24.12, 1914, Flandern bei Ypern
„Daheim schmücken sie jetzt den Weihnachtsbaum.“ Sehnsucht klingt aus Hermanns Stimme, doch Wilhelm wirft dem Jungen nicht mehr als einen flüchtigen Blick zu.
„So is es“, murmelt er nur und blickt durch den kleinen Spiegel, der auf seinem Bajonett befestigt war, zu den gegnerischen Stellungen hinüber. Obwohl es ein klarer Morgen ist, kann er nur einen lang gestreckten Wall aus Erde und Sandsäcken und etwas herumliegendes Bauholz sehen. Man kann meinen, dass dort nur für Kanalisationsarbeiten Erdreich ausgeschachtet worden sind, doch dem ist nicht so.
„Dort rührt sich nichts“, knurrt er und blickt zwischen zwei aufgeschichteten Sandsäcken hindurch. Auch jetzt bewegt sich nichts in den etwa fünfzig Meter entfernten gegnerischen Vorposten. Doch der Schein täuscht. Wilhelm weiß genau, dass die Tommys sie beobachten. Die Nacht über haben sie sich ruhig verhalten und auch im Morgengrauen war kein Angriff erfolgt. Dennoch denkt Wilhelm nicht daran, deshalb unaufmerksam zu werden. Oftmals ist es nur eine Sekunde der Unaufmerksamkeit, die über das Leben eines Soldaten entscheidet.
„Ob sie dieses Jahr wieder ein Ferkel geschlachtet haben?“, überlegt Hermann derweil, „Ich weiß, es ist Krieg. Aber Mutter hat im letzten Brief geschrieben, dass die Ernte dennoch gut war.“
Sein Kamerad stellt sich nach einem letzten misstrauischen Blick auf den feindlichen Schützengraben neben ihn.
„Glaubst du, dass wir heute noch Feldpost kriegen?“ Der Junge ist hartnäckig in seiner Naivität, das musste man ihm lassen.
„Kann sein“, entgegnet Wilhelm, ohne ihn anzublicken. Stattdessen schielt er auf das Ziffernblatt von Hermanns Uhr. Es ist kurz vor neun. Gewöhnlich beginnt die feindliche Artillerie nicht vor zehn mit ihrem Feuer und ihre Ablösung würde um Halbelf kommen. Ob sie heute auch schießen würden? Sein Kamerad würde bestimmt den Geist der Weihnacht beschwören, nach dem man in Zeiten der Nächstenliebe nicht aufeinander schießt. Doch Wilhelm traut dem Frieden nicht.
„Die Preußen hinter uns haben ihre gestern schon bekommen, das hat der Gefreite Schiller gesagt“, berichtet er eifrig.
„Hat er das?“ Wenn Anton das gesagt hat, kann es sogar stimmen. Was das Auftreiben von Nachrichten anging, ist der alte Tischler ein wahrer Fuchs. Doch mindestens so gut wie er Nachrichten sammelt, so gut treibt er auch Essen auf. Deshalb ist es gut mit ihm befreundet zu sein. Egal von wo – ihr Truppführer treibt es auf.
Selbst von hier, aus der vorgeschobenen Beobachtungsstelle, kann Wilhelm dessen Stimme hören. Er bittet den Heinz mit höflichen Worten, die Klappe zu halten.
Dieser liest aus dem letzten Brief vor, den er von seiner blutjungen Frau erhalten hat. An sich ist das ja nicht schlimm, sie alle freuen sich mit dem jungen Vater. Doch mittlerweile hat er die Botschaft seiner Vaterschaft so oft vorgelesen, dass selbst der stotternde Tock sie auswendig aufsagen kann.
„Hört zu!“, ruft der Lehrer in diesem Moment, „Deine Mutter sagt, dass du bei deiner Geburt genauso ausgesehen hast. Nur die Augen, meint sie, hat er von mir“ Zufrieden stellt Wilhelm fest, dass schon jemand anderes den jungen Vater um Ruhe bittet.
„Achtung!“, zischt Hermann in diesem Moment.
Abrupt richten die beiden Soldaten sich auf und blicken aufmerksam dem Fähnrich entgegen, der zu ihnen kommt. Es ist Ludwig Scholz, der von den Mannschaften weitgehend anerkannt wird.
„Schütze Beck? Schütze Müller?“
„Ja, Sir?“
„Rührt sich da draußen etwas?“ Wilhelm blickt in das Gesicht des jungen Mannes, der ihm ein freundliches Lächeln schenkt.
„Nein, Sir“
„Sehr gut, Schützen! Haltet weiter Wache! Frohe Weihnachten.“
„Jawohl, Sir! Danke, Sir.“
Mit einem Kopfschütteln sieht Wilhelm dem jungen Mann nach, wie dieser über den schlammigen Boden davon geht. Er erscheint ihm so jung, unerfahren, als lägen Jahrzehnte zwischen ihnen. Dabei sind es noch nicht einmal Jahre.
„Er hat uns frohe Weihnachten gewünscht“, erklärt Hermann mit einem breiten Lächeln, als würden diese netten Worte den verdammten Krieg beenden, für den sie beide ihren Kopf hinhalten.
„Sieht so aus“, murrt Wilhelm. Der Junge weiß noch nichts von der Welt. Schließlich ist er erst vor einem Monat zu ihnen gekommen. Er hat noch nicht verstanden, dass man einen schweigenden Soldaten nicht zum Reden bringt. Doch Wilhelm verzeiht ihm das. Soll der Junge den Rest der Kindheit und Unschuld behalten, die ihm der Krieg schon allzu bald
stehlen wird. Soll er nur von seinem Hof träumen, wenn ihn das glücklich macht.
Um Halbelf kommt die Ablösung und die beiden Kameraden können zum Rest ihres Trupps zurückkehren.
Ein vertrautes Bild, nicht anders als an anderen Tagen. Was sollte sich auch ändern, nur weil Weihnachten ist?
