27.Sonnenkreis, Zyklus 1034
Westliche Ausläufer des Eispfeilergebirges
Seit Wochen hielt der Winter die Zwergensiedlung fest umschlossen. Die Schneemassen vor dem Tal zum Gebirge hatten sich derart aufgetürmt, dass man mittlerweile genauso gut an der Oberfläche Tunnelsysteme ausheben konnte. Das einzige erkennbare Zeichen von Zivilisation in dieser Gegend war der aus dem Stein herausgearbeitete Wehrturm, von dem einige kleine Rauchfahnen in den Himmel stiegen. „Verflucht seien unsere Vorväter, dass sie an diesem unwirtlichen Ort einst siedelten“, grummelte Torib in seinen steifgefrorenen Bart. Zischend vergingen ein Paar Schneeflocken in der Kohlenpfanne, an der er sich zu wärmen versuchte.
Aus dem Turminneren ertönten schwere Schritte, zugleich erscholl ein heiteres Lachen. „Das sagst du jedes Mal, wenn du hier oben Schicht schieben musst.“ Am oberen Treppenabsatz erschien ein zweiter Zwerg, der seine Rüstung gegen einen wahren Berg von Fellen eingetauscht hatte; die goldbesprenkelten Gesichtszüge blickten freundlich drein: „Sieh es doch mal so Torib: bei diesem Wetter kommt hier niemand vorbei, also kannst du deinen Wachdienst komplett bei deiner heißgeliebten Kohlenpfanne verbringen und anschließend wieder hineingehen.“
Torib musste grinsen: „Und ausgerechnet so ein Spruch kommt von dir, Ungrim, während du hier – in mindestens drei Ziegen gekleidet – vor mir stehst.“
„Recht hast du, mein Freund.“ Ungrim zog zwei kleine Becher und einen Flachmann unter den Fellen hervor: „Hier, das wärmt dich besser als das Feuer.“ Er reichte Torib einen der gefüllten Becher, von dem ein metallisch-süßer Geruch ausging.
„Ich mag die Elben zwar nicht, aber etwas Besseres als ihren Blutwein gibt es nicht, um sich aufzuwärmen.“ Torib stürzte den Becherinhalt hinab; gleich darauf erfüllte ihn ein angenehmes Kribbeln, welches sich in wenigen Augenblicken in seinem ganzen Körper verteilte.
„Besten Dank.“ Er gab den leeren Becher zurück und blickte flüchtig über die verschneite Ebene zu seinen Füßen; alles Weiß, keine Fußspuren im Schnee und außer den tanzenden Flocken keine Bewegung. „Gerne doch. Ich werd dann mal wieder, angeblich sollen sie im Nordstollen auf eine natürliche Höhle gestoßen sein, aber keiner von den Pionieren traut sich hinein.“
Damit verschwand Ungrim wieder von der Aussichtsplattform. Torib hockte sich wieder vor die Kohlenpfannen und versuchte abzuschätzen, wie lange er noch Wache schieben musste. Die Zeit verstrich quälend langsam, doch immerhin hörte es auf zu schneien. Umgeben von blendendem Weiß starrte Torib lustlos in die Luft. Gerade als ihm die Augen vor Langeweile zuzufallen drohten, erschien am Rande seiner Sichtweite ein schwarzer Punkt, welcher sich auf den Stolleneingang zu bewegte. Erstaunt rieb sich Torib die Augen, doch der schwarze Punkt näherte sich weiterhin.
>Wie Lebensmüde muss jemand sein, um bei diesem Wetter zu uns zu kommen?<
Im Vorbeilaufen ließ er seine Augen über die kunstvollen Fresken schweifen, welche seine Vorväter in den Stein getrieben hatten: Vom Eingang aus hatten seine Leute in dem Berg, der ihre Heimstatt war, die Geschichte fortlaufend verewigt. Je tiefer man hineinging, desto jünger wurden die verzeichneten Ereignisse, während die Entdeckung der Pestilenzzinnen und dieser ursprünglich natürlichen Kaverne direkt am Eingang zu finden waren. Er besah sich das schier endlose Band aus Namen, welche die meisterlichen Bildhauerarbeiten einrahmten. Alle Zwerge, welche mitgewirkt hatten und nun mit Ba'zharad – ihrem Schöpfer – an den zeitlosen Essen weilten, waren in das Gestein getrieben worden. Torib schauderte in Ehrfurcht, als er an der Abbildung einer Wyvern vorbeitrabte, welche die Kaverne einst ihr Nest nannte. Für den ungebrochenen Widerstand, den diese Kreatur im Kampf geleistet hatte, hatte die Vorfahren in der alten Haupthalle eine elf Meter hohe Statue errichtet. Nun erhoben sich vor ihnen die gewaltigen Portalflügel aus Granit, welche geschlossen eine lückenlose Wand bildeten; nicht einmal das kleinste Schneeflöckchen käme hier hinein.
