„Papa, Papa!“ Was ist das da?“ Noch während meine kleine Tochter ein wenig unbeholfen auf mich zu rannte, deutete ihr Finger auf einen leuchtenden Punkt am Horizont.
„Ich weiß es nicht, Spatz. Komm wir gehen hinein zu deiner Mutter.“ Ich hob sie mir auf die Schultern, wobei sie fröhlich gluckste. Nachdem ich einen letzten, beunruhigten Blick auf das unnatürlich grüne Licht knapp über der Meeresoberfläche geworfen hatte, stapfte ich die letzten Schritte durch aufgeweichten weißen Sand landeinwärts.
Die spätsommerliche Sonne tauchte den Himmel in knalliges Rot und ließ mich beinahe vergessen, dass die ersten Herbststürme nicht mehr lange auf sich warten lassen würden. Aus jedem schmalen Schornstein der windschiefen Hütten unseres Dorfes stieg Rauch auf und neben jeder Eingangstür standen Trockengestelle, an denen Fische in verschiedenen Größen hingen. „Na los geh schon mal rein, Kleines.“ Behutsam setzte ich meine Tochter zurück auf festen Boden, wobei sie leise kicherte. „Aber komm gleich nach. Mama wartet nicht gern.“
Mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen sah ich ihr nach. Sie war so unschuldig und hatte die Härte des Lebens noch nicht kennengelernt. Ihre beiden älteren Brüder lebten und arbeiteten beim Müller im Nachbardorf und schauten vielleicht dreimal pro Zyklus bei uns vorbei. Seufzend setzte ich mich auf die verwitterte Bank vor unserem Haus und holte ein kleines Messer hervor. Mein Vater hat mir das Messer vermacht und er selbst hatte es von seinem Vater. Trotz der vielen Jahre des Gebrauchs war die Klinge scharf und ohne Rostspuren. Mein ältester Sohn hatte mich einmal gefragt, ob das Messer verzaubert sei, doch an Hokuspokus habe ich noch nie geglaubt. Fachmännisch trennte ich die Muscheln, welche seit dem Mittag in einem Eimer auf mich warteten, auf und ließ das weiche Fleisch in eine Holzschüssel neben mir gleiten. So arbeitete ich vor mich hin, während die Sonne versank. Gerade als die letzten Strahlen mein Gesicht beleuchteten, bemerkte ich einen matten Glanz zwischen den halboffenen Muschelhälften. Vorsichtig drückte ich das Messer in den Spalt und versuchte behutsam, die Muschel zu öffnen.
Meine Augen weiteten sich, sobald ich das komplette Innenleben im Zwielicht erkennen konnte. Umgeben von dem weißlichen Fleisch der Muschel präsentierte sich mir eine perfekt runde Perle, die etwa die Größe eines Auges hatte. Ich wusste, dass im Herbst einige Händler im Nachbardorf Halt machten, wenn sie auf dem Weg zu den großen Städten im Flussdelta waren. Diese Perle würde uns nicht nur durch den Winter bringen, sondern mit ein wenig Glück auch kleinere Reparaturen an der Hütte ermöglichen.
Das Quengeln meiner Tochter riss mich aus meinen Gedanken. Da die nächtliche Dunkelheit bereits um sich griff, wollte ich hinein gehen, doch etwas ließ mich stutzen; das grüne Licht am Horizont schien näher gekommen zu sein. Zumindest meinte ich bei einem letzten Blick in Richtung Meer, dass der Lichtpunkt größer war als noch vor wenigen Stunden. >Das ist absurd. Es fällt einfach nur mehr auf, jetzt wo die Sonne untergegangen ist<, argumentierte meine Vernunft; mit Erfolg. Bereits wenige Momente später waren meine Bedenken wegen des unnatürlichen Leuchtens von dem kindlichen Lachen und dem herzerwärmenden Anblick meiner kleinen Tochter mit ihrem leicht verquollenem Gesicht davon gespült worden.
„Schau mal, was ich gefunden habe. Liphana war mit uns.“ Ich legte die Perle auf den grob gemaserten Holztisch ab, im selben Moment weiteten sich die Augen meiner Familie.
„Wir sollten der Meeresgöttin gleich morgen früh ein Opfer bringen als Dank für das, was ihrem nassen Reich entsprungen ist“, sprach meine Frau mit Tränen in den Augen. „Wenn du so vor den anderen sprichst, jagen sie dich aus dem Dorf“, erwiderte ich mit gespieltem Ernst.
