Es war einer jener stürmischen Tage, an denen man am liebsten die Straße gar nicht erst betrat. Der leise rieselnde Schnee wurde von den immer heftiger werdenden Windböen aufgewühlt und davon getragen. Es hätte idyllisch wirken können, als tanzten die weißen Flocken umher - vom Wind getrieben - doch das tat es nicht. Vielleicht lag es an der immerzu melancholischen Stimmung, die das sich mitten im Winter befindende Moskau, ausstrahlte. Zeit seines Wesens war es so gewesen und es würde wohl auch immer so bleiben.
In dieser eisigen Kälte eilte ein junger Mann in seinen Zwanzigern durch die Straßen. Geschwind, den Blick gen Boden gerichtet, scheinbar ein klares Ziel vor Augen. Seine Bewegungen waren hastig und des Öfteren warf er einen Blick auf die schmale Uhr, die sein Handgelenk zierte. Ohne wirklich auf die Uhrzeit zu achten, nur weil es eben so eine Geste war, wenn man sich beeilte, um unter anderem dem eisigen Wetter zu entfliehen. Der Schwarzhaarige beachtete seine Umgebung nicht und schien dafür auch gar keine Zeit zu haben. Doch dann blieb er abrupt stehen. Man hätte meinen können, eine unsichtbare Wand – vielleicht aus Glas – habe ihn aufgehalten, so unvermittelt war er zum Stehen gekommen.
Der warme Atem, der bei seinem keuchenden Ausatmen ins Freie gelangte, bildete kleine Wölkchen in der Luft, bevor er kondensierte. Dann glitt sein Blick in den Himmel. Wozu die Eile und Hektik, war sie denn von Nöten? Er beschloss, dass dem nicht so war und so lief er seinen Weg gemächlich weiter. Zuhause wartete letztendlich ja doch niemand auf ihn. So war es seit geraumer Zeit. Für einen Moment flammten Erinnerungen aus längst vergangenen Kindertagen in ihm auf. Ein glockenhelles Lachen ertönte in seinen Ohren und der Klang von Tschaikowsky spielte tief in ihm. Der Duft von Zimt stieg ihm in die Nase. Doch so schnell die Erinnerung gekommen war, so schnell verschwand sie auch wieder. Minha hatte einst auf ihn gewartet. Doch sie war lange fort. Viel zu früh gegangen. Das Atmen fiel ihm mit einem Mal so schwer. Im Haus seines Onkels und seiner Tante war er bestenfalls geduldet, nie aber Zuhause gewesen, doch seine Cousine hat alles erträglicher gemacht. Und nun? Sie tanzt an einem besseren Ort, dachte er bei sich. Er wünschte es ihr vom ganzen Herzen. Hatte ihren Traum auf Erden doch dieser abscheuliche Autounfall durchkreuzt. Seither war das Haus seines Onkels ein noch tristerer, noch dunklerer Ort, als zu seiner Kindheit. Behaglich war seine eigene Wohnung allerdings auch nicht. Kalt und grau. Eigentlich kein fühlen.
So in seinen Gedanken versunken merkte der Sechsundzwanzigjährige gar nicht, wie weit er eigentlich schon gekommen war. Schwarz schimmernde Strähnen fielen in das blasse Gesicht als er den gesenkten Kopf hob, sich umblickend, um die Orientierung zurück zu gewinnen. Tatsächlich war sie sogleich wieder zurück. Nicht mehr weit. Nur noch ein paar Meter und er wäre bei seinem neuen Zuhause. Auch wenn es nach gut einem Jahr nicht mehr ganz so neu und anhand der letzten Feststellung, die ein Zuhause ausmachte, auch kein wirkliches Zuhause war. Letztendlich auch egal. Unbewusst schüttelte er den Kopf, sinnlose und unwichtige Gedanken, mit denen er sich da befasste.
