Mein Blick fiel auf die Robe einer jungen Frau mit Wespentaille. Anmutig schritt sie neben einem Herrn in dunkelblauem Frack, der ihr einen bewunderten Blick zuwarf, wobei er lachte, während ihr Gesichtsausdruck starr blieb. Die Zähne ihres Begleiters strahlten wie poliertes Elfenbein und wirkten spitz wie Zaunpfähle. Die Dame hakte sich bei ihm unter. Blitzschnell lag seine Hand an ihrem V-förmigen Ausschnitt und verschwand kurz darin. Welch Dreistigkeit, dachte ich. Aber sie schien es zu genießen, denn sie schloss kurz die Augen. Ihr knöchellanges Kleid besaß die Farbe eines Sonnenuntergangs und umspielte ihren Körper wie ein Windhauch. Ich hatte ja schon viele Damen in der Stadt gesehen, doch diese hier war besonders adrett, wenngleich die kühle Arroganz, die ihr anhaftete, ihr wieder ein Stück von dem äußeren Glanz nahm. Für einen Augenblick trafen sich unsere Blicke und in ihrem Gesicht regte sich etwas. Mir war, als hätte sie eine Maske abgezogen, denn sie schmunzelte in meine Richtung. Ihre großen Augen stachen wie dunkle kalte Höhlen aus ihrem bleichen kantigen Gesicht hervor, welches von welligem schwarzem Haar umrandet wurde. Irgendwie erschien sie mir unheimlich, gleich einer wandelnden Toten aus Granny Emmas Fabelbuch. Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. Ich hing dem Gedanken noch nach, nachdem das feine Paar schon lange aus meinem Blickfeld verschwunden war. Dann streckte ich mich ein wenig. Mir schmerzten die Knie von dem harten Boden, auf dem ich seit einer gefühlten Ewigkeit, neben meinen Geschwistern knieend, ausharrte. Paul, Adam, Cecile und ich saßen in unseren lumpigsten Kleidern am Rande des Marktplatzes der Stadt und hofften wieder einmal, dass uns die Leute aus Mitleid ein paar Münzen zuwerfen würden. Besonders, da Cecile blind war. Das war sie seit ihrer Geburt. Vater sah es als Gottesstrafe an, weil seine Frau vor sieben Jahren noch einmal mit ihr schwanger geworden war. "Aber für das Betteln kann es ein Gewinn sein", hatte er gesagt. Ich war so froh, dass die Kleine es nicht gehört hatte.
Meine Brüder waren fünfzehn und damit acht Jahre jünger als ich. Für Vater waren wir genug Kinder. Von Anfang an, so behauptete er, hätte er gewusst, dass es nicht gut war, durch Cecile noch ein Mäulchen stopfen zu müssen. Zudem bedauerte er, dass ich nicht längst mit einem gut situierten Mann verheiratet war.
Verliebt hatte ich mich noch in keinen, dem ich bisher über den Weg gelaufen war und der Interesse bekundet hatte. Da gab es einige. Zudem war darunter niemand, der meinem Vater wirklich getaugt hätte. „Allesamt Lumpen. Streng dich mal ein bisschen mehr an“, hatte er gesagt. Dass ich mich nicht nach Liebe sehnte, konnte ich nicht behaupten. Ich glaubte ans Schicksal. Irgendwann würde der Richtige schon kommen.