In emotionalen Momenten hörte man ihre städtische Aufbringung, obgleich ihre Kindheit in einem Hurenhaus stattgefunden hatte, heraus. Meine kleine Tochter hingegen blickte unterdessen verängstigt auf den kleinen Schatz: „Papa, die Kugel schreit. Sie hat Schmerzen.“
„Aber nein, Spatz. Perlen haben kein Empfinden.“ Innerlich seufzte ich; mein Großvater hätte diese Ansicht geteilt. Für ihn war jede Perle das Gefängnis für die Seelen der Ertränkten und damit für die Lebenden gefährlich, da die eingesperrte Seele einen neuen Körper wollte.
„Bitte Papa“, meinem kleinen Engel kullerten Tränen über das Gesicht: „Bring die böse Kugel weg.“
Der Rest verlor sich in unkontrolliertem Schluchzen.
„Du wirst sehen, morgen ist die böse Kugel verschwunden.“ Ich hob sie auf den Arm und trug sie zu ihrem Bett hinüber. Behutsam deckte ich sie zu: „Schlaf jetzt, es ist schon spät.“
Widerwillig drehte sie sich weg von mir und wenig später hörte ich lediglich ihre gleichmäßigen Atemzüge. Meine Frau konnte ihren Blick nach wie vor nicht von der Perle abwenden, und für einen Moment meinte ich, ein milchig grünes Flackern in ihren Augen zu sehen. Doch auf den zweiten Blick wirkte alles wie immer. „Diese Perle wird unser Leben verändern“, flüsterte sie mir ins Ohr, nachdem wir im Bett lagen. „Ich werde morgen ins Nachbardorf gehen. Dort weiß sicher jemand, wann die Händler das nächste Mal dort Halt machen werden“, entgegnete ich ebenso leise. Kurz darauf weilten wir alle im Reich der Träume.
Doch als ich erwachte, herrschte draußen eine undurchdringliche Finsternis. „Schatz, was ist los?“, murmelte meine Frau im Halbschlaf, doch ich brachte es nicht über mich, ihr von meiner schlechten Vorahnung zu erzählen. Stattdessen küsste ich zärtlich ihre Stirn: „Es ist nur ein wenig dunkler als sonst, kein Grund zur Sorge. Ich fahre jetzt ein letztes Mal raus, bevor die Stürme kommen.“
Ein klein wenig schlaftrunken tapste ich barfuß durch den Raum, bis ich meine Tunika und die kratzigen Wollwickel fand. Es dauerte noch einige Minuten, bis ich endlich vor die Tür treten konnte. Einer spontanen Eingebung folgend steckte ich die Perle in den kleinen Beutel an meinem Gürtel. „Wollen wir doch mal sehen, ob du mir nicht Glück bringen kannst“, flüsterte ich gedankenverloren. Draußen war es kalt und derart neblig, dass ich kaum fünf Schritt weit sehen konnte. Meiner Nase und dem Geräusch der Brandung folgend ging ich zum Strand; über mein Boot fiel ich mehr, als dass ich es tatsächlich fand. „Wie soll man sich bei dieser Suppe auch orientieren“, fluchte ich leise, während ich mich wieder aufrappelte. Lass mich dir helfen, säuselte da ein leises Stimmchen: Ich kann sehr hilfreich sein.
„Wer bist du? Und wie willst du mir hier helfen?“, rief ich in den Nebel hinein, was den Fremden zu amüsieren schien, da kurz darauf ein Lachen erschallte, dessen Ursprung ich nicht ausmachen konnte.
Du brauchst nicht so laut zu schreien, ich bin ganz in der Nähe.
„Wo denn bitte? Ich sehe einen feuchten Dreck in diesem Nebel.“ Langsam kamen mir erste Zweifel an meinem Geisteszustand, da ich nach wie vor nicht einmal den Schemen einer anderen Person in der näheren Umgebung ausmachen konnte.
Greif in die Tasche, wies mich die Stimme an. Nebst einigen Flusen förderte ich auch die Perle wieder zu Tage, welche ein schwaches, grünliches Leuchten absonderte.
Siehst du, mit deinem Kopf ist alles in Ordnung. Wenn du meine Hilfe willst, musst du mich in den Sand legen und mir sagen, was ich machen soll.
„Und was ich dir sage, passiert dann. Einfach so.“
Ich setzte ein skeptisches Gesicht auf, wer weiß ob die Perle mich sehen konnte.
Einfach so, antwortete die Stimme.
„Na gut, dann sorge dafür, dass der Nebel verschwindet.“ Ich sprach die Worte, während ich die Perle vorsichtig in eine kleine Mulde am Strand legte. So soll es geschehen, das Wetter möge dir von nun an keine Probleme mehr bereiten.