Seiner Meinung nach war dies sonst nicht seine Art. Zumindest glaubte er das nicht und es war ihm lieber, sich nur auf das Wesentliche zu konzentrieren. So wie in diesem Moment. Das Wesentliche. Den dummen Hauschlüssel finden. Ja, das war wichtig. Auch wenn der – nicht mehr ganz - weiße Häuserblock steril und wenig einladend aussah. Er wollte hinein, in die wärmende Wohnung. Innerlich machte der Russe sich eine Notiz, das nächste Mal würde er sich wieder beeilen. Es brachte doch nichts, es nicht zu tun außer, dass seine Hände nun ganz klamm waren. Zitternd fischte er den Schlüssel aus einer seiner abgewetzten Jackentasche und schloss die Tür auf, ohne genau zu wissen weshalb, mit einem leichten zögern. Als traue er seiner sicheren Heimkehr noch nicht so ganz. Den Laut, den die sich wieder schließende Tür von sich gab, bekam er jedoch nicht mehr mit, war er doch bereits die Treppen hoch, auf dem Weg zu seiner Wohnung. Es war unpraktisch im letzten Stock zu wohnen, dass sah er mittlerweile ein. Und er bereute es, wie so vieles in seinem kurzen Leben. Vielleicht wäre es besser gewesen in eine andere Gegend zu ziehen, aber wen interessierte es schon, wo er sich befand? Zu seinen alten Bandkollegen hatte er ja doch keinen Kontakt mehr und hier ließ man ihn zumindest zufrieden. Niemand störte einen und es war nicht ungewöhnlich wenn die Leute kamen und gingen. Es passte schon zu ihm – wie er fand.
Doch auf dem letzten Treppenabsatz blieb er stehen. Überrascht, verwirrt. Der andere saß da, vor seiner Tür, als sei es schon lange abgemacht gewesen. So, als hätte er es vergessen. Im Schneidersitz und mit einem grimmigen Gesicht. „Verdammt, Yury, wo in drei Teufels Namen warst du den ganzen Tag? Ich frier’ mir seit einer halben Ewigkeit den Arsch ab! Du kannst froh sein, das mich einer der traurigen Gestalten die sich deine Nachbarn schimpfen rein gelassen hat, draußen hätte ich sicher nicht gewartet! “
Yury wusste darauf nichts zu erwidern, was hätte er auch schon sagen können? Er war immer noch viel zu perplex. Mit vielem hatte er gerechnet, da war ja dieses Gefühl gewesen, doch nicht mit Charlie, der einfach so vor seiner Tür saß. Es fühlte sich an, als sei die Zeit zurückgedreht worden. Gestern hatten sie noch gemeinsam für das nächste Konzert geprobt, die letzten Aufnahmen fürs neue Album vertont, so fühlte es sich zumindest an. Natürlich war das nicht der Fall. Noch immer hatte der junge Russe kein Wort gesagt. Aber er gab dem Blonden Amerikaner mit der, heute wie damals auffällig blau gefärbten Haarsträhne, mit einer Handbewegung zu verstehen, von der Stelle zu weichen, damit er die Wohnung aufschließen konnte. Mit einem knarren sprang seine Wohnungstür auf.
