Im Anschluss an die Vision, die das Hyphurion mir gezeigt hat, sitze ich lange Zeit auf dem kühlen Boden in den Katakomben. Ich kann mich kaum rühren, erfasst von einer lähmenden Erschöpfung und gleichzeitig einer merkwürdigen Euphorie.
Mein Körper fühlt sich ausgelaugt an, kraftlos. Hinter meinen Augen pocht der Schmerz. Aber wenn ich das verdränge, tritt ein Lächeln auf meine Lippen.
"Es ergibt alles einen Sinn", flüstere ich. "All die Fetzen und Bilder ... sie gehörten zu dieser Geschichte."
"Selbstverständlich. Es war deine Aufgabe, die dich rief", erwidert das dämonische Buch stolz.
In den Wochen vor meiner Ankunft hier wurde ich tags wie nachts von albtraumhaften Bildern geplagt, hörte gar Stimmen wie Echos nach mit rufen. Nun plötzlich fielen all diese Puzzlestückchen an ihren Platz in einem größeren Bild. Eine Episode aus der Vergangenheit unserer Welt. Ich konnte sie hautnah erleben, wie schon zuvor den Kampf der Drachen. Doch diese Episode war länger. Ich weiß nicht, ob ich viele davon ertragen werde.
"Du wirst", erwidert das Buch erbarmungslos. Kann es meine Gedanken lesen? Das Hyphurion gibt keine Antwort. Sacht schimmernd ruht es in seinen Ketten und scheint mich zu beobachten. Ich kann mich nicht rühren. Als wäre auch ich in Fesseln geschlagen.
So finden mich die Wachen der Ewigen Kaiserinnen vor, als sie die Katakomben unter Akijama durchstreifen.
Über die Anwesenheit eines Fremden in ihrem Heiligtum der Schriften sind sie verständlicherweise wenig begeistert. Mit misstrauischen Blicken zum Buch nehmen sie mich mit und zerren mich hinauf in den Palast. Ich warte, noch immer ohne mich rühren zu können, während die Ratsherren eilig einberufen werden.
Als diese vor mich treten, erkenne ich erstaunt eine dreizehnte Person hereintreten. Ix-Sago Zyanya, die Kaiserin, obwohl sie diese Krone nicht mehr trägt. Sie ist eine alte Elfe mit einem langen Bart und herabhängenden Ohren. Doch ihr Blick ist noch wachsam und scharf.
"Wer bist du?", fragt sie.
Ehrlich erteile ich Auskunft. "Mein Name ist Mobu Cajatarji. Ich stamme aus Yurvatis."
"Und wie kommst du hierher, Cajatarji?"
"Magie, denke ich ..." Mein Gegenüber schweigt, also führe ich aus: "Ich wurde ohne jenes Talent geboren. Doch vor einigen Wochen setzten diese Visionen ein. Etwas trieb mich hierher ... oder rief mich eher. Ich war wie in Trance, konnte weder klar denken noch selbst entscheiden. So verzeiht, dass ich in die Bernsteinbibliothek eindrang. Es war das Buch, das mich rief."
"Das Buch Hyphurion", flüstert ein Ratsmitglied, eine Zwergin. Sie sieht bedeutungsvoll in die Runde. "Das Buch, das dort unten zugesperrt und angekettet ist."
Ix-Sago sieht mich an. "Habt Ihr es befreit, Cajatarji?"
Ich schüttele den Kopf. "Ich habe nur mit ihm gesprochen und ..."
"Gesprochen?", unterbricht mich ein Elf aus dem Rat. "Es ist ein Buch! Es kann nicht reden!"
"Das Buch ist nur eine Hülle", erkläre ich. "Es ist ... etwas anderes. Ein Wesen aus drei Elementen."
Schweigen füllt die hohe Kammer im Wandelbaren Palast. Die Ratsmitglieder tauschen Blicke. Die inoffizielle Kaiserin geht langsam auf und ab und streicht sich grübelnd durch den Bart - ein zwergisches Erbe, soweit ich weiß. Ix-Sago ist berühmt, auch in Yurvatis kennt man sie. Die Bibliothek von Akijama, wo das Wissen der Welt bewahrt wird, ist schon jetzt die größte Schatzkammer auf Erden.
"Du sagst, es hat zu dir gesprochen", sagt Ix-Sago schließlich. "Was sagte es? Was wollte es von dir?"
Ich berichte zögerlich. "Es sagt, es hat mich erwählt. Um die Vergangenheit unserer Welt zu erforschen. Das scheint seine Macht zu sein."
"Dann ist es nicht gefährlich?"
"Das wisst Ihr nicht?" Ich sehe die Kaiserin erstaunt an.
Ix-Sago schüttelt den Kopf. "Wir haben es eines Tages gefunden, in einer tiefen Höhle. Eine Wildnis, die selbst die Yetis zuvor nie erforscht hatten, doch nun suchten sie dort eine neue Heimat. Dabei entdeckten sie das Buch. Als sie es aufnehmen wollten, tötete es drei von ihnen."
"Tötete?", entfährt es mir entsetzt.
Ein Ratsherr, ein Yeti, nickt. "Es öffnete sich und spie Feuer und Gift", berichtet er mit einer Tonlage, die keinen Zweifel daran lässt, dass er dabei war. "Es flog ihnen direkt ins Gesicht wie eine tollwütige Fledermaus. Als die drei tot waren, schien es etwas aufzusaugen. Ihre ... Seelen." Der weißbepelzte Ratsherr schüttelt sich. "Erst dann konnten wir es gefangennehmen. Es zu verbrennen funktionierte nicht, also legten wir es in die stärkten Fesseln und mächtigsten Zauber, die wir kannten, sodass es auf ewig verschlossen bleibe, und verbargen es in den Katakomben."
