Hanswerner P. aus der hessischen Provinz, fährt jedes Jahr auf anraten seines Hausarztes zur Kur an die Nordsee. Eine Woche gesund leben, sagt der Arzt. Auf jemand anderen kann Hawe auch nicht hören. Denn sein Leben ist das Leben eines verlassenen, kontaktscheuen ehemaligen Sparkassenangestellten, der schon schnell für sich entschieden hat, dass der Dienst am Kunden direkt hinter dem Schalter, nichts für ihn ist. So hat sich Hawe durch geschickte Bürotricks und
überdurchschnittliche Beharrlichkeit wegloben lassen und es gelang ihm, immerhin in fast 37 Dienstjahren im gleichen Institut, sich bis zum stellvertretenden Vorstand hochzuarbeiten. Nur die Pensionierungsgrenze hat das letzte Stüfchen der Karriereleiter verhindert. Das freistehende Einfamilienhaus auf dem weitläufigen Grundstück ist schon lange viel zu groß für ihn. Im Kinderzimmer hängen noch rosa und lila Utensilien von Silke. Die ist vor siebzehn Jahren zum studieren nach England gegangen und irgendwo in Cornwall beim örtlichen Metzger hängen geblieben. Zu Besuch war sie in den letzten zich Jahren auch nicht mehr. Seine Frau hat sich aus dem Staub gemacht. Es kriselte schon lange und wirklich viel haben die beiden, nach dem Weggang der Tochter, auch nicht miteinander zu tun gehabt. Sie lebenslustig und spontan, offen für vieles: Kunst, Kochen, Handarbeit, Garten und aller möglicher Schnickschnack. Er, scheu, korrekt, gewissenhaft, ohne Hobbies oder außerdienstliche Interessen. Sie wollte oder konnte ihn wohl nicht die ganze Zeit im Haus ertragen und so flüchtete sie sich kurz vor der drohenden arbeitsfreien Zeit des Gatten, zu ihrer Tochter auf die Insel. Hawe ist insgesamt nicht unglücklich darüber, so doch
mit dem Leerzug durch seine Frau, auch der Krach und diese furchtbare Unordnung in Haus und Garten endlich aufhörte. Alles ist jetzt an seinem Platz und bleibt auch dort. Kein Schlager- oder Popgedudele, keine schiefen Töne beim Versuch dort auch noch mitzusingen, kein meckern mehr,
nur noch Ruhe! Ruhe ist daheim schon eine Woche, denn Hawe war ja kuren. Umsorgt werden, ist ja auch ganz schön, obwohl das örtliche Personal mit sprunghaften Deutschkenntnissen es wirklich nicht immer leicht hatte mit Hawe. Mal war die Schlammpackung viel zu kalt, der Tee zu heiß, das Zimmer nicht schön genug oder das vegane Ökoabendbrot nicht abwechslungsreich. Irgendwas ist immer, die Sonne scheint nicht, scheint zu viel, zu grell, zu langsam. Ansonsten ist Hawe nach dieser Woche der Abkehr von Tütenbrot und Dosenravioli in Bestform. Die Haut ist straff und rosig, 3 Kilogramm weniger am Gürtel, frisch rasiert, sauniert, massiert, malträtiert und was sonst noch für Folterungen im modernen Kurbetrieb lauern können. Guten Mutes nach dem letzten Schmalspur, wie er findet, Frühstück, setzt er sich nachdem er für das nächste Jahr an der Rezeption kostenpflichtig gebucht hat, in sein zweieinhalb Jahre altes Blechspielzeug mit Stern und jeder Menge Extras für den älteren Herren, bei dem das mit dem Geld nicht so wichtig ist. Jetzt stellt er sein Navigationsgerät auf zu Hause ein, obwohl er diese 378,5 Kilometer lange Strecke auch im Schlaf fahren könnte, so oft wie er das schon hinter sich gebracht hat.
Marianne G. wohnt in einem Reihenmittelhaus am Rand der Streugemeinde rings um den Speckgürtel des Vorortes von der großen Stadt. Die 76,57 qm reichen ihr bequem, zumal ja noch ein ebenso großer Garten dazugehörig ist. Das ist auch schon fast alles, was zu ihr gehört. Von dem Mann, mit dem sie das Prachtstück erwarb, sieht sie ,Gott sei Dank, nur noch jeden Monat auf Ihrem Kontoauszug den Namen und den Vermerk „Nachehelicher Versorgungsunterhalt“. Das ist
gut so und vom Gericht in Höhe und bis zum Sankt Nimmerleinstag so festgesetzt. Trotz relativ bescheidenem Lebensstil, reicht es nicht ganz um über die Runden zu kommen und so muss Marianne gegen Ihren erklärten Willen arbeiten. In einer schier nicht enden wollenden 20 Stunden Arbeitswoche, als Gemeindearbeiterin quasi Mädchen für alles im örtlichem Bürgerhaus spielen.