„Hat deine Tür ’nen Nebenjob im Geisterhaus?“, wieder schien der Jüngere sich eines Kommentars nicht enthalten zu können. Ein brummen war Yurys viel sagende Antwort. Es war nicht so, dass es ihn gar nicht erfreute seinen ehemaligen Bandkollegen nach langer Zeit einmal wieder zu sehen, doch hatte er eben keine Lust auf große Reden. Der Blauäugige hatte noch nie wirklich etwas mit Konversation anfangen können und wollte das auch eigentlich gar nicht. Es war schon gut so wie es war. Außerdem war Charlie zumindest in seinen Erinnerungen auch nie der Gesprächigste gewesen. Und zumindest damit war er sich immer sicher gewesen, seine Bandkollegen kannte er wie seine Westentasche. Dem war doch so, oder? Zumindest besser als irgendwer sonst. Vor allem besser, als die Presse die Jungs und ihn je gekannt hatte. Abermals war es Charlie der ihn aus seinen Gedanken riss, dieses Mal jedoch nicht mit Worten sondern weil er seinen Kühlschrank laut krachend zu fallen lassen hatte. Jetzt beschloss Yury sich doch einmal bemerkbar zu machen: „Hey, wer hat dir erlaubt, dich an meinem Kühlschrank zu bedienen?“
„Ach nein, du bequemst dich ja doch noch mit mir zu sprechen und ich dachte schon wir müssten uns jetzt den restlichen Abend anschweigen. Da hätte sich der neunstündige Flug von Jersey City hierher richtig gelohnt. Außerdem, was regst du dich so auf? Der war doch ohnehin leer. Wovon ernährst du dich eigentlich? Luft und Liebe? Und meine Frage hast du mir auch noch nicht beantwortet, wo warst du den ganzen verdammten Tag? Wichtige Termine können’s ja nicht gewesen sein, schließlich hast du dich ja ziemlich abgekapselt und bist mehr oder weniger untergetaucht. Keine Solo-Auftritte. Keine Pressetermine oder zumindest ein Statement. Nicht einmal für andere hast du im letzten Jahr etwas komponiert.“
Der Redeschwall der auf den dunkelhaarigen nieder prasselte überrumpelte diesen. Es war schwierig auf die eine oder andere Frage zu antworten, sowohl wahrheitsgemäß als auch zufriedenstellend. Denn beides in Kombination war kaum möglich. In ihm verkrampfte sich alles und er presste die Lippen aufeinander.
„Wüsste nicht was dich das angeht, verrat mir lieber weshalb du heute hier bist?“
Ein heiseres Lachen dröhnte durch die Wohnung. Nur klang es nicht wirklich glücklich.
„Du bist immer noch ganz der Alte. Genau wie früher. Gut ich will dir verraten, weshalb ich heute hier bin. Der Grund ist: Nichts. Schlichtweg nichts.“, ein Lächeln umspielte Charlies Lippen. Sanft, fast liebevoll, ungewohnt und doch so vertraut. „Nichts…“. Yury wiederholte es ungläubig und sah ihn misstrauisch an. Dann erzählte Charlie ihm, er sei nur hier, um einmal nach ihm zu sehen. Er habe sich Sorgen gemacht, fügte er hinzu. Yury konnte und wollte das irgendwie nicht glauben, gleichzeitig war das aber der Charlie der die Band bis zum Schluss zusammengehalten hatte: fürsorglich und irgendwie liebenswert. Er war sich nur nicht so sicher, ob ihm das überhaupt behagte. Wollte er denn jemanden, der nach ihm schaute? – Nein, er wollte seine Ruhe. Er wollte endlich mit allem abschließen.
Er wollte abschließen! Es durchfuhr den Sechsundzwanzigjährigen wie ein Blitz. Er brauchte und wollte keine Verbindung mehr zu seinem alten Leben, letztendlich zog ihn das nur runter. Deshalb war er doch nach Russland zurückgekehrt. Fort aus New York. Weit weg von den Staaten.
„Geh jetzt!“, es war weniger eine Aufforderung, es war ein Befehl. Charlie sah ihn fassungslos an. Betroffen und verhalten. Da war es wieder, dieses Stechen in seiner Brust, welches ihn bereits an der Uni immer überfallen hatte, wenn der Jüngere ihn mit diesem Blick bedacht hatte. Dieses warme Gefühl, dass sich innerhalb seines Brustkorbes ausbreitete und sich wie ein Lauffeuer fortbewegte, ihn glühen, ja verbrennen lies. Er hasste es, obwohl es sich gar nicht schlecht anfühlte. Doch er wollte es nicht. Da war etwas, tief in ihm, dass alles tun wollte um es los zu werden. Und er wusste, dass es wohl der wahre Grund war, weswegen er Charlie weg schickte. Denn es war bereits da gewesen, als er ihn vor seiner Tür erblickt hatte. Nur nicht so stark, doch jetzt konnte er es einfach nicht mehr ignorieren. Unmöglich.