Heinz beugt sich immer noch über seinen Brief und formt leise die Worte, die er anscheinend nicht mehr laut aussprechen darf. Neben ihm schreibt Markus mit fliegenden Worten auf einer umgedrehten Kiste in sein Tagebuch und rückt dabei die Brille auf seiner Nasenspitze immer wieder hin und her. Tock sitzt etwas abseits und putzt mit unendlicher Sorgfalt seine Stiefel. Es ist ein hoffnungsloses Unterfangen, denn der Schlamm ist überall und man entkommt ihm nicht. Doch was soll man auch sonst tun? Sie können nirgendwo hin. Und Tock ist sowieso etwas langsamer im Verstehen. Das macht nichts. Doch wenn er Zufriedenheit dabei findet, seine Stiefel zu putzen, soll er es tun. Und Tock hat gute Stiefel aus weichem, festem Leder, die es sich lohnt zu pflegen. Vor allem im Winter können warme Stiefel Leben retten. Auch Anton tut etwas wahrlich Sinnvolles: Er befreit sich von Läusen, die eine wahre Plage sind. Knackt die schwarzen Leiber unter seinen Fingernägeln und schmeißt sie verächtlich in das knöcheltiefe Wasser, das den Graben füllt.
Jan dagegen sitzt wie immer abseits, beteiligt sich nicht an den immer wieder aufkommenden Gesprächsthemen. Er redet eigentlich nie, ist immer schon schweigsam gewesen. Das genaue Gegenteil von Heinz. Es hat Monate gedauert, bis sie herausgefunden haben, dass er aus Schlesien kommt und Müller ist. Er muss auch verheiratet sein, denn die Briefe, geschrieben von feiner Frauenhand, die er bekommt, hütet er immer mit Argusaugen vor neugierigen Blicken, genauso wie den Ehering, den er an einem Band um den Hals trägt.
„Da seid ihr ja!“ Ihr Truppführer schaut auf. Wilhelm lässt sich neben ihn fallen, während Hermann bei Markus Platz nimmt. „Der Scholz hat uns frohe Weihnachten gewünscht“, berichtet Hermann.
„Das haben wir mitgekriegt, Kleiner. Wir sind hier im Graben, da bleibt nix verborgen.“
Das ist die Wahrheit, auch wenn Anton über den Jungen hinweg einen amüsierten Blick mit Wilhelm tauscht.
Kurz lächelt der Neuangekommene, dann lässt er sich neben Anton auf eine Kiste nieder. Krieg besteht zum Größten Teil aus Warten und das macht geduldig.
Sie vertreiben sich den Vormittag mit Kartenspielen und flapsigen Gesprächen. Das Soldatenleben ist nicht halb so spannend, wie die Bücher es immer darstellen. Die Abenteuer und spannenden Kämpfe, über die sie als Kinder so gerne Geschichten gehört haben, hätten nicht weiter von der Wirklichkeit entfernt sein können. Weder Bücher noch Zeitungen erzählen von knochenhartem Brot, den Ratten, die groß wie kleine Hunde werden, Schlamm, an Blut erstickenden Kameraden, Innereien, Läusen und dem elendigen Warten.
Anton gelingt es sogar, Heinz von seinem Brief wegzulocken. Denn der Lehrer ist ein guter Skatspieler, der einige Kniffe auf Lager hat, jedoch unkonzentriert ist. Sie lassen ihn den ersten Stich gewinnen. Wilhelm gewinnt den zweiten und war gerade dabei, den dritten ebenfalls zu holen, als die Glocke klingelt – das Zeichen, das das Mittagessen kommt.
Sie lassen die Karten liegen und holen ihre Schüsseln. Bisher hat Wilhelm nicht viele Gedanken an Weihnachten verschwendet, aber er hofft, dass es heute etwas Gutes zu essen gibt. Fleisch wäre toll.
Ihr Trupp versammelt sich bei den anderen Männern ihrer Kompanie. Bis auf diejenigen die Wache halten, sind alle versammelt und vorne steht der Kompanieführer, was ungewöhnlich ist.
Anton zuckt auf den fragenden Blick Hermanns nur mit den Schultern. Wer weiß schon, was die hohen Offiziere denken.
Der Mann ist nur ein paar Jahre älter als Wilhelm und hält eine dürre Rede, in der er den Männern dankt, den Sieg heraufbeschwört und von den glorreichen Heldentagen ihrer Vorfahren redet. Als Wilhelm in die Gesichter der ihm umgebenden Soldaten blickt, erkennt er, dass niemand ihm glaubt. Es ist der 24. Dezember und sie alle erinnern sich daran, dass man ihnen versprochen hat, dass sie an diesem Tag wieder in der Heimat feiern werden. Der Kaiser mag in Berlin Reden über den baldigen Sieg schwingen, aber er ist nicht hier und sieht nicht, was sie sehen. Er erlebt nicht die ständige Eintönigkeit, das Sterben für die paar Meter Landgewinn. Jeder einzelne von ihnen weiß es besser und hat verstanden, dass die Rückkehr in die Heimat nicht mehr als ein ferner Traum ist.
Erst als der Kompanieführer von Geschenken redet, horcht Wilhelm wieder auf. Geschenke waren immer etwas Tolles. Den anderen geht es ebenso und als immer mehr Unruhe ausbricht, beendet der Mann seine Rede rasch und die Geschenke aus der Heimat werden verteilt.
Erstaunt mustert Wilhelm die Tannenbäume, die durch die Reihen gegeben werden und die die Truppführer aufstellen sollen. Jeder Soldat hat zudem eine Pfeife vom Kronprinzen bekommen, die Wilhelm seufzend einsteckt. Er hat bereits eine sehr gute Pfeife, aber vielleicht ergibt sich ja eine Gelegenheit, diese einzutauschen.
Dann werden die Päckchen von den Familien verteilt. Aus den Augenwinkeln sieht er, wie Hermann beim Öffnen des Geschenks Tränen in die Augen steigen. Der Schüler ist nicht der Einzige. Jan hat scheinbar vergessen, wie distanziert er sich sonst seinem Trupp gegenüber gibt und hält völlig selbstvergessen ein grob geschnitztes Holzpferd in der Hand.
„Sieh mal.“ Heinz stupst ihn an und hält ihm stolz eine dunkle Haarlocke hin. „Die ist von meinem Sohn.“
„Das ist toll, Heinz“, erklärt er und meint es ernst. Er freut sich wirklich für den jungen Lehrer und dass dieser etwas hat, für das es sich zu leben lohnt. Heinz bemerkt seinen abwesenden Blick.