„Torib, nu pack auch mit an“, rief ihm der unbekannte Zwerg zu. Aus den Erinnerungen seines Volkes gerissen, eilte Torib an die große Winde für die Torflügel. Knirschend öffnete sich das Portal und sofort rutschte eine kleine Schneelawine in die Zwergensiedlung.
„Das genügt!“, brüllte Torib gegen den heulenden Windzug an, den sie geschaffen hatten. Die große Winde stellte die Arbeit ein, kaum hörbar klitterten die Glieder der großen Eisenkette, als diese sich spannte, gegeneinander.
„Dann wollen wir doch mal schauen, ob du Recht gehabt hast.“
Der fremde Zwerg schnappte sich eine der am Eingang liegenden Schaufeln und begann damit, den eingedrungenen Schnee zu einer halbwegs festen Rampe zu klopfen. Bevor Torib sich dazu aufmachte, ihm zu helfen, fragte er einen der anderen Zwerge im Vorbeigehen: „Wie heißt er? Ich habe ihn hier noch nie zuvor gesehen, sollte mich meine Erinnerung nicht täuschen.“
„Er sagte, dass sein Name Ka'zdo ist. Aber deine Erinnerung ist korrekt, er kam erst vor etwa 20 Sonnenkreisen aus dem Westen zu uns.“
„Aus dem Westen...“, murmelte Torib leise. Kurz bevor dieser Schneesturm hereingebrochen war, hatten sie aus den umliegenden Ortschaften die Gerüchte über ein kleines Reich im Westen gehört. Angeblich kam dieses Reich ohne Arkangestein aus und hatte ein merkwürdiges Pulver entwickelt, dass eine Druckwelle auslöste, wenn man es entzündete. Einige junge Zwerge waren daraufhin ausgezogen, um dort Arbeit zu finden. Torib hingegen hatte es nur für das übliche Geschwätz der Waschweiber gehalten und schnell wieder verdrängt.
„Danke, Freund.“ Torib eilte an dem Zwerg vorbei um schnellstmöglich zu Ka'zdo aufzuschließen, welcher bereits kurz vor den Portalflügeln tapfer den Schneemassen entgegentrat. „Bei Thanorik! Torib hat Recht, da draußen nähert sich jemand!“
„Natürlich kommt da jemand, ich mag zwar nicht mehr der Jüngste sein, aber blind bin ich deswegen noch lange nicht“, grummelte Torib am Fuß der Schneerampe in seinen Bart.
Während er die Rampe erklomm, sammelte sich der Rest seiner kleiner Truppe mit Schaufeln an der Schneekante und begann damit Stufen aus dem Weiß zu bilden. Binnen kürzester Zeit entstanden so zwei separate Aufgänge während die Mitte der Rampe zu einer Rutschbahn geformt wurde.
„Ich habe es euch ja gesagt“, merkte Torib an, sobald er mit Ka'zdo auf Augenhöhe war; doch der Zwerg aus dem Westen starrte weiterhin auf die dunkle Silhouette in Mitten der verschneiten Ebene.
Torib trat einige Schritte vor und versank sofort bis zur Hüfte in den Flocken. Nachdem er sich fluchend wieder aus der Senke befreit hatte, reagierte auch Ka'zdo wieder: „Irgendetwas scheint mit unserem Wanderer nicht in Ordnung zu sein.“ Sein Finger zeigt in Richtung der tatsächlich leicht schwankenden Figur, welche einen dicken Filzmantel eng um sich geschlungene hatte. Torib kniff die Augen zusammen, um seinen Blick zu fokussieren. Hinter dem Fremden verfärbte sich der Schnee und mit jedem Schritt, den er sicherte näherte, verlängerte sich die Spur. Zunächst gewahrte Torib einen flüssigen Glanz, nur um wenige Momente auch das Rot der Spur überdeutlich wahrzunehmen. „Unser Ankömmling ist verwundet“, sagte er zu Ka'zdo: „Hol mir einen Heiler, ich gehe und greife ihm unter die Arme.“
Ka'zdo blickte ihn fragend an: „Ich bin nicht von hier, wo finde ich die Heiler?“
„In der Haupthalle nimmst du den Stollen Nummer 4 und biegst in die dritte Barracke auf der linken Seite ein; da findest du schon wen, wenn du genug Aufmerksamkeit erregst.“ Torib seufzte, als er Ka'zdo davoneilen sah. Den Stiel der Schaufel als Stab nutzend, bahnte Torib sich seinen Weg zum Fremden, bei dem es sich – wie er recht schnell feststellen musste – um eine junge Menschenfrau handelte. Ihre behandschuhte Linke hatte sie oberhalb ihrer Hüfte gegen den Körper gepresst, tropfenweise qoull das Blut zwischen den Finger aus der darunterliegenden Wunde hervor.