Charlie wollte Einwände erheben, stellte klar, dass er nicht umsonst den weiten Weg nach Moskau gemacht habe und wollte noch weitere Argumente anführen, doch schlussendlich erhob er sich – von der abgewetzten Ledercouch auf der er es sich mittlerweile gemütlich gemacht hatte – als er merkte, dass Yury nicht einmal ansatzweise nachgab und sich stur stellte. Der Fünfundzwanzigjährige war gerade an der Tür als Yurys Stimme die Stille durchschnitt:
„Warte, warte noch…“, er ging auf einen großen Schrank aus dunklem Eichenholz zu, eines der wenigen Möbelstücke welches in der Wohnung vorhanden war, und zog die Schranktür auf. Zum Vorschein kam ein Gitarrenkoffer. Langsam, fast andächtig nahm der junge Russe den Koffer aus dem staubigen Schrank. Seit er vor einem Jahr hier eingezogen war, ruhte seine Les Paul im Schrank. Auf zwei Tourneen in Asien, Europa und Großbritannien, sowie den dreien durch die Staaten hatte sie ihn begleitet. Seine erste Gitarre nach dem Plattenvertrag. Fast sieben Jahre Bandgeschichte hatte diese E-Gitarre mit ihm erlebt. Das war das Problem.
Dann ging er mit festen Schritten auf den Blonden zu und drückte ihm den Koffer in die Hand. „Hier, nimm sie mit, ich mache endgültig Schluss mit dieser Zeit“. Dieses Mal war Charlies Blick hart. Die azurblauen Augen fixierten ihn.
„Nein.“
Gleichgültig zuckte er mit den Schultern. Er würde das Instrument auch anders loswerden.
„Gut, wie du meinst, ich …“
„Eine Sekunde,…“, Charlies Stimme überschlug sich fast vor zurückgehaltener Wut, er zischte die Worte zwischen zusammengepresste Zähnen hervor, „hast du auch nur eine Sekunde daran gedacht, dass es nicht nur für dich schwer war? Das wir alle unter seinem Tod gelitten haben? Hast du einmal daran gedacht, dass nicht nur du einen Freund verloren hast? Was ist mit Danny, was mit Nile? Gott, Nile hat in Xander einen Bruder verloren. Sie waren ein Herz und eine Seele. Und Jesse. Jesse hat seinen Partner verloren. Aber Hauptsache du darfst trauern und dich in diesem Loch von einer Wohnung hier verkriechen, oder? Weißt du, im Gegensatz zu dir machen sie weiter!“ Charlies Stimme bebte. Yury fragte sich, warum er nicht aussprach, was er verloren hatte als Xander starb. Sag es, Charlie. Die einzige Person, der du dich je anvertraut hattest. Gleichzeitig kam die Wut.
Was weißt du schon, hätte Yury ihm gerne an den Kopf geworfen. Was habt ihr alle schon davon gewusst? Nichts. Aber das wird er ihm niemals sagen können. Das hatte er Xander versprochen. Damals. Mehr als zweieinhalb Jahre ist das nun her. Die anderen haben von Xanders Erkrankung ein Vierteljahr vor seinem Tod erfahren, als der Bassist nicht länger verheimlichen hatte können, was mit ihm los war und Yury fühlte sich noch heute schlecht, weil er als erstes Erleichterung empfand. Für die anderen war es ein Schlag ins Gesicht gewesen, doch für ihn war es ein Befreiungsschlag. Nicht mehr länger lügen zu müssen, nicht weiter den unwissenden spielen zu müssen, dass hatte so gut getan. Gleichzeitig wurde damit der Albtraum aber eigentlich erst bittere Realität.
Wieso hatte er ausgerechnet ihn ins Vertrauen gezogen? Er hatte eine Weile gebraucht um zu verstehen. Sie waren sich nie wirklich nahe gewesen. Nile und Daniélle waren ihm immer viel vertrauter gewesen und obwohl Xander und die beiden praktisch wie eine Familie waren, hatten sie beide sich einfach nie mehr miteinander beschäftigt als nötig. Für ihn war Charlie immer derjenige in der Band gewesen, mit dem er den meisten Kontakt gehabt hatte. Bis dieser sich irgendwann ziemlich unvermittelt zurückzog. Aber ihn kannte er am längsten, ihm vertraute er sich an. Charlie sich ihm allerdings nicht. Das war Xander gewesen.