Ihre Eltern sind schon tot, Geschwister oder andere Verwandte Fehlanzeige und für eigene Kinder, naja, irgendwas störte immer und zum Schluss sogar noch der eigene Mann. Langweilig ist ihr eigentlich nie, Montags und Mittwochs ist Pilates, Dienstags geht Sie einkaufen, Donnerstag ist langer Tag, da ist das Bürgerhaus bis halb fünf offen und Freitags ist Putztag, die Woche ist weg wie nischt! An den Wochenenden schläft sie aus, lernt alles über die letzten frei lebenden Ureinwohner im Regenwald oder kümmert sich um Ihre Brieffreunde. Heute jedoch möchte sie sich nicht nur einfach so kümmern, heute macht sie einen Ausflug zur längsten und über die Jahre kann man behaupten, engsten Brieffreundin. Angefangen hat es in der evangelischen Jugend. Mehr oder
weniger freiwillig bekam sie Kontakt mit einem Mädchen aus der Zone, wie es damals hieß. Welch Wunder, die, Carola J, konnte auch schon deutsch, was die Verständigung enorm vereinfachte. Also nach dem leichten Frühstück, Ingwertee mit Ahornsirup und zwei kleine Knäcke, verlässt Marianne das Haus und schlendert mit ihrer fesselballongroßen Handtasche zu ihrem fahrbaren Untersatz. Der fast brandneue Suzuki Alto vom vertrauensvollen Gebrauchtwagenhändler an der Umgehungsstraße. Es war ein echtes Schnäppchen. Das quietschgelb war nicht die Farbe der Saison und so gab es einen ordentlichen Rabatt. Sie hatte diese eigenwillige Knutschkugel schon vorher im Blick, denn sie sucht Autos aus, wie alles andere in ihrem Leben. Es muss sauber, übersichtlich und billig sein und eigenwillig passt sehr bestimmt auch zu Marianne. Von außen betrachtet, könnte man fragen, ob der Spaß bei der Sache da nicht zwangsläufig auf der Strecke bleibt. Aber solche Reflexionen, hat Marianne nicht. Am Auto angekommen sucht sie den Schlüssel in ihrer Tasche.
Das verzögert den Start erheblich, da sie den Inhalt auf dem Gehweg ausbreitet. Erst als die mitgeführten Ersatzschuhe ausschüttelt werden, purzelt der Schlüssel heraus und landet sanft in ihrer griffbereiten Hand. Marianne, schockiert oder ärgert das eben erlebte überhaupt nicht, sie steigt in Ihre Kiste, legt den Gurt an und fährt nun tiefenentspannt in Richtung Autobahn.
Hawe biegt auf die Beschleunigungsspur der Autobahnauffahrt, setzt den Blinker, tritt aufs Gaspedal und zieht sportlich in den ohnehin zu klein geratenen Sicherheitsabstand der LKW-Kolonne. In seinem Wagen piept und blinkt es um die Wette, dauernd misst irgendein Sensor, irgendwas und teilt es irgendwie irgendwo auf den vielen stark beleuchteten Displays dem Fahrer mit. Reizüberflutung könnte man bei einer solchen Beanspruchung meinen. Mit der stoischen Gelassenheit eines Bankangestellten, nimmt Hawe alles zur Kenntnis, reagiert behände und verhindert mehrfach in einer Minute den totalen Overkill auf dem Asphalt. Es hilft nix, es ist einfach kein sinnvolles fahren möglich. Samstag um 10.00 Uhr!
Samstag um zehn, lala lala, wird‘s schon geh‘n, dichtet Marianne halblaut auf dem Fahrersitz. Die Sonne brennt schon heiß und der für die Innenstädte konzipierte Motor kocht. Leider hatte das Schnäppchen von der Umgehungsstraße keine Klimaanlage. Ein Radio war auch nicht vormontiert und aus vielfältigen Gründen hat sich das auch noch nicht geändert. Sonst hätte Marianne eventuell gehört, dass der Weg den sie vor sich hat, von Baustellen und Unfällen nur so gepflastert ist und das mit erheblichem Stau zu rechnen ist.
