Leise quietscht die alte Kinderschaukel im Wind hin und her.
Es kommt mir vor, als ob ich gerade noch darauf gesessen und von Fliegen geträumt hatte. Als wäre ich bloss abgestiegen und die Schaukel würde sich einfach immer noch bewegen.
Aber ich weiss, dass es nicht so ist. Seit ich das letzte Mal hier war, ist viel passiert. Zu viel.
Und wenn ich die Schaukel so sehe, dann denke ich, dass es besser gewesen wäre, nicht herzukommen.
Aber jetzt bin ich schon hier und meine Füsse bewegen sich wie von selbst über das verdorrte Gras vorwärts. Dort wo früher das Zirkuszelt gestanden hatte, war jetzt nichts weiter, als ein grauer Fleck.
Nach der Katastrophe damals hatte der Zirkus die Stadt innerhalb weniger Stunden verlassen und war nie wieder zurückgekommen. Sie hatten so viel mitgenommen, wie sie konnten und den Rest stehen lassen. Es war nie wieder jemand hier gewesen. Nicht einmal die Jugendlichen aus dem Ort, die sich ansonsten immer einen Jux daraus machten, an irgendwelchen gruseligen Orten Mutproben durchzuführen.
Das einzige Gebäude des Zirkus’, das noch mehr oder weniger intakt ist, ist das Spiegelkabinett. Die schwarze Farbe des Baues ist beinahe komplett abgeblättert und die Türe fehlt, aber ansonsten steht es noch.
Wie ferngesteuert bewege ich mich darauf zu. Als ob ich glaubte, dort die Antwort auf all meine Fragen zu finden.
Bilder schiessen mir durch den Kopf. Eine Frau die weint, schreiende Kinder, ein Schatten.
Energisch schüttle ich den Kopf und sehe mich um. Wo der Himmel vorhin noch strahlend blau gewesen war, so hängen nun bleierne Sturmwolken daran. Ein kräftiger Wind weht.
Vor dem Kabinett bleibe ich einen Moment stehen und schaue über meine Schulter zurück. Die Schaukel bewegt sich immer noch auf und ab und für einen winzigen Moment glaube ich, zwei kleine Mädchen auf der anderen Seite der Lichtung im Wald verschwinden zu sehen. Als ich ein zweites Mal hinsehe, sind die beiden verschwunden.
Meine Hand zittert, als ich mir damit hektisch über die Augen wischte, bevor ich den Raum betrete.
Scherben knirschen unter meinen Schuhsohlen und ich mache schnell ein paar Schritte weiter in den Raum hinein.
Das spärliche Licht, das durch die Öffnung hinter meinem Rücken ins Innere des Gebäudes dringt, erhellt das Kabinett nur wenig.
Im dämmrigen Halbdunkel taste ich mich vorsichtig weiter voran. Meine Finger berühren kaltes Glas und ich fahre vorsichtig über die Risse darin.
Als ich den Kopf nach links wende sah ich einen Fuss mit einer roten Sandale um die Ecke verschwinden.
Ich hole überrascht Luft und mache ein paar Schritte in die Richtung, in die das Mädchen verschwunden ist. Ich knalle mit voller Wucht gegen einen Spiegel und spüre sofort den Schmerz, der mir den Atem raubte. Als ich aufblicke schaute mir eine junge Frau in die Augen, über deren Schläfe ein schmales Rinnsal aus Blut läuft.
Im ersten Moment mache ich instinktiv einen Schritt nach hinten, bis ich bemerke, dass es ich selbst bin, die ich da im Spiegel sehe.
Mein Spiegelbild lächelt mich an. Je länger ich hinsehe, desto mehr verzieht sich der Mund zu einem hämischen Grinsen. Ich fasse mir an den Mund. Ich lache nicht. Und als ich wieder nach vorne schaue sehe ich, dass die Frau im Spiegel nicht wie ich vor den Mund geschlagen hat, sondern dass sie ihren Arm nach mir ausstreckt.
