Herbst.
Die wunderschönste Jahreszeit. Die Bäume färben ihre Blätter. Manche verlaufen von einem tiefen Blutrot zu einem Orange der Farbe des Sonnenuntergangs. Eben diese Blätter fallen irgendwann, fallen zusammen mit vielen anderen bis sie ihren weg auf den Boden gefunden haben. Und sobald das Herbstwetter anfängt, klebt der Regen sie auf dem Boden fest.
Der kalte Wind wehte durch mein Haar, und zog die Blätter mit sich. Damals, als mein Leben noch so ruhig war. Ruhig, und einsam. Damals schlug der Wind die Blätter durch meine Haare, und ich streifte die Strähne hinter mein Ohr. Der Rückenwind trieb mich vorwärts. Ich war so in Gedanken versunken, dass ich ihn gar nicht bemerkte. Ihn, der vor dem Theaterstück gar nicht für mich existierte.
Er war ja nicht mal neu in der Schule, nicht einmal neu in unserer Theatergruppe. Aber bis zu diesem Stück war er mir nie besonders aufgefallen. Wahrscheinlich war ich ihm auch nicht aufgefallen. Aber irgendwie wurden uns diese Rollen zugeteilt, und da gab es auch keine Widerrede. Spielt man im Theater, so kommt es selten dazu, dass wirklich Küsse ausgetauscht werden. Zumindest war das so in unserer Theatergruppe. Und das hieß, dass wir beide uns einfach nur annäherten. Das es ein Kuss sein soll, wird dem Publikum schon klar.
Da standen wir also nun. Wir spielten unsere Rollen perfekt. Wir alle. Niemand vergaß den Text, keiner vergaß einen Schritt oder eine Bewegung, und alles lief auf diesen Moment hinaus. Da standen wir also nun, nah aneinander, seine Hände an meiner Hüfte, meine Arme abgestützt auf seiner Brust, beide außer Atem, das Licht, welches uns blendete und aufwärmte, unsere Augen, die sich ineinander verloren. Und das Paar lehnte ein zum Kuss. Der Vorhang schloss sich. Die Lichter gingen aus. Die Menge applaudierte.
Der Rest des Abends floss an mir vorbei wie ein Rausch. Wir verbeugten uns mehrere Male, ich zog mich um, verabschiedete mich von der Truppe, mein Vater empfing mich mit einer warmen Umarmung, wir gingen etwas essen, und dann lag ich schon im Bett. Doch ich konnte nicht schlafen. Ich war immer noch leicht zittrig. Dieses Gefühl, wenn sich die Lippen fast berührten. Die Anspannung. Ich konnte seine Augen nicht vergessen. Sie waren so – unbeschreiblich. Das einzige Wort, an das ich denken konnte, war der Herbst. In seinen Augen konnte man die orangenen Blätter auf den braunen Boden fallen sehen. Ich hätte sie ewig ansehen können.
Doch, das Leben ging weiter. Außerdem hatten wir Herbstferien. Eine gute Zeit für mich, ich konnte die Zeit draußen verbringen. Viele Spaziergänge durch den Park. Ich sammelte viele Blätter und trocknete sie in meinem Buch aus. Bald würde meine ganze Wand damit voll sein. Der Herbst war eine wundervolle Möglichkeit Inspiration zu sammeln.
Die zwei Wochen gingen schnell und ruhig vorbei, und die Schule fing wieder an. Es gab nichts, worauf ich mich hätte freuen können, keine Freunde, und meine Lieblingsfächer waren auch nicht dran. Und dennoch war ich seltsam aufgeregt. Ich gab mir sogar Mühe und flechtete mir zwei Strähnen, die ich zusammenband. In der Schule ging alles wie gehabt. Unsere Kurslisten und Stundenpläne hingen an dem großen Schwarzen Brett aus - es gab zu Beginn auch noch eine Assembly. Ich saß, wie jeder andere, diese aus und ging zu meinem ersten Kurs. Auf der Treppe nach oben kamen mir viele entgegen, und ich hatte Schwierigkeiten, mich durchzusetzen. Dennoch erreichte ich den Raum, und der Unterricht begann.
Zum Glück kam nichts weiter wichtiges in dieser Stunde vor. Ich war total abgelenkt, der Himmel war so klar und blau, und die Bäume so orange, das es fast weh tat, sich das anzusehen. In der Pause ging ich nach draußen in den Park unserer Schule. Der Boden war so voll von Blättern, das man den Weg gar nicht mehr erkennen konnte. Dabei lagen sie nicht nur auf dem Boden, sondern viele mehr fielen gerade herunter. Als würde ich durch einen Blätterregen laufen.
Ich fing ein Blatt aus der Luft, und beschloss, es zu behalten. Als ich aufsah, sah ich Nathaniel. Genauso einsam wie ich ging er durch den Park und kam mir entgegen. Und da. Unsere Blicke trafen sich. Ich spürte einen stechenden Schmerz in der Region meines Herzens, als ich in seine Augen sah. Sie hatten sich seit dem Theaterstück nicht verändert. Für einen Moment blieb die Zeit stehen. Meine Augen weiteten sich. Ich spürte, wie sich meine Pupillen vergrößerten, wie sie versuchten, ein detailreiches Bild zu erstellen. Ich verlor mich komplett in seinem Blick, und dabei merkte ich fast gar nicht, dass er auch mich ansah. Dass er auch einen Blick in meine Augen erhaschte. Ein warmer Schauer überkam mich, und wieder spürte ich dieses Stechen im Herzen. Und der Moment war vorbei. Ich ging weiter, weiter als wäre nichts gewesen, als wäre nichts passiert. Sieh nicht zurück! Ermahnte ich mich selbst. Ich schloss meine Augen und verschnellte das Tempo. Auf keinen Fall konnte ich jetzt zurück sehen! Erst, als ich um die Ecke bog, und eine kahle Hecke mich halbwegs versteckte, blieb ich stehen. Aber beruhigen konnte ich mich immernoch nicht. Mein Körper brannte und kribbelte.
Und dabei hatte ich ihm nur in die Augen gesehen.