„Willst du deins nicht aufmachen?“ Gedankenverloren mustert Wilhelm sein eigenes Päckchen, das immer noch unangetastet in seinen Händen ruht. Eine rote Schleife ist um das Packpapier gebunden.
„Nein“, erwidert er und schweigt. Er sieht zu seinem Freund Anton. Die Bilder in seiner Hand hält er, als ob es kostbare Schätze wären und das sind sie auch. Seine Töchter werden sie gemalt haben und er hat sie seit dem Sommer nicht mehr gesehen. Wilhelm weiß, wie sehr das dem Tischler zu schaffen macht, auch wenn er wenig darüber redet.
Wieder blickt er auf sein eigenes Geschenk und wiegt es nachdenklich in der Hand. Schließlich lässt er es unter seiner Uniform verschwinden.
Es ist Abend, als Wilhelm es wagt, sein Paket zu öffnen. Er hat sich zu Anton, Markus und Jan gesellt, die Wache haben. Wenn er klug gewesen wäre, hätte er es Heinz, Hermann und Tock gleich getan, die in ihrem Unterstand friedlich schlafen. Gewöhnlich kann er überall schlafen, aber heute hält ihn etwas wach. Er weiß genau, dass es der Gedanke an das Paket ist und jene Briefe von feiner Frauenhandschrift, die er zuvor immer ungeöffnet weggeworfen hat. Aber eingestehen will er es sich deshalb trotzdem nicht.
Die anderen stehen abseits von ihm, den Blick verloren in der Dunkelheit und dem glitzernden Weihnachtsbaum, den Anton trotz aller Bedenken auf dem Wall hat aufstellen lassen, den leisen Gesprächsfetzen lauschend, die aus dem gegnerischen Graben herüberschallen. Es ist Weihnachten und doch hätte Weihnachten trotz des Baumes, trotz der Geschenke für Wilhelm nicht weiter entfernt sein können. Er sehnt sich nach seiner Mutter mit ihrer Liebe, seinem Vater mit seinen strengen Gesichtszügen und seinem plötzlichen, herausbrechendem Lachen, seinen beiden Schwestern, seinem jüngeren Bruder – und Amalie. Ohne seine Familie ist Weihnachten nicht Weihnachten, nur ein Fest mit einer bestimmten Liturgie, aber ohne Leben. Auch seine Kameraden sind Familie, doch ist es eine andere Art.
Ist es die Sehnsucht, die ihn das Paket öffnen lässt? Nein. Das passt nicht. Auch zuvor hat er die Briefe und Geschenke ungeöffnet fortgeworfen, der Gedanke an die eigene Schuld und Scham war so viel stärker gewesen als jegliche Sehnsucht.
Auch jetzt zögert er, mustert die halb geöffnete Schleife, denkt an seine Familie, seine Kameraden.
Doch letztendlich liegt das Paket offen vor ihm.
Seine Mutter hat ihm einen warmen Pullover und lange, wollende Unterhosen geschickt, für die er sehr dankbar ist. Von seiner ältesten Schwester findet er Gläser mit eingekochter Marmelade, selbstgebackenen Keksen und ein Bild, das ihre Tochter gemalt hat. Seine zweite Schwester hat ein Gedicht geschrieben, in der sie die Schönheit der Natur und den Frieden beschwört. Obwohl es das genaue Gegenteil seiner jetzigen Situation beschreibt, ist Wilhelm dankbar für diesen Liebesbeweis. Sein Bruder hat ihm ein Spielzeugauto beigelegt, von dem der Soldat weiß, dass es sein liebstes ist. Dieser Gedanke lässt ihm Tränen in die Augen steigen.
Dann liest er die Briefe. Jeden einzelnen sorgfältig, verinnerlicht all die Grüße und Liebesworte. Erst als er das getan hat, greift er nach dem letzten Brief, wobei seine Hände zittern. Amalie hat ihm nichts geschenkt, doch weiß er, dass sie in Worten viel mehr Liebe ausdrückt als in etwaigen Geschenken.
Er wirft einen Blick zu seinen Kameraden, die immer noch in die Dunkelheit sehen und sich dabei leise unterhalten, dann öffnet er den Brief.
Die Buchstaben verschwimmen vor seinen Augen, als er versucht nur ihre Schrift wahrzunehmen, die Schönheit einiger Buchstaben zu erkennen, das geschwungene zu sehen, das sie einzigartig auf das Papier bringt.
Geliebter Wilhelm,
Es mag sein, dass du diesen Brief nicht liest oder nicht darauf antwortest. Sei dir gewiss, dass ich dir in diesem Fall nicht böse bin oder dich gar verachte. Ich bin nicht dort, wo du bist, sehe nicht, was du siehst und habe kein Recht, dich zu verurteilen. Es muss schrecklich dort sein, aber ich bin mir sicher, dass du nicht davon erzählen möchtest.
Wilhelm, ich denke an dich, wenn ich aus dem Fenster schaue, hoffe, dass du erscheinst und an der Haustür klopft, ich denke an dich, wenn ich durch die Straßen oder durch den Park gehe und all die Menschen sehe, die nicht dort sind, wo du bist. Ich wünschte, dass ich bei dir wäre, um dir die Arme um den Hals zu schlingen und dir zu sagen, dass alles gut ist. Ich weiß, dass du dich innerlich vor allen zurückziehst und niemanden an dich heran lässt, aber ich wünsche, dass ich dir helfen kann.
Ich bitte dich nur darum, dass du dich jetzt zurückerinnerst, an jenen Tag, an dem wir uns kennen gelernt haben. Und Wilhelm auch wenn wir uns jetzt nicht in die Augen sehen können, sind wir durch unsere gemeinsamen Erinnerungen doch aneinander gebunden. Um 10 Uhr abends werde ich hier unser Lied anstimmen und ich würde mich freuen, wenn du im Schützengraben dasselbe tust. Lass uns eine Verbindung, eine Brücke schaffen, über Hass, die Kilometer und die Entfernung hinweg. Ich bitte dich nur darum, Wilhelm, und ich weiß, dass es dir gut tun wird.