Er taucht durch das glänzende Material des Spiegels hindurch und streckt sich mir entgegen. Ich bin so fasziniert davon, dass ich erst zu laufen beginne, als die Hand nur noch Zentimeter von meiner Kehle entfernt ist. Ich stosse einen gellenden Schrei aus und renne in die andere Richtung davon – tiefer in das Labyrinth hinein.
Ich begreife nicht, dass es eben die Richtung ist, in die vorhin auch das kleine Mädchen gerannt ist, dass es genau diese Richtung ist, wo man mich haben will. Ich höre nur das hysterische Lachen hinter mir und kann gar nicht schnell genug rennen.
Immer wieder schlage ich gegen die Spiegel und stolpere über am Boden liegende Gegenstände, aber ich schaffe es, auf den Beinen zu bleiben.
Nach ein paar Ecken ist das Tageslicht endgültig verschwunden und ich irre durch völlige Finsternis.
Plötzlich sehe ich vor mir etwas Helles und als ich aufschaue, steht dort das kleine Mädchen in dem weissen Kleid mit den roten Sandalen, das vorher vor mir davongerannt ist. Das Kind hielt eine Kerze in der Hand und schaut mich aus grossen, unschuldigen Augen an.
Atemlos sinke ich auf die Knie und strecke zitternd meine Hand nach dem Mädchen aus. Ich habe sie so oft in meinen Träumen gesehen. Habe gesehen wie sie mich anschaut, mit diesen grossen, blauen Augen.
Aber das hier ist kein Traum. Das hier ist die Realität und das Mädchen dreht sich um und verschwindet tiefer im Kabinett. Ohne lange zu überlegen folge ich ihr und dem Licht, das sie in der Hand trägt.
Wenn ich von ihr träumte, wollte ich ihr immer die gleiche Frage stellen. Die Frage, die ich ihr schon immer hatte stellen wollen, aber immer, wenn ich sprechen wollte, konnte ich meinen Mund einfach nicht mehr bewegen. Hier würde mir das nicht passieren.
Ich bleibe ruckartig stehen, als wir einen Raum, wohl in der Mitte des Labyrinthes erreichen, in dem sogar die Decke und der Boden aus Spiegel bestehen.
Schwer atmend drehe ich mich im Kreis. Das Licht der Kerze spiegelt sich hunderte Male in den Wänden des Raumes.
Als ich mich zu dem Mädchen herumdrehe ist es verschwunden und auch das Licht scheint nur noch aus den Wänden zu kommen.
Panisch sehe ich mich um, da betritt ein Clown mein Sichtfeld. Er hält eine Tüte Popcorn in der Hand und lächelt mich an. Ich bin wieder sechs Jahre alt und stehe neben meiner besten Freundin. Wir kaufen dem Mann eine Tüte ab und gehen Hand in Hand weiter.
Ich sehe das Bild klar vor mir. Ich höre unser Gelächter und das Geräusch unserer Schritte auf dem Rasen.
Plötzlich ist da ein zweites Bild und dann ein drittes und ein viertes, bis der ganze Raum mit Szenen dieses Tages gefüllt ist. Die Seiltänzerin, in ihrem rosa Kostüm und die Laterne vor dem Eingang zum Wahrsager-Zelt.
Als unser Lachen den Raum erfüllt, begreife ich, was sich hier spiegelte. Es sind meine Gedanken und meine Ängste. Und in diesem Moment weiss ich, woran ich auf gar keinen Fall denken darf.
Aber es ist bereits zu spät.
An den Wänden läuft Blut herab, ein gellender Schrei übertönt das fröhliche Kinderlachen.
Ich sehe mich selbst durch den Wald rennen und meine Freundin auf dem Waldboden liegen. Ich sehe das Blut, das aus ihrer Kehle auf ihr weisses Kleid tropft.
Und ich höre mich selbst immer und immer wieder die gleiche Frage schreien. Auch als die Spiegel längst nicht mehr das kleine Mädchen, sondern eine Gestalt, das Gesicht zu einer lachenden Grimasse verzogen, zeigen, kann ich nichts anderes tun als zu schreien: «Wieso bist so böse auf mich? Ich wollte doch nur spielen.»
Und genau diese Worte sagt das kleine Mädchen jetzt zu mir, als sie aus den Spiegel auf mich zutritt.