Ich sehe die Ratsherren an.
"Was ist denn?", fragt der Yeti.
"Es war offen", flüstere ich. "Als ich es fand, war es offen."
Erneut hängt Schweigen in der Luft, einer Wolke drohenden Donners gleich. Wir alle spüren das Prickeln im Raum, wie Magie, doch ungleich bedrohlicher.
Ix-Sago ist es erneut, die diese Stille bricht. "Berichte uns alles."
Also erzähle ich von der Vision, von Hyphurions dreifachen Wurzeln. Und von jener zweiten, längeren Vision. "Seine Seiten", vermute ich dann, "sind Tore in die Vergangenheit. Sie zeigen Orte und Personen, wie sie lebten. Wenn es aufklappt, kann es vielleicht auch Drachenfeuer oder einen Waldbrand beschwören, um sich zu verteidigen."
"Verteidigen?", schnaubt der Yeti. "Wir hätten ihm nichts getan!"
"Wer weiß, wie lange es dort unten ruhte. Vielleicht war es hungrig." Ich verstumme. Warum nehme ich das Buch in Schutz? "Es ist zu einem großen Teil Dämon, das lässt sich nicht leugnen."
"Wir konnten es nicht verbrennen", sagt der Yeti leise und voller Echos alter Furcht. "Es ist unsterblich, da bin ich sicher."
"Es wurde geboren", sage ich langsam. "Alles, was geboren wurde, muss eines Tages sterben. Aber ich glaube, dass es sehr lange leben wird." Dann atme ich tief durch. "Und ich bitte euch, lasst mich bei ihm bleiben. Ich kann mich nicht mehr abwenden, selbst wenn ich es wollte. Ich besitze nicht die Kraft dazu. Ich muss hier sein, in diesen Höhlen, ich muss es lesen, es schreiben. Ich habe keine Wahl. Ich glaube nicht, dass es eine Wahl gibt."
Die Ratsmitglieder sehen einander an. Ich kann den Zweifel in ihren Blicken erkennen, doch keiner spricht ihn aus. Ich weiß, sie werden ablehnen.
Wieder bricht Ix-Sago die Stille. "Was trägst du dort um den Hals, Fremder?"
Ich berühre den goldenen Anhänger der Kette. "Einen Schlüssel. Er erschien, als ich vor Hyphurion trat."
Die Kaiserin nickt. "Sagt mir, wie ist Euer Name noch gleich?"
"Mobu Cajatarji", antworte ich, und frage mich, wie sie es vergessen haben kann. Doch sie scheint es nicht vergessen zu haben. Sie dreht sich zu ihrem Rat um.
"Cajatarji. Wie Cajatoshija."
Ich horche auf. "So hat mich das Hyphurion angesprochen."
"Dann ist es entschieden", sagt die Kaiserin leise. "Du bleibst hier, Mobu Cajatoshija."
Verwirrt sehe ich in die Mienen der Ratsmitglieder und wieder zur Kaiserin. Alle zeigen den gleichen Ausdruck: Schicksalsergeben, als wären sie einer Macht ausgeliefert, die sie nicht verstünden. Sicherlich dem Hyphurion.
"Was ist denn los?", frage ich leise. "Was bedeutet das?"
"Es ist eine Prophezeiung", erklärt mir die Kaiserin. "Als wir das Buch fanden, waren diese uralten Zeichen neben ihm in den Boden gebrannt: Ca, Ja, To, Shi und Ja. Der Zeuge, die Blindheit, das Schweigen, das Reich, die Vergangenheit - Du musst wissen, dass die zweite und fünfte Rune zwar gleich heißen, aber etwas anderes bedeuten. Es ist ein altes Wort, noch aus der Zeit der Finsternis. Doch ich glaube, es hat in gewandelter Form in manchen Kulturen überdauert, wenngleich es seine Bedeutung einbüßte. Gut möglich, dass dein Name, Mobu Cajatarji, die moderne, yurvatische Version davon ist."
"Cajatoshija", wiederhole ich leise. "Der blinde und stumme Zeuge der vergangenen Reiche?"
"Der Chronist", sagt Ix-Sago. "Es bedeutet 'Chronist'."
Ich umfasse den Schlüssel auf meiner Brust mit der Faust. "Dann ist es wohl beschlossen. Ich bleibe."
"Zum Guten wie zum Schlechten", bestätigt Ix-Sago. "Ich glaube kaum, dass wir uns dem Willen des Hyphurions widersetzen können. Seine Wurzeln sind zu alt; und wenn du sagst, dass es dich auserwählt hat, dann wird es so sein. Lasst uns hoffen, dass seine Geschichte stimmt, dass es ist, was es zu sein behauptet: Eine Chronik, ohne Einfluss auf die Gegenwart."
"Was beeinflusst denn die Gegenwart, wenn nicht unsere Vergangenheit?"
Ix-Sago lächelt traurig. "Versprecht mir eines, Chronist: Befreit es niemals von seinen Fesseln, hört Ihr?"
Ich verneige mich, ebenso förmlich, wie sie es nun ist. Doch ich verspreche es ihr mit keinem Wort. Denn ich weiß, wenn Hyphurion die Welt niederbrennen will, könnte ich mich nicht widersetzen. Meine Seele ist in ebensolche Ketten geschlagen wie das Hyphurion. Es ist die Chronik ... ich bin sein Chronist.