In Liebe und für immer die Deine,
Amalie
Tränen fließen ihm über die Wangen, als er sich daran erinnert, wie er ihr zuerst begegnet ist. Es war ihre Stimme gewesen, die klaren, dunklen Töne, die ihn von den verschneiten Straßen in die kleine Kirche getrieben hatten. Amalie hatte dort gestanden, in der Mitte all der reich geschmückten und überladenden Gänse, ein Schwan, der in seiner Schlichtheit erstrahlte. Still hatte er sich in die Kirchenbank gesetzt, die Augen geschlossen und ihrem Gesang gelauscht. Selbst als der restliche Chor dazukam, konnte er sie noch hören, die dunkle, schallende Altstimme, die sich doch nicht über die anderen erhob, sondern sich mit ihnen verwob, sie anleitete und nur noch schöner machte. Sie war nicht perfekt und Wilhelm nahm sehr wohl war, dass sie nicht jeden Ton traf und besonders die hohen Töne fielen ihr schwer, doch ließ sie sich davon nicht beeinflussen, sondern sang nur etwas leiser weiter, um sich mehr auf die anderen zu konzentrieren. Manchmal fiel sie in den Bass, der direkt neben ihr stand, vor allem, wenn beide Stimmen den gleichen Text sangen und die Töne sich nur minimal unterschieden. Doch wenn der Alt die Melodiestimme trug, drang ihre Stimme klar und durchdringend zwischen den anderen hervor.
Als der Dirigent die Probe beendete, war Wilhelm aufgestanden und hatte sich zwischen den schnatternden und lachenden Frauen unauffällig heraus geschlichen. Doch nächste Woche war er um dieselbe Zeit erneut da, lauschte der Stimme des Mädchens, dessen Namen er nicht kannte.
In der dritten Woche hatte sie ihn schließlich angesprochen, hatte sich zwischen all den feinen Damen hindurchgeschlängelt und stand auf einmal vor ihm.
„Guten Abend.“ Ihre Worte waren die einer wohlerzogenen, jungen Dame zu einem Unbekannten, doch in ihren Augen blitzte es schelmisch. „Ihr kommt jede Probe hierher und doch habe ich Eure Stimme bisher noch nicht vernommen. Wollt Ihr sie nicht mit uns teilen? Wir können wahrlich jeden Sänger gebrauchen.“
Zunächst hatte er sie nur angestarrt und spürte, wie er errötete, dann hatte er gemeint: „Ich habe noch nie vor Publikum gesungen und bin sicher, dass ich es nicht vermag“ Im Nachhinein hatte er sich für diese Worte geschämt, doch hatte das Mädchen sich nicht im Geringsten von dieser Schwächeeingestehung beeindrucken lassen. Mit einem Lächeln erklärte sie: „Und ich bin mir sicher, dass wir es erst herausfinden, wenn wir es ausprobieren“
Natürlich hatte Wilhelm es nicht vermocht, ihr diese Idee auszureden und so standen sie, als sich die Kirche geleert hatte, auf den Stufen und blickten sich an.
Ein Lächeln hatte ihr Gesicht geschmückt, dann öffnete sie den Mund und hob ihre klare, dunkle Stimme zu einem weiteren Lied. Ohne darüber nachzudenken, fiel er ein. Ihre Stimmen vermischten sich und woben einen Klangteppich in die Luft, der sich in der Kirche herausragend verbreitete. Wilhelm hatte sich selbst immer nur als einen passablen Sänger bezeichnet, doch in diesem Moment traf er jeden einzelnen Ton und sein hoher Tenor passte hervorragend zu ihrer dunklen Stimme.
Als sie das Lied beendet hatten, war Wilhelm seltsamerweise traurig. Durch das Lied hatte er sich mit dem Mädchen verbunden gefüllt und es schien, als ob die Zeit für einen kostbaren Moment stehen geblieben wäre.
Sie blickte sie ihn mit roten Wangen an und strich sich eine dunkle Locke aus dem Gesicht.
„Mein Name ist Amalie.“
„Wilhelm“, entgegnete er und konnte sie nur anstarren und zugleich lächeln.
Und nun steht er hier, in einem Schützengraben mit den Füßen im Wasser und blutigen Kleidern, während sein Mädchen bestimmt am Fenster steht und an ihn denkt. Er stellt sich vor, dass sie ihre Haare jetzt bestimmt offen trägt. Amalie hasst Haarklammern und unpraktische Kleidung. Sie mag schlichte Kleider in leuchtenden, sanften Farben, flache Schuhe und bunte Bänder im offenen Haar. Am Liebsten sitzt sie unter der Eiche hinter ihrem Elternhaus neben dem Teich, lässt ihre Beine im Wasser baumeln und beobachtet die Wolken, die über ihr hinweg ziehen. Doch natürlich ist es jetzt zu kalt dafür. Vielleicht sitzt sie auch vor dem Kamin, ein Buch im Schoß und liest die Seite immer und immer wieder, weil der Text vor ihren Augen verschwimmt.
Wilhelm weiß es nicht, doch wünscht er sich, dass er es wüsste.
Er blickt auf, sieht zu seinen Kameraden, die sich ebenso in die Heimat träumen, wie er selbst.
„Markus!“, ruft er. Der Junge, der ausnahmsweise nicht in ein Buch schaut und für sein Notexamen büffelt, sieht auf. „Was ist denn?“, fragt er und klingt dabei noch nicht einmal unfreundlich.
„Wie spät ist es?“ Ohne zu zögern, blickt der Soldat, der wie ein Junge aussieht und auch noch einer ist, auf die Uhr, auf die er sehr stolz ist, weil sein toter Vater ihm sie vererbt hat.
„Kurz vor 10“, antwortet er. Wilhelm ist dankbar, dass keiner von den dreien eine Frage stellt, auch wenn Anton ihm einen kurzen, musternden Blick zuwirft, in den sich Sorge mit der Freude mischt.
Er richtet sich auf und tritt an den Wall, blickt in Richtung der feindlichen Linie und daran vorbei in die Richtung, wo er glaubt, sein Zuhause zu finden. Die Zeit tickt. Er spürt die lauernden Schatten, die stumme Ermahnung, den Moment näher kommen, der sein Leben für immer beenden könnte. Ein Soldat kann immer sterben. Was hat er also zu verlieren?