„Schaffst du es bis zum Tor?“
Ein stummes Nicken beantwortete Toribs Frage und eiserner Überlebenswille huschte über das Gesicht der Frau. Torib begab sich dennoch zu ihr und stützte sie, so gut ihm dies seine kurze Statur erlaubte. Langsam näherten sie sich dem geöffneten Portal, doch mit jedem Schritt, den die junge Frau tat, verloren ihre Züge zusehends an Farbe. Gute 60 Meter trennte das merkwürdig anmutende Paar noch von den schneefreien Stollen der Zwergensiedlung, als sie zusammenbrach.
„Du stirbst mir hier draußen nicht.“ Torib mobilisierte seine ganze Kraft, um sich die Bewusstlose auf die Schultern zu wuchten. Trotz der beißenden Kälte rann ihm der Schweiß in Sturzbächen über die Haut, er konnte deutlich die feinen Nebelschwaden aufsteigen sehen, wann immer er ausatmete. Schnaufend erreichte er die Rampe aus Schnee und ließ die fremde auf die Rutschbahn fallen, bevor er selbst in die festgeklopfte Rinne plumpste. Die Abfahrt war nur von kurzer Dauer, am Fuß der Rampe halfen ihm jedoch zwei seiner Wachkumpanen wieder auf die Beine, während Ka'zdo und Berandil – ein langjähriger Freund von Torib und vertrauenswürdiger Heiler – die regungslose Frau auf eine Bahre hievten.
„Danke. Helft Berandil, die Menschenfrau ins Hospital zu tragen; Ka'zdo und ich schließen das Portal“, befahl Torib und dankte Ba'zharad im Stillen dafür, dass alle seiner Anweisung Folge leisteten. Während nun also die kleine Gruppe Zwerge die Fremde tiefer in die Stollen trug, stapfte Torib zur großen Winde und begann damit das Tor zu schließen, was durch den aufgetürmten Schnee im Inneren nicht eben erleichtert wurde. Ka'zdo eilte hinzu und gemeinsam mit der handwerklichen Meisterleistung, welche die Vorväter Toribs erschaffen hatten, neigten sich die Portalflügel aufeinander zu, bis sie sich knirschend schlossen, ohne das auch nur der kleinste Lichtstrahl hindurchdringen konnte.
„Wollen wir doch mal sehen, was Berandil für sie tun konnte.“
Ka'zdo folgte ihm stumm in den Berg hinein. Schweigend erreichten sie die Haupthalle, in welcher eine steinerne Wyvern ihre Flügel stolz ausbreitete. Irgendwo hoch oben fiel Sonnenlicht durch eine Öffnung in den Berg und brachte Goldeinlagen und Edelsteine der Statue zum Funkeln. Drumherum hatte sich eine Vielzahl kleiner Marktstände aufgebaut, an denen Zwerge Nahrungsmittel, Schmuck, Edelsteine, und vieles Anderes feilboten. Torib schob sich durch die geschäftige Menge, die ihre täglichen Einkäufe erledigte.
„Hier entlang!“ Er deutete auf einen im Vergleich zur sonstigen Pracht der Steinarbeiten unscheinbaren Steinbogen, hinter welchem sich ein schier endloser Gang tiefer in die Erde streckte.
In regelmäßigen Abständen beleuchteten Laternen den makellos glatten Stein.
„Sag Ka'zdo, wo kamst du noch einmal her?“ Toribs Frage traf den Zwerg so unvermittelt, dass er kurz stockte, bevor er antwortete: „Aus dem Westen, vor 20 Zyklen kamen dort einige Menschen an der Küste an und begannen damit ihre Lager aufzustellen. Eine kleine Gruppe von vielleicht 30 Leuten bat meinen Stamm um Hilfe. Sie wollten eine Siedlung am See nicht weit von dem Eingang in unsere Heimat errichten, fürchteten sich jedoch von umherstreifenden Plünderern. Da unser Anführer einwilligte, zog ich mit gut zwei Dutzend meiner Leute los. Während der Arbeiten merkten wir, dass diese Menschen so ganz anders waren als die Bewohner der Freistädte, die wir aus dem Osten kannten. Diese hier waren nicht gierig nach Gold und genauso wenig wie wir mochten sie die Magie, die Elben, und Zauberer der freien Städte wirkten. Ich entschloss mich, bei ihnen zu bleiben.“
„Interessant, aber was treibt dich dann hierher?“, bohrte Torib weiter.
„Nun, mein Urgroßvater zog vor 450 Zyklen aus diesen Stollen aus, um einen neuen Stamm zu gründen. Und wenn ich mