Geschrieben innerhalb von 60 Minuten
»Frierst du, oder warum sind deine Finger so blau?«
Genau das passierte, wenn man eine Minute keine Handschuhe trug. Ich hüllte mich in eisernes Schweigen, als ich mein Paar aus der Jackentasche zog und mir überstreifte. Sicher vor Blicken geschützt, stecken die verfärbten Kuppen jetzt in dem schwarzen Stoff.
Nur der Typ stand immer noch neben mir und wartete.
Unter gesenkten Lidern schaute ich am schlichten braunen Mantel empor, bis ein mit Bartstoppeln übersätes Kinn in mein Blickfeld kam und ich schließlich vorbei an einer gebrochenen Nase zu wirklich schönen braunen Augen gelangte. Neugierde spiegelte sich in ihnen wider, als er mir ein Lächeln zuwarf, bei dem sich die Grübchen in seinen Wangen zeigten. Hübsch.
»Nein«, antwortete ich, wählte die folgenden Worte mit bedacht, »sie sind immer so im Winter, wenn es kalt ist.«
Ich wünschte, es würde der Wahrheit entsprechen. Dass meine Finger durch die Kälte lilafarben anliefen, aber ... das war mir leider schon lange nicht mehr vergönnt. Unabhängig von der jeweiligen Jahreszeit musste ich sie in Handschuhen verstecken oder mit einer dicken Schicht Make-up bedecken, was sich als äußerst schwierig für den Alltag gestaltete. Es reichte, wenn mein Gesicht sich unter einer zentimeterdicken Schicht versteckte, um nicht aufzufallen.
Mir blieb keine andere Wahl. Einmal untot, immer untot.
Ich kam mit diesem Zustand irgendwie zurecht. Es bedeutete, sich von der Gesellschaft weitgehend zu isolieren, aber damit hatte ich schon zu Lebzeiten kaum Probleme. Ich besaß keine Familie, die um mich trauerte. Alle beim Unfall vor vier Jahren ums Leben gekommen und nur ich hatte es überstanden, weil der Erste am Ort ein wenig Mitleid mit mir gezeigt hatte. Er war ein Untoter gewesen, der mich ebenso zu einem machte, damit ich eine zweite Chance bekam.
Selbst nach all den Jahren wusste ich immer noch nicht, ob ich ihm dafür danken oder ihn verteufeln sollte. Aber ohne ihn stünde ich jetzt nicht hier und vor mir dieser freundlich dreinschauende Mann, dem ich als normaler Mensch sicher hinterhergeschwärmt hätte. Vielleicht hätte ich ihn auch zu einem Kaffee eingeladen, wenn ich genug Mut dafür aufbrachte.
Jetzt jedoch wünschte ich ihm noch einen schönen Tag und machte mich auf dem Heimweg. Diese Existenz hielt nichts als Einsamkeit für einen bereit. Nähe funktionierte nur als Einbahnstraße, selbst mit einem anderen Untoten und leider waren zwei von unserer Sorte stets einer zu viel.
Trotzdem hatte ich es mehrmals versucht. Gab die Hoffnung nicht auf, dass es einmal nicht in einem Albtraum endete. Mich ungeschminkt aus dem Bad wagen konnte, ohne, dass mein Besuch sich erschrak und in Panik geriet. Sie alle dachten, ich wollte sie umbringen. Dabei spielte ich keine Sekunde mit diesem Gedanken. Im Gegenteil, mir ging es immer nur um simple Kleinigkeiten. Umarmungen. Kuscheln. Einander in den Armen liegen ... sich einfach etwas geliebt fühlen.
Das blieb wohl ein Wunschtraum, wenn jemand keine Möglichkeit fand, den untoten Zustand wieder umzukehren. Die Chancen dafür standen schlecht.
Seufzend warf ich einen Blick über die Schulter zurück zu der Stelle, wo der junge Mann noch immer stand und mir nachsah. Einen Schritt vorwagte, nur um wieder zurückzutreten. Schade, denn der könnte mir wirklich gefallen. Es war vielleicht besser so.
Ich zwang mich, wieder nach vorn zu schauen und ignorierte die Enge in meiner Brust. Tot zu sein, war scheiße - untot aber auch!