Ohne die anderen zu beachten, summt er leise einige Töne, um seine Stimme wieder aufzuwärmen. Bisher hatte er keine Verwendung für Lieder, die von Schönheit und Liebe schwärmen, aber selten eine Sprache für Tod und Leid finden.
Nun jedoch spürt er mit jeder Faser seines Körpers, dass er diesen Moment nutzen muss. Manchmal spürt man so etwas und jeder halbwegs vernünftige und kluge Soldat vertraut auf dieses Gefühl, denn rettet es allzu oft das Leben, als dass man es verachten könnte.
Der erste Ton ist ein C, doch in seiner Vorstellung mischt sich das E, gesungen von Amelia, mit seiner Stimme. Er hört sie, während er singt, sieht und spürt ihre Hand, die sich in die seine schlingt, beobachtet ihr strahlendes Lächeln und ihre konzentrierte Miene, während sie sich bemüht, jeder einzelnen Note den richtigen Klang zu geben, die sich zunehmend entspannt und sich allein dem Genuss der Musik hingibt.
Er ist ganz in sich versunken, bemerkt nicht, wie seine Kameraden ihn zuerst überrascht mustern, dann jedoch in das Lied mit einstimmen. Der schweigende Jan, der nur für den Traum einer Rückkehr zu seiner Familie lebt, lächelt selig und hat die linke Hand anstatt auf einen Gewehrlauf auf seinen Ehering gelegt. Markus laufen Tränen über das Gesicht und seine hohe Knabenstimme klingt brüchig und zitternd, so überwältigt ist er. Auch Anton singt und das mit einer Inbrunst, die Wilhelm sicherlich überraschte, wenn er sie denn bemerken würde.
Wilhelm nimmt auch nicht wahr, wie weitere Männer in das Lied mit einfallen und es durch die Gräben weiter getragen wird, von Mann zu Mann, von Bayern, zu Sachsen, Württembergern, Holsteinern bis zu den Preußen, von denen sich vielen den Tönen verweigern. Doch diese können das Lied nicht aufhalten, genügt doch eine einzige Stimme, einen Menschen, der den Beginn macht, um eine Lawine loszutreten. Eine Lawine, die bis über die Gräben kommt, zu denen, die den Deutschen als Feinde genannt werden, obwohl Wilhelm und all die anderen einfachen Männer sie nicht als Feinde bezeichnen, sondern nur als Männer, die ebenso wie sie, ein Spielball in den Händen reicher, mächtiger und dummer Männer sind, die meinen, dass die Ehre einen Krieg verlangt.
Auf der anderen Seite des Feldes liegt David Williams mit seiner Kompanie. Am heutigen Abend hat er Wachdienst, doch obwohl viele Männer dies als Strafe ansehen, lässt sich der junge Waliser davon nicht die Laune verderben. Wobei er sich eigentlich von nichts das Lächelns stehlen lässt, das auch jetzt sein Gesicht schmückt. Erst einmal haben seine Kameraden mitbekommen, wie er zornig geworden ist und das war, als eine Granate ihren Graben getroffen hat und herumfliegende Erdkrumen seinen Eintopf verdorben haben. Doch das schlägt jedem Mann schwer auf dem Magen und wenn David sein Lächeln selbst dann noch getragen hätte, könne er kein Mensch sein, darin ist sich die Kompanie einig.
Heute jedoch hat David gut gegessen, der Himmel hat aufgeklart und der Feind rührt sich hinter seinen Wällen und Stacheldrahtverschlägen nicht.
Natürlich hat auch er Angst. Nur ist es leichter zu lachen, als zu weinen. Leichter seine Angst mit einem Lachen zu überspielen, als sie mit Tränen zu offenbaren. Eigentlich ist er nur ein Junge aus Lampeter, der sich zurück in jene Tage wünscht, als er noch nicht wusste, was Tod bedeutet.
Und jetzt ist er hier in einem Schützengraben mit einer Waffe in der Hand und schlammbespritzten, nassen Stiefeln, die er einem toten Deutschen von den Füßen gerissen hat.
Er blickt zu der feindlichen Linie und lacht auf. „Seht mal Kameraden“, ruft er nach hinten, „Jetzt stellen sie schon Ziele auf, damit wir sie noch besser treffen.“
Brychan, der Älteste der Kompanie, kommt nach vorne gestolpert. Da er nach einem Heiligen benannt worden ist, wird er nur „Saint“ gerufen.
„Verrückt“, meint er und lacht. Er ist eindeutig betrunken.
„Stimmt“, führt David weiter, „Man sollte meinen, dass sie es darauf anlegen, dass wir auf sie schießen.“
Yvain, der ebenfalls Wache hält, schüttelt nur den Kopf. „Es sind Weihnachtsbäume“, erklärt er und blickt sehnsüchtig zu den fernen Lichtern hinüber. David steht nah genug, um ihn murmeln zu hören: „Warum haben wir keine Weihnachtsbäume?“
Erneut schüttelt er den Kopf, auch wenn er dieses Mal nicht belehrend, sondern nur traurig wirkt. Das tut David Leid, denn gewöhnlich mag er den Handwerker mittleren Alters, der ihm vieles beigebracht hat.
Er will etwas sagen, doch da bemerkt er, dass der Waliser den Kopf zur Seite gelegt hat und auf etwas lauscht.
Selbst David schweigt, als er die Klänge vernimmt, von einer einzelnen Stimme in den Wind gesendet. Er versteht die Worte nicht, doch klingen sie melancholisch und seltsam friedfertig und rühren tief in seinem Inneren etwas an, das er nicht benennen kann. Eine Gänsehaut, die nichts mit der Kälte des Winters zu tun hat, kriecht über seine Arme und seinen Rücken, offenbart die Rührung, die er nicht offen zeigen mag.
Dann ist John da. John, dessen Mutter eine Deutsche ist und den sie deshalb oft verspotten. Doch kann niemand die Loyalität des Londoners bestreiten und da er jedem gerne hilft, ist er bei den Mannschaften beliebt.
Zunächst leise übersetzt er die Worte, doch als immer mehr Männer zum Graben strömen, um dem ungewöhnlichen Gesang, in den scheinbar unzählige Feinde einstimmen, zu lauschen, wird er lauter.