Mit Magengrummeln warf ich einen Blick auf den Inhalt von Paulchens staubiger Mütze, die rücklings vor ihm lag. Die Ausbeute heute war magerer als sonst. Immer wenn die Gendarmerie durch die Straßen eilte verkrochen wir uns blitzschnell in eine der engen Gassen zwischen den Häusern, in denen die Luft oft kühler war und nach Moos roch. Die meisten Leute hatten sich bereits an uns gewöhnt. Andere aber verjagten uns von unseren ausgesuchten Plätzen, sobald sie uns erblickten. Wie sehr ich diese Bettelei für Vater doch verabscheute. Aber nicht nur ich, wir alle fühlten uns schäbig dabei. Für meine Geschwister tat es mir noch viel mehr leid. Jammern half nichts, es blieb uns nichts anderes übrig. Vater würde uns höchstwahrscheinlich gar schlagen, sollten wir mit leeren Händen nach Hause kommen oder uns gar ganz gegen diese Art von Gelderwerb wehren. Mutter sah es nicht gerne, sagte aber oft genauso wenig gegen das Familienoberhaupt, wie der Rest der Familie, die aus meiner Tante, Mutters verwitweter Schwester Claire, und deren Sohn Hermann bestand, den ich nicht leiden konnte. Claire war schlau. Früher hatte sie mich in Schreiben und Lesen unterrichtet. Sie selbst hatte es von ihrem Vater gelernt, der schon ein paar Jahre gestorben war. Er liebte es sich Verse auszudenken und niederzuschreiben und ich war sehr wissbegierig. Nun unterrichteten Tante Claire und ich meine Geschwister und auch Hermann gemeinsam, so dass sie schreiben, lesen und auch rechnen lernten, das mir gut lag. Der Neuzehnjährige Hermann betonte, von allen der Schlauste zu sein. Andauernd versuchte er, mir unter den Rock zu gucken und liebte es mich mit dummen Sprüchen aufzuziehen. Zudem war da noch meine Großmutter Emma, schon weit über achtzig und mit einem Herzen größer als unser England es war.
Plötzlich verzog Cecile das Gesicht. „Es riecht nach Blut“, murmelte sie und hielt dann für ein paar Sekunden die Luft in ihrer Lunge gefangen. Erstaunt blickten meine Brüder und ich die Kleine an.
„Blut?“, fragte ich.
Langsam nickte sie. „Der Geruch kommt mit dem Wind von Norden.“ Sie deutete mit einer Hand in die Richtung.
„Ich rieche nichts“, bemerkte Adam und rümpfte seine sommersprossenübersäte Stupsnase. Kurz darauf hallte ein Schrei durch die Straßen, so grell und grauenhaft, dass nicht nur wir vor Schreck in unseren Bewegungen innehielten.
„Gott im Himmel! Heiliger Vater! Man hat ihm die Kehle durchgebissen“, schrie die Bäckersfrau und rannte wie ein aufgescheuchtes Reh aus ihrem Laden auf die Straße. Blut klebte ihr an Händen und Schürze. Die Farbe ihres Gesichts glich der des Mehles, das sich in ihrem dunklen streng nach hinten gebundenen Haar verfangen hatte. Die Augen hatte sie weit aufgerissen. Zitternd am ganzen Leib ließ sie sich auf die Knie sinken und schlug die Hände gleichzeitig schreiend und schluchzend vors Gesicht. Erstarrt standen wir zusammen mit anderen Leuten da und beobachteten das Geschehen. Eiskalte Wellen überliefen meinen Körper. Wenig später eilten zwei Gendarme an der Frau vorbei in die Bäckerei, während sich der Schneider der Stadt um die arme Frau kümmerte, die zunehmend hysterischer wurde.
„Mein armer Sohn!“, schrie sie.
Ich blickte zu Cecile, die flach und schnell atmete.
„Was ist?“, fragte ich sie und legte einen Arm um ihre schmalen Schultern. Sie war in letzter Zeit noch dünner geworden.
„Der Wind, er ist so kalt. Der Mörder … er ist noch da“, murmelte sie.
„Was erzählt sie da für einen Unsinn?“, wollte Paul wissen und ging vor ihr in die Hocke.
„Ihr Sohn, er atmet nicht mehr“, flüsterte Cecile ängstlich.
„Cecile fantasiert mal wieder. Erzähl ihr nicht immer Spukgeschichten“, warf Adam ein und strafte seinen Bruder mit verachtenden Blicken.
„Hab ich schon lange nicht mehr“, verteidigte sich dieser.
Cecile träumte häufig und viel, auch tagsüber. Hin und wieder erzählte sie davon. Von Bildern, die sich vor ihrem inneren Auge abspielten. Mutter war überzeugt, dass sie eine besondere Gabe zum Erzählen von Geschichten hatte, die sie später nutzen könnte.