Nach zähen Kilometern mit durchschnittlichem Fahrradfahrertempo, kam der Brei aus Blech und Lack vollständig zum stehen. Marianne, die sowieso nicht pünktlich loskam und durch die völlig überraschenden Zustände auf Deutschlands größtem temporären Parkplatz noch mehr Zeit verliert, stellt nun fest, dass sie aktiv werden muss. Sie greift nun zum Telefon, das heißt wühlt solange inder dunklen Handtasche bis das Ding endlich in Reichweite kommt. Jetzt stellt sie mit einer Mischung aus erwartetem Entsetzen und ahnungsloser Gelassenheit fest, dass es irgendjemand vergessen hat, vernünftiger Weise vor Fahrtantritt, den Akku aufzuladen. Carola wird wohl über die Verzögerung nicht informiert werden und Marianne kann sich selbst nicht über etwaige Änderungen der Verkehrslage informieren. Nach mehren Knie und Kupplung strapazierenden Stopps & Gos,
kommt der auffällig gelbe Japaner am Hinweisschild „Autohof“ vorbei. Geistesgegenwärtig betätigt sie den Blinker und steuert beherzt auf den Parkplatz neben dem Rasthausrestaurant. Beim aussteigen greift Sie geschickt nach Ihrem Begleiter, der Tasche vom Beifahrersitz, in dem sich nahezu der gesamte Hausstand, also auch das Ladekabel, befindet. An dem mit glänzenden Metalloberflächen und hektisch leuchtenden Anzeigetafeln wartenden Verkaufstresen des Selbstbedienungsetablissement bestellt sich Marianne einen Salat der Saison und ordert noch ein Wasser mit Apfelblütenaroma, 0,25 Liter, ohne Kohlensäure und nicht aus dem Kühlschrank! So beladen steuert sie nach der Kasse in den, welch Wunder, proppe vollen Sitzbereich. An dem einzigen Tisch der noch wenigstens einen Stuhl frei hat, sitzt ein etwas älterer Herr, langsam und
genüsslich speisend. Auf dem Weg zu diesem Platz sucht Marianne verzweifelt nach einer Steckdose und bekommt das lächeln nicht mehr aus dem Gesicht, als sie feststellt, dass sich direkt neben dem Knie des Mannes das Gesuchte befindet.
Hawe hielt es nicht mehr lange auf der Autobahn aus. Nicht das der dichte und ruppige Verkehr ihm etwas ausgemacht hätten, nein, vielmehr drückte die Blase. Ein untrügliches Zeichen, dass er es beim Frühstück, mit dem lauwarmen Maschinenkaffee übertrieben hatte. Außerdem hatte Hawe seit nun fast sieben Tagen keine, in seinen Augen, anständige Mahlzeit mehr gehabt. Das tut zwar dem körperlichem Allgemeinbefinden gut, ist aber für die Moral eine Qual. Ohne Stress und als hätte Hawe es geplant, lenkt er sein Gefährt auf den Rasthof seines Vertrauens. Der Gang zur Toilette verläuft ohne Probleme und auch der Zustand dieser ist zufriedenstellend. Das nach dem Händewaschen sogar in Menge und Zustand als tadellos zu bezeichnende Papierhandtücher auf ihn warten, ringt dem ansonsten eher verschlossenen Menschen ein freundliches Lächeln ab. In leichter
Hochstimmung betritt er den Restaurantbereich und findet nach kurzer Suche auch alles was sein Herz begehrt. Schweinebraten mit Klößen und Beilage nach Wahl. Dazu ein kalorienreduziertes alkoholfreies Bier vom Fass. Es ist doch Wahnsinn, was es alles gibt! Als er dann noch den letzten freien Tisch ergattern kann, scheint das Glück vollkommen.
Hawe möchte grade das letzte Stückchen des ersten Kloßes auf die Gabel schieben, da nimmt er im Augenwinkel ein rosa Bewegung war und schaut vom Teller hoch. Das rosa war die freischwingende Korallenkette, welche Marianne um den Hals trägt. Warum, in Gottes Namen, strahlt diese Frau mich so an, fragt sich Hawe. Man kann die Freude in Mariannes Gesicht wahlweise auch als debiles Grinsen, gewinnendes Lächeln oder als feiste Freude werten. Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen und ist aber gar nicht so entscheidend, denn Hawe kann auf die Frage „Ist der Stuhl noch frei?“, gar nicht nein sagen. Erstens ist er ein höflicher korrekter Mann und zweitens ist er am heutigen Tage viel zu guter Laune, als das er sich auf einen belanglosen Streit mit einer wild fremden offensichtlich emanzipierten Frau einlassen würde. Marianne bedankt sich höflich nachdem sie umständlich Platz genommen hatte und ihre Utensilien, zum Leidwesen des Gegenüber, auf dem Tisch verteilt hatte. Als sich Hawe wieder gefangen hat, isst er weiter wie bisher, langsam, genussvoll kauend. Bevor er zum Glas greift und mit kleinen Schlucken die Braukunst der Moderne durch seine trockene Kehle schüttet, wischt er sich den bereits leeren Mund mit einer blitzsauberen Serviette ab. Das Gesamtschauspiel bleibt von Marianne vollkommen unbemerkt. Sie hat nun ganz andere Dinge im Kopf. Zum einen bemerkt sie auch, dass es Zeit für
Nahrungsaufnahme ist und der Salat mit Öl-Essig-Vinaigrette sieht fantastisch aus. Zum anderen ist sie bereits seit einigen Minuten mit ihrer rechten Hand dabei, unter dem Tisch ihr mitgeführtes Ladekabel in die von weiten erspähte Steckdose zu fummeln. Nachdem Sie mehrfach etwas in der Hand hatte das sich so anfühlte, als das es das Hosenbein ihres Tischgenossen sein müsste, beschließt Marianne sich so normal wie möglich zu geben, ihm einfach direkt in die Augen zu schauen und zu lächeln.