Uns der Gnade Fülle läßt seh’n
Jesum in Menschengestalt!
Jesum in Menschen-Gestalt!
Stille Nacht! Heil’ge Nacht!
Wo sich heut alle Macht
Väterlicher Liebe ergoß,
Und als Bruder Huldvoll umschloß
Jesus die Völker der Welt!
Jesus die Völker der Welt!
Stille Nacht! Heil’ge Nacht!
Lange schon uns bedacht,
Als der Herr vom Grimme befreyt,
In der Väter urgrauer Zeit
Aller Welt Schonung verhieß!
Aller Welt Schonung verhieß!
Stille Nacht! Heil’ge Nacht!
Hirten erst kundgemacht
Durch der Engel „Hallelujah!“
Tönt es laut bey Ferne und Nah
„Jesus der Retter ist da!“
„Jesus der Retter ist da!“
Die letzten Töne verstummen, was David mit einem bedauernden Seufzen quittiert. Seltsam, dass er auf einmal seinen Vater sieht, der letztes Jahr mit ihm die stundenlange Reise nach Cardiff auf sich genommen hat, damit sein Junge einen richtigen Weihnachtsmarkt erleben kann. Merkwürdig, dass er sich an seine Zwillingsschwester erinnert, ihr überschwängliches Lachen, als er ihr wieder einmal einen Streich gespielt hat. Wundersam, dass er die Worte seiner längst verstorbenen Großmutter hört, die ihn auf ihren Schoß gesetzt hat und meint: „Vergiss niemals, mein Junge, dass der Herr gesagt hat, liebe deinen Nächsten wie dich selbst“
Ach, verdammt! Was macht er hier eigentlich in einem Schützengraben fern der Heimat? Sollte er sich nicht seinen Traum erfüllen? Sein Geschäft gründen, das Nachtbarmädchen küssen und seine Zwillingsschwester in den Arm schließen? Was hält ihn denn noch hier in einem von Dreck starrenden Loch auf Befehl von Männern, die keine Ahnung von Läusen, verendenden Kameraden, Hunger oder dem Gestank halb verwester Leichen haben, sondern sich mit Begriffen wie Ehre und Ruhm umhüllen?
Missmutig starrt er zu Yvain. Überrascht sieht er, dass dem Vater von zwei Söhnen Tränen über die Wangen laufen.
Ohne zu wissen, warum er es genau tut, hebt David die Stimme. Schon immer haben die walisischen Chöre sein Herz bewegt, die gewaltigen Männerstimmen, die nichts wissen von der Politik der hohen Männer, sondern einfache Menschen mit guten Herzen und Träumen von einem besseren Leben sind. Er stimmt das erste Lied an, was ihm in den Sinn kommt, jenes Lied, das seine Großmutter ihm vorgesungen hat. Sie ist früh gestorben, doch hat sie ihm viele schöne Erinnerungen hinterlassen, wie auch „The first Noel“
Es ist ein klangvolles Lied und auch wenn er einige überraschte Blicke spürt, stimmen Yvain und John sofort ein.
Warum nur hat David das Gefühl, in diesem Moment Geschichte zu erleben und ein wahrhaftiges Gefühl zu erleben, dass mehr aussagt als jede Erzählung? Er weiß nun, wie sich die Menschen gefühlt haben müssen, als Jesus durch ihre Reihen schritt. Frieden. Es ist nichts, was man anfassen kann. Nein, man muss es erleben. Und David sieht es in den Tränen, die Yvains Bart nässen, in Johns Lächeln, in der erwartungsvollen Stille, die nur durch die Töne durchbrochen wird, die sie alle gemeinsam durch die Luft zu jenen Deutschen senden, die sie gestern noch Feinde nannten.
Es ist Weihnachten.
Als das Lied endet, ist Wilhelm enttäuscht und freudig zugleich. Enttäuscht, weil die Musik, das Gefühl der Einheit mit den letzten Tönen endete und verblasste. Doch freudig zugleich, da er Amalies Wunsch entsprochen hat und zugleich etwas gewagt hat, was fern von Krieg und Gedanken von Ehre und Rache etwas Normalität geschaffen hat, die sie zugleich eint und mit der fernen Heimat verbindet.
Jemand klopft ihm auf die Schulter und als Wilhelm aufsieht, bemerkt er, dass es Hermann ist, der eigentlich keine Wache hat und seinem wohlverdienten Schlaf nachkommen müsste.
„Was tust du hier?“, fragt er also und mustert den Jungen, der von der Heimat träumt.
„Ich bin den Tönen gefolgt“, erklärt dieser und deutet in die ferne, unbestimmte Finsternis vor ihnen, wo die feindlichen Linien sind. „Und ich folge und lausche ihnen weiterhin.“
Erst jetzt bemerkt der Soldat, dass aus der Ferne ein anderes Lied zu ihnen schallt. Er versucht die Töne zu fassen, sie zu greifen und zu verstehen. Erstaunt begreift er, dass es Englisch ist.
„Was singen sie?“, fragt er und als niemand antwortet noch einmal. „Was singen sie?“
Doch niemand aus ihrem Trupp spricht Englisch und sie zucken mit den Schultern.
Es ist Heinz, der ebenso zu ihnen gestoßen ist, der meint: „Ich glaube, dass es ein Weihnachtslied ist. Ich habe es schon einmal gehört, als meine englische Großtante uns vor ein paar Jahren besucht hat.“
Dass er seine englische Verwandtschaft so offen zugibt, hätte vor ein paar Stunden noch mehr Aufmerksamkeit hervorgerufen, doch jetzt, wo für einen Moment alles möglich scheint, gehen die Worte fast unbeachtet vorbei.
Irgendjemand beginnt die Melodie mitzusummen und als sie sich umschauen, erblicken sie Tock, der mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht zu ihnen gestolpert kommt.
„’s schön“, erklärt er, während sein Kopf im Takt mitwippt. Seine sauber geputzten Stiefel sind schon wieder schmutzig, doch sehen sie alle wie abgerissene Halunken aus, so dass es keinen kümmert.
