Es war einmal ein Schmetterling. Kaum war er seinem Kokon entschlüpft, da blendete ihn die Sonne und er hörte eine Stimme: „Du hast zu wenig Beine.“
Er tastete sorgfältig seinen Körper mit den Fühlern ab und musste zugeben: Viele Beine hatte er nicht.
„Du kannst nicht an einem Grashalm hochklettern wie wir“, hörte er seltsam dicke Wesen sagen. Sie liefen auf vielen Beinen dicht über den Boden. „Und erdnah bist du auch nicht“, sagten sie.
Traurig nickte der Schmetterling. Alles, was diese Wesen sagten, war wahr. Und da er geboren war mit dem Glauben, dass viele Beine das wichtigste sind, was den Wert eines Geschöpfes ausmacht, hielt er sie für überlegen. Da wollte er auch lernen, wie sie zu sein. Also befragte er sie nach allem, was sie ihm über den Sinn des Lebens sagen konnten.
Sie sprachen von den Blättern, die sie aßen, und von ihrem großen Traum, eines Tages eine Transformation durchzumachen. Danach würde es ihnen viel besser gehen.
Das interessierte den Schmetterling besonders. Also merkte er sich alles, was sie dazu zu berichten wussten. Offenbar brauchte man einen Kokon, um sich darin aufzulösen und am Ende schließlich auf wundersame Weise ganz anders zu sein.
„Aber das schaffen nur die wenigsten. Und du hast ja nicht mal genug Erdnähe“, fügte eine fette Raupe hinzu.
Der Schmetterling seufzte, denn sie hatte recht. „Und ich habe ja nicht einmal so viele Beine wie du.“ Er überlegte und überlegte und schließlich setzte er sich auf ein Blatt. Hier versuchte er, einen Kokon zu spinnen.
Das sah ein anderer Schmetterling. „Was tust du da?“
„Oh, ich mache mir einen Kokon, das braucht man auf dem Weg der Transformation.“ Der andere Schmetterling fühlte sich verwirrt und flog davon.
„Kokon spinnen ist richtig mühsam“, belehrte der Schmetterling eine Libelle, die vorbei schwirrte.
Sie antwortete nicht und war schon bald wieder verschwunden.
Schließlich hatte der Schmetterling etwas zustande gebracht, das wenigstens ein bisschen wie ein Gefäß aussah.
Da bekam er erneut Besuch von dem anderen Schmetterling. Der lachte. „Du brauchst doch keinen Kokon.“ Damit flatterte er davon.
Doch der Schmetterling, um den sich diese Geschichte dreht, ließ sich nicht beirren und versuchte, in den Kokon hinein zu kommen. Das tat den Flügeln mächtig weh.
Als er sich darüber beklagte, sagte eine Raupe: „Siehst du, du bist noch nicht so weit. Man fühlt, wenn es so weit ist, das man einen Kokon braucht.“
Der Schmetterling war enttäuscht. Er wollte unbedingt dazu gehören.
Er setzte sich auf sein Blatt und weinte.
Als seine Tränen versiegt waren, schlief er ein.
Im Traum bekam er Besuch von einem seltsamen Wesen mit bunten Flügeln. Es flatterte um ihn herum und rief seinen Namen: „Candor, Candor.“
Der Traum bewegte ihn tief, aber er konnte nicht sagen, wieso. Also erzählte er seinen Traum den Raupen.
Die verstanden ihn nicht und meinten, er solle vielleicht einmal akzeptieren, dass er noch nicht so weit sei, und ein ordentliches Leben führen. „Das wird schon, das wird schon“, versuchte ihn die fette Raupe zu beruhigen. Dann biss sie in Candors Blatt.
Der erschrak: Das Blatt wankte, sein mühsam gesponnener Kokon kam ins Rollen und fiel. „Mein Kokon“, schrie er und wackelte mit den Flügeln. Ganz instinktiv. Zum ersten Mal verließ er den Boden unter seinen Füßen. Ein wohliges Gefühl durchströmte ihn. Obwohl er bald wieder landete, blieb die Erinnerung.
„Füße, Füße“, sagte die dicke Raupe, schüttelte den Kopf und wackelte von dannen.
Doch dieses Mal ließ sich Candor nicht beirren. Von nun an wedelte er regelmäßig mit seinen Flügeln und jedes Mal konnte er ein wenig weiter fliegen. Bald traf er andere Schmetterlinge, Libellen und Bienen. Sie tanzten von Blüte zu Blüte, tauschten sich über die Schönheit der vielen Blüten aus und zeigten sich lauschige Plätzchen am Ufer eines Sees und in den Gärten.