Hawe ist irgendwie anders zu mute. Er ist sich nicht gewiss, ob es an der soeben zu sich genommenen Nahrung oder an der immer noch freundlich strahlenden Erscheinung liegt. Die hat zwar ihr Grünzeug vor sich abgestellt, aber aus irgendeinem Grund nicht mit dem Essen angefangen. Erschwerend kommt hinzu, dass er das Gefühl nicht los wird, ein Hund oder werweißsonstwas macht sich an seinem Hosenbein in Kniehöhe zu schaffen. Leider ist Hawe von Hause aus überhaupt nicht gelenkig genug um aus dieser Position unter den Tisch zuschauen. Er möchte seine Position auch gar nicht ändern, denn was er sieht, strahlende Frau mittleren Alters, und was er fühlt, Streicheleinheiten am Knie, gefällt ihm sehr. Es ist zwar beides schon Ewigkeiten her, aber er möchte jetzt, das dieser Moment niemals endet.
In diesem Moment hat Marianne den Stecker perfekt installiert und kann endlich ihr reichhaltiges Mittagsmal beginnen.
So bekommen alle, zumindest zeitweilig, was sie wollen, Wünsche werden erfüllt, bevor diese formuliert sind und das in einer Selbstbedienungskaschemme am Rande der Autobahn mitten im Nirgendwo!
Völlig gegen die üblichen Gewohnheiten von Hawe, beginnt er das Gespräch! Lange, ohne Punkt und Komma und vielleicht auch ein wenig ungelenk da Mangel an Übung, versucht er, seiner nicht unattraktiven Tischgenossin, etwas näher zu kommen! Zum Glück für ihn, versteht Marianne kein einziges Wort von ihm. Denn in der akustisch ohnehin überladenen Atmosphäre fängt sie mit leicht nach unten hängendem Kopf, im genau gleichen Moment an zu sabbeln um sich für die Tätlichkeit zu entschuldigen. Als beide von ihrem jeweiligen Monologen derart erschöpft sind, dass sie gleichzeitig verstummen, kommt es am Tisch mit der Steckdose zum allgemeinen Gefühl, eine gepflegte Unterhaltung zu führen. Daraus entwickelt sich tatsächlich einen für beide Seiten angenehmes Gespräch. Marianne nimmt überraschender Weise, die von Hawe ausgesprochene Einladung zu einem Verdauunungskaffee auf der zum angrenzenden Wald gelegenen Terrasse an.
Während des gesamten Nachmittags plaudern die zwei nun über dies und das und vergessen ihre eigentlichen Vorhaben. Als die Sonne langsam hinter den ca. 90 Jahre alten Kiefern versinkt, fahren die erschreckten Plaudertaschen von ihren Stühlen hoch und schauen benommen auf die Uhren.
Verdattert und ein wenig von Ihren Erfahrungen des Nachmittages berauscht, tauschen sie noch ihre Telefonnummern aus.
Beseelt wie Hawe ist, hat er nun sichtliche Schwierigkeiten seinen windschnittigen Untersatz zu finden. Als er sich dann auf den Fahrersitz gleiten lässt, stellt sich die gewohnte Routine ein, mit der er sicher, regelkonform aber zügig die Heimfahrt fortsetzt.
Mit dem ersten klingeln nimmt Carola den Anruf von Marianne entgegen. In dem kurzen Gespräch versucht sie Anfangs eine Erklärung für die spontane Planänderung ab zu geben, bricht aber freundlich und bestimmt ab und verweist auf ihre baldmöglichst kommende Briefe. Verwirrt und herzerfrischt, steigt sie in ihr Autochen, sucht nach der Richtigen Ausfahrt und braust in heimatliche
Gefilde. Denn für den Weg zu Carola ist der Tag nicht mehr jung genug.