Still stehen sie da, die Soldaten auf fremder Erde, der Heimat vor Augen, Sehnsucht in den Herzen und lauschen den Tönen, die von derselben Sehnsucht sprechen und schwärmen. Es dauert einen Moment, bis Wilhelm versteht, dass die Tommys ebenso wie sie den Frieden besingen. Frieden. Er erbebt, seine Finger fahren durch seine Uniform, zittern, bis er endlich Amalies Bildnis in den Händen hält. Es ist ganz abgewetzt, die Farben verblassen bereits, doch zeigt es seine Geliebte in ihrer ganzen Schönheit und es ist fast so, als würde sie hier neben ihm stehen, die Lippen geschlossen, nachdem der letzte Ton verklungen ist und nun lächelnd.
„Ist das der Schatz, den du immer verbirgst?“ Anton steht hinter ihm und sein Finger schwebt über ihrem Lächeln, als würde er es nicht wagen, sie zu berühren.
„Ja“, erwidert Wilhelm und wendet sich zu seinem Freund um. „Sie ist es.“
Sein Blick schweift in die Ferne. „Sie erinnert mich an meine Frau“ Er zögert, doch dann überwinden seine Finger den letzten Unterschied, berühren die Fotographie. „Es ist dieselbe Stärke und Widerstandfähigkeit.“
„Danke“, murmelt der Soldat, erstaunt von Antons Gesprächsoffenheit.
Befangen mustern sie sich. Sie sind Soldaten, können eine Waffe auseinanderbauen und Schützengräben ausheben, doch über das sprechen, was sie beide vermissen?
Tock ist es, der sie unterbricht. Sie haben gar nicht bemerkt, das das Lied der Engländer geendet hat, doch der ehemalige Straßenarbeiter beginnt zu klatschen und mehr schlecht als recht „O Tannenbaum“ zu singen.
Ein Lächeln huscht über Wilhelms Gesicht, in das auch Anton mit einfällt, so dass die beiden Freunde sich angrinsen. Bald darauf schließen auch sie sich Tock an.
O Tannenbaum schallt aus den Gräben und als das Lied endet, schließen sie gleich das nächste an.
Eine fröhliche, lockere Stimmung hat sich zwischen den Männern breitgemacht. Sie sind fern der Heimat, doch genügen in diesem Moment ein leuchtender Tannenbaum, ein gefüllter Magen, Geschenke und Briefe von daheim und Weihnachtslieder, um ihnen ein Lächeln auf das Gesicht zu zaubern und den Frieden auf einmal greifbar werden zu lassen.
Es ist ganz und gar keine stille Nacht, dafür sind ihre Stimmen zu laut, doch ist Wilhelm geneigt, diesen Abend dennoch eben diesen Titel zu verpassen, weil es auf eine gewisse Art und Weise doch eine Stille Nacht ist. Es ist ein Innehalten, ein sich-um-schauen, ein Gewisswerden, was sie hier eigentlich tun und machen, fern der Heimat, in einem Land, das nicht das ihre ist. Es ist, als ob die Schallplatte einen Sprung hätte, der Krieg angehalten ist und sie nur noch Menschen sind. Für einen Moment.
Das Lied ist vorbei und für einen Moment wissen sie nicht, welches folgen soll. Die Engländer setzten ein und obwohl Wilhelm den Text nicht erkennt, so ist ihm die Melodie nicht unbekannt. Erinnerungen. Amalie, die mit ihm durch ein Gesangsbuch blättert und ihre Zunge, die über die lateinischen Wörter stolpert. Irgendwie schaffen sie es dennoch, das Lied zu singen, auch wenn sie am Ende lachend auf dem Boden sitzen.
Ohne zu zögern, fällt er mit dem Lateinischen Adeste Fideles ein. Anton mustert ihn kurz, doch dann schließt auch er sich an, bald folgen auch die anderen: Tock, Hermann, Heinz, Markus und Jan, die der anderen Kompanie.
Wie ungewöhnlich, denkt Wilhelm, das zwei Völker, die eigentlich im Krieg miteinander stehen, nun dasselbe Lied anstimmen…
Doch er lächelt.
Als die Deutschen in O come all Ye Faithful einstimmen, stolpert David zunächst über die Töne und er ist nicht der Einzige, dem es so geht. Verwirrte Blicke werden gewechselt, die Schultern gezuckt, dann singen einige weiter, während andere aufhören. Sie alle sind verwirrt, weil die Grenzen aufgehoben sind. Zuvor waren Feind und Freund klar zu unterscheiden, aber jetzt, wo sie trotz des Krieges, das gleiche Lied anstimmen…
„Was werden die Generäle wohl dazu sagen?“, fragt irgendjemand, was die Reaktion von anderen hervorruft.
„Ach Scheiß auf die Generäle!“, schreit David, auf einmal von Zorn erfüllt, der doch die ganze Zeit schon in ihm lauerte, „Sind sie hier? Teilen sie mit uns Läuse und Blut? Welches Recht haben diese feigen Wichser denn…“
„Die können ja noch nicht einmal Stiefel wichsen“, ruft jemand dazwischen, doch der junge Waliser ignoriert es. „…darüber zu entscheiden, welche Lieder wir singen?“
„Richtig“, brummt Peat, der aufgrund seines Berufes so genant wird. Der Torfstecher sagt selten etwas, doch wenn er spricht, ist es wichtig und wird beachtet.
Saint ist es, der die Diskussion unterbricht. Lautstark beginnt er, das Lied weiter zu grölen, ungeachtet der entwachsenen Diskussion, und schafft damit ausnahmsweise einmal Frieden.
David folgt dem Beispiel seines Kameraden, weitere steigen ein und der Konflikt scheint für den Moment verflogen, auch wenn es unter der Oberfläche weiterhin schwelt.
Noch während sie singen, entfernt David sich ein Stück von den anderen, tritt an den Wall und sieht zu den leuchtenden Lichtern hinüber, die den Verlauf des Grabens verraten, lauscht dem Lachen und Gesang der Männer.
Da. Sein Blick wird auf eine einzelne Bewegung gelenkt, eine Gestalt, die sich gegen das Licht abhebt und aus dem feindlichen Graben klettert.
Der Gesang auf der anderen Seite hat aufgehört, stattdessen schallen einzelne Stimmen zu ihnen hinüber. Weitere Männer steigen aus den Gräben, rufen und kommen näher.
