er mit stummem Flehen auf die Knie sank. Sie hatten sich geirrt. Sie hatten sich gnadenlos geirrt. Sie waren gar nicht Augenzeugen eines leidenschaftlichen Stelldicheins, sondern vielmehr eines brutalen Mordes und die vermeintlich lustvollen Geräusche Crus in Wahrheit Ausdruck seines Todeskampfes gewesen!