„Yury, können wir kurz miteinander sprechen?“
Er hatte frische Luft gebraucht, Xander hingegen stand draußen zum Rauchen. Verwirrt zog Yury eine Augenbraue in die Höhe. Xander wollte nie mit ihm reden. Oder besser, sie hatten sich einfach nichts zu sagen.
„Sicher. Was ist los?“
Xander sah betreten zu Boden. Er scharrte mit den Füßen. Die glühende Zigarette drehte er nervös zwischen seinen Finger. Das war ungewöhnlich. Wahnsinnig ungewöhnlich. Der Jüngere hatte für ihn immer etwas Unnahbares ausgestrahlt. Jetzt wirkte er nervös und irgendwie in sich selbst zusammengesunken.
„Was ich dir jetzt sage, dass muss unter uns bleiben. Zumindest vorerst, okay?“
„Xander, was ist los?“
„Ich werde sterben.“
„Was?“
„Also, warte. Das klingt vermutlich falsch. Mir ist klar, dass jeder von uns eines Tages stirbt, aber … ja …“
Ihm wurde schlecht. Oh, Gott.
„Sag’s einfach.“
„Ich habe Krebs.“
Sein Hals war staub trocken. Seine Stimme schien ihm nicht mehr zu gehorchen.
„Was?“
„Ich, ich habe ein Leberkarzinom, dass sich nicht behandeln lässt.“
Er schluckte. Zitterte.
„Seit wann weißt du das?“
„Seit vier Wochen.“
„Warum sagst du mir das jetzt?“
Er wusste nicht, was er sonst darauf antworten sollte. Gleichzeitig fühlte er sich wie ein Arschloch, weil es nicht wirklich das war, was man in dieser Situation sagen sollte.
„Weil du der einzige bist, der es für sich behalten wird und weil du der einzige bist, der Charlie nah genug steht um zu verstehen, was ich dir jetzt sagen werde.“
Xander sollte Recht behalten. Er hatte bis zur letzten Sekunde so getan als wisse er von Nichts und im Nachhinein konnte er nicht mehr sagen, was ihn damals mehr erschütterte, dass sein Bandkollege ihn offenbarte das er, obschon erst dreiundzwanzig, bald sterben würde, oder aber das Charlies Krankenhausaufenthalt vor einigen Wochen nicht etwa, wie er – und der Rest der Band, in diesem Fall aber wohl nur Daniélle und Nile - bis dahin geglaubt hatten, mit einem entzündeten Blinddarm in Verbindung stand, sondern mit einem Suizidversuch. Man hätte Yury zu Boden werfen und auf ihn eintreten können, es hätte ihn nicht mehr schmerzen können. Wie hatte er all die Jahre so blind, so ignorant sein können?
Nun starrte er wie hypnotisiert in die tiefblauen Augen seines ehemals beste Freundes. Diese Augen, die früher scheinbar mühelos jeder Faser seiner Seele, jeden noch so tiefen Abgrund in ihm betrachten konnten, ohne sich jemals von ihm abzuwenden. Und er? Wo war er gewesen, als Charlie ihn gebraucht hätte. Nach Xanders Tod? Weggelaufen. Nichts anderes hatte er getan. Aber nicht vor seiner Trauer. Die saß tief, aber noch viel tiefer saß sein Bedauern. Bedauern darüber, dass er Schuld am Suizidversuch seines Freundes war. Dabei hätte er ihn niemals verurteilt, wenn er es ihm jemals offenbart hätte. Wollten sie beide doch, tief in seinem inneren wusste er das heute, immer das gleiche. Vielleicht hatte Xander das gewusst. Yury konnte ihn ja nicht mehr fragen. Doch statt nach all den Jahren endlich den Mund aufzumachen, blieb er stumm. Sah dabei zu wie Charlie mit verletztem Blick das Gesicht von ihm wegdrehte und sich dann zum Gehen wandte.