Fast von selbst fährt Davids Hand zu seiner Waffe, entsichert sie und hebt sie hoch – bis ihm auffällt, dass das dort drüben Menschen sind, die Weihnachten feiern.
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst
Ein einzelner Mann dreht sich im Kreis, stolpert dabei und wird von seinem Nebenmann aufgefangen, was zu großem Gelächter führt.
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst
Johns Stimme, die die überraschte und angespannte Stille, mit Worten füllt und die gerufenen Botschaften der Deutschen übersetzt. Immer wieder dasselbe: Wir wollen mit euch reden, Frohe Weihnachten und Frieden. Frieden. Es findet sich in jedem Satz wieder, spiegelt sich auf den angespannten Gesichter seiner Kameraden und dem ungestümen Vorwärtsdrang der Deutschen, die, allen Gesetzen des Krieges zum Trotz, immer näher kommen.
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.
Seine Großmutter, die ihn mit ernsten Ton bittet, sich zu ihr zu setzen und ihm erklärt: „Leben, mein Junge, ist das kostbarste Geschenk, was der Herrgott uns gegeben hat und im Frieden ehren wir dieses Geschenk“
Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.
Die Waffe entgleitet seiner Hand, fällt zu Boden und für einen Moment denkt David an die Arbeit, die ihn morgen erwarten wird, um den Schlamm wieder zu entfernen. Doch schon bald ist dieser Gedanke verschwunden, unwichtig in Vergleich zu dem, was nun folgt.
Er hebt den Blick, sieht die Sterne und versteht vielleicht zum ersten Mal die Weihnachtsgeschichte und das, was seine Großmutter ihm immer versucht hat, zu erzählen: Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.
Ohne sich im Nachhinein daran zu erinnern, erklimmt er den Graben und steht auf einmal auf dem Feld. Vor sich die Deutschen, die er plötzlich nicht mehr als Feinde bezeichnen mag.
Sie laufen aufeinander zu, zögern, stehen sich gegenüber und verharren. John, Saint, Peat, Yvain und die Anderen sind hinter ihm, zugleich am Rande seines Blickfeldes, so dass er sie kaum wahrnimmt und andererseits so zentral, dass er sie immer sieht. Es ist beruhigend, das er nicht alleine ist mit diesen Fremden, die nicht fremd aussehen.
Sie sehen kaum anders an, die Deutschen. Nicht im Geringsten wirken sie wie die Kindermörder und Frauenschänder, von denen die Zeitungen immer erzählen, sondern scheinen mit der Situation nicht weniger überfordert als die Briten zu sein.
Ihm gegenüber steht ein Deutscher in seinem Alter mit einer warmen Mütze auf dem Kopf und verschlammten, aber guten Stiefeln, die ihm bis zu den Knien reichen. Sein Bart ist lange nicht rasiert worden, fällt David auf, doch das glückliche Lächeln, das des Deutschen Gesicht ziert, lässt diese Tatsache unwichtig erscheinen.
Auf einmal stürmt dieser zu, umarmt den überrumpelten Waliser und löst sich danach wieder von ihm.
„Ich bin Wilhelm“, erklärt er in den harten, abgehackten Lauten, die die Deutschen eine Sprache nennen und fügt danach noch etwas hinzu, dem David nicht folgen kann.
„David“, erklärt er, als der Redeschwall des Anderen geendet hat.
Der Deutsche reicht ihm die Hand und sie schütteln die Hände, blicken sich an, lachen. Wilhelm zögert, dann fasst er unter seinen Mantel und holt eine gute Pfeife hervor.
„Hier.“ Er reicht sie David. „Für Weihnachten“ Sein Blick wandert nach links, als würde er überlegen, dann fügt er hinzu: „Christmas“
Der Waliser spricht kaum ein Wort Deutsch, bis auf einige Befehle, die die Offiziere immer wieder brüllen und die ihn und seine Kameraden zu wilden Scherzen hinreißen. Doch wären Worte, die Disziplin und Gesetze wiederherstellen wollen, in diesem Moment, der allen Vorstellungen und Gesetzen widerspricht – wer hat denn je von einer gern gesehenen Verbrüderung mit dem Feind gehört? – mehr als nur fehl am Platz.
Feind. Wilhelm ist kein Feind, das versteht und weiß David, auch wenn er nicht viel mehr versteht, was in diesem Moment vor sich geht. Eigentlich kann man es nur ein Wunder nennen. Es gibt keinen von oben festgelegten Beschluss einer Waffenruhe, sondern eine fast zufällig, ja willkürlich geschehen Abfolge von Ereignissen, die zu diesem Punkt geführt hat, an dem sie jetzt stehen. David ist verwirrt und zugleich glücklich, weil das hier, egal was die Generäle und Befehlshaber sagen mögen, vollkommen richtig ist.
Wilhelm lächelt und überall um sie herum sind Männer, die sich umarmen, miteinander lachen und weinen, Geschenke austauschen und in einer Mischung aus Deutsch, Gestik und Englisch miteinander kommunizieren.
Der Deutsche fängt an ein Lied zu singen und überrascht erkennt David in Wilhelm die helle, klare Tenorstimme, die den ersten Schritt gemacht hat, das erste Lied angestimmt hat.
Auch jetzt singt er wieder jenes erste Lied und auch wenn der Waliser den Text nicht versteht, so weiß er doch, was die Aussage ist. Er liest sie aus den Tränen, die sich in Wilhelms Augen sammeln, aus dem Lächeln, das er in seinem eigenen Spiegelbild sieht, aus dem Gelächter und der Freude um ihn herum.
Ohne den Text zu kennen, stimmt David ein. Willkürlich reiht er Silben aneinander, fast wie ein Gebet, andächtig gemurmelt, sorgfältig geformt.
Als sie geendet haben, zeigt Wilhelm ihm das Bild einer jungen Frau und legt es an sein Herz. Er hebt den Finger und deutet hinter sie, dort, wo Deutschland liegt.
Es sind keine Worte nötig, um dies auszudrücken und so nickt David nur.
Frieden. Das verstehen sie beide. Der Waliser und der Deutsche und zugleich alle anderen um sie herum. Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.
Ihre Sehnsucht. Ihr größtes Verlangen. Hier in Flandern am Weihnachtstag 1914.
Frieden.