Ich stutze, da die Stimme ausgesprochen fröhlich, ja geradezu euphorisch klang. Zuerst langsam, dann immer schneller begann das grüne Leuchten der Perle zu pulsieren und steigerte seine Strahlkraft, bis ich die Augen vor dem grellen Licht abwenden musste. Innerhalb weniger Augenblicke war der Zauber verflogen und tatsächlich lichtete sich nun auch der Nebel zusehends. Gerade als ich der Perle meinen Dank aussprechen wollte, stoben die letzten Nebelfetzen auseinander und gaben den Blick auf mehrere Kriegsschiffe unweit des Strandes frei.
Ich erstarrte, während mein Blick über die verfluchten Galeonen streifte. Ein jeder Schiffsrumpf war von Löchern übersät, dennoch trieben diese Ungetüme auf dem Wasser, als wäre sie gerade erst vom Stapel gelaufen. Die Galionsfiguren jedoch ließen meine Panik wachsen. Anstelle der erwarteten Holzarbeiten bestanden diese ausnahmslos aus Gebeinen, ob menschlich oder nicht, vermochte ich nicht zu sagen. Mir wurde übel, während ich Galle und die Reste meiner letzten Mahlzeit auf den Strand erbrach, hörte ich wieder die Stimme.
Nun, wie gedenkst du mich zu entlohnen?
„Ich habe kein Geld für dich, falls du darauf hofftest“, erwiderte ich zitternd.
Ach, um Geld ging es mir nie, ich bevorzuge aufgrund meines Zustand Naturalien. Im nächsten Moment blitzte die Perle grellweiß auf und meine Welt versank in Finsternis.
„Männer! Wir sind da, Zeit an Land zu gehen“, brüllte ich meiner Mannschaft auf den Schiffen zu.
So leicht es für mich gewesen war, den Körper des Fischers zu übernehmen, so nervtötend empfand ich den Klang meiner neuen Stimme, die für einen derart kräftigen Menschen erstaunlich piepsig war.
Vom Strand aus konnte ich beobachten, wie meine untoten Brüder zu Hunderten über die Reling ins Wasser sprangen; dennoch dauerte es quälend lange, bis mein Adjutant endlich vor mir stand.
„Sir, die Truppe erwartet eure Befehle!“
Ich verzog angewidert mein Gesicht, als ich daran erinnert wurde, dass der Tod zum Himmel stinkt. „Gut, folgt mir. Wir müssen die Küstenlinie auf die Ankunft des Meisters vorbereiten.“
>Und ich werde mich dieses Balges entledigen<
Das kleine Menschenkind konnte doch tatsächlich verborgene Seelen sehen, also besser gleich erledigen, bevor es so enden würde wie damals mit dem alten Mann. Unterdessen stapfte meine Mannschaft bereits den Strand entlang, sie hinterließen einen Flickenteppich aus Algen, Fleischfetzen und aufgeweichtem Boden.
„Männer, entlang dieser Küste wimmelt es nur so von Fleischlingen. Wenn der Meister in drei Tagen hier eintrifft, soll er nur Material für seine Experimente vorfinden. Schlachtet sie alle ab!“
Zustimmendes Geklapper ertönte, da die meisten Stimmbänder bereits vor Jahren entweder der Witterung oder den Maden zum Opfer gefallen waren. Geschlossen stapften wir in das erste Dorf. Kaum stieß ich die Türe des ersten Hauses auf, blickte mir genau das Balg vom Vorabend entgegen.
„Was ist denn, Liliane?“ Die ältliche Menschenfrau blickte mich nun auch an. „Das ist doch nur Papa“, versuchte sie ihre Tochter zu beruhigen, die binnen Sekunden einen ausgewachsenen Heulkrampf entwickelt hatte.
Ich versuchte ein unschuldiges Lächeln aufzusetzen, bevor ich einige Schritte in das Haus machte. „Das Weib hat Recht“, lenkte ich ein, jedoch wurde mir dadurch die ungeteilte Aufmerksamkeit geschenkt. „Was hast du gerade...“, der Rest ihres wutentbrannten Ausrufs ging im Knacken ihrer eigenen Knochen unter, nachdem ich erst ihren auf mich zu sausenden Arm brach und anschließend genüsslich das Leben aus ihrem blassen Hals herausdrückte.
Kaum dass ihr lebloser Körper auf dem dreckigen Boden aufschlug, griff ich mir bereits das immer noch schreiende Kind und schleifte es nach draußen, wo mein Adjutant wartete.
„Steckt das hier in Brand und sieh zu, dass nichts als Asche von ihm übrig ist“, blaffte ich ihn an.
„Jawohl, Sir!“ Der modrige Knochenhaufen in Rüstung salutierte, bevor er aus einigen Trümmern unter zu Hilfenahme dunkler Magie ein bläulich glimmendes Feuer schuf. Zufrieden betrachtete ich das kreischende Bündel, welchem in Mitten der Flammen das Fleisch von den Knochen geschält wurde, während es nach und nach zu Asche verbrannte.