Und plötzlich wollte er nicht mehr, dass der Jüngere ging. Mit einem Mal wollte er, dass alles wieder so war wie früher. Als sie noch stundenlang gemeinsam musizierten, über Gott und die Welt redeten, gemeinsam – nur zu zweit – ihre Zeit verbrachten und jede Nacht zum Tag machten, eben nur, weil sie es konnten. Er wollte endlich wieder unbeschwert sein können und vor allem wollte er, dass Charlie endlich wieder ein Teil seines Lebens wurde. Das er endlich der Teil seines Lebens wurde, der er vielleicht schon immer hatte sein sollen.
Plötzlich rannte er los. Zur Tür hinaus, Charlie hinterher, der noch nicht einmal mehr auf der Treppe zu sehen war. Er war so erpicht darauf den anderen einzuholen, er war schon fast unten, dass er nicht mehr Acht gab, wo er hintrat. Er war nur einen Augenblick unachtsam, doch das genügte. Eine Stufe nahm er nicht richtig, rutschte ab und fiel. Mit schmerzenden Gliedmaßen richtete er sich langsam wieder auf, fest davon überzeugt, dass es nun zu spät war, als er aufblickte. Da saß er, abermals auf der Treppe, nur um im gleichen Moment noch aufzuspringen. Entsetzt sah er ihm entgegen.
„Yury?“
„Lass uns reden, bitte! Ich bin ein Vollidiot aber lass es mich zumindest erklären. Ich …, ich will dich nicht verlieren. Nicht schon wieder.“
Zusammen saßen sie Stunden später auf Yurys abgewetzter Ledercouch, in stiller Eintracht. Dieser Moment brauchte keine Worte, er war gut so.
„Ich brauche jetzt echt Alkohol. Ich kann es einfach nicht fassen.“
Yury musste grinsen. Er stand auf, ging zum Gefrierschrank und holte eine Flasche Wodka heraus. Jetzt war der Moment gut so. Seine Hand begann merkwürdig zu kribbeln, als er dem Jüngeren ein volles Glas reichte und der leichte Rotschimmer um Charlies Wangen verwirrte ihn. Konnte das sein? Immer noch?
Quatsch, seine Einbildung spielte ihm da einen Streich, jedoch war er sich da, nach weiteren vollen Gläsern, nicht mehr so sicher. Dann zog Charlie ihn plötzlich ruckartig zu sich. „Nicht erschrecken“, nuschelte er. Aber Yury hatte sich nicht im Entferntesten erschreckt, sondern war wie gebannt von Charlies Präsenz. Ihre Blicke streiften sich. Sein Hals wurde trocken und er sah auf Charlies Lippen die seinen immer näher kamen. Heißer, schwerer Atem an seinem Gesicht. Und dann geschah es. Erst nur ganz zaghaft legten sich ihre Lippen aufeinander. Doch dann wurde der Kuss intensiver, fordernder. Endlich.
Dieser Moment war besonders. Aber er hatte keinen Zweifel daran, dass es schon immer so hatte sein sollen. Der Kuss war so fremd und doch so vertraut. Dieses Gefühl brannte alt bekannt und war gleichzeitig so neu.
Frisch und neu, wie der Schnee, der in dieser Nacht auf Moskaus Straßen lag.
Die Nacht ist dunkel, kein Stern ist zu sehen,
doch heute bist du bei mir, um an meiner Seite zu gehen.
Der weg war einsam, hart und lang.
Mehr als einmal vermisste ich deiner Stimme Klang.
Aber du warst fort, ich weit entfernt von dir,
Gefangen im Kreislauf zwischen jetzt und hier.
In meiner Eile, in meiner Hast,
ganz ohne Ziel und ganz ohne Rast.
Und dann auf einmal kamst du zu mir
Nur diese eine Wahl zwischen Ich und Wir.
Du wandeltest nicht mehr auf weit entfernten Erden,
musste mir über die Gefühle zu dir klar werden.
So ruhen sie in mir versteckt,
Gefühle aus tiefstem Herzen ganz,
Von dir so lange unentdeckt,
und doch frisch wie des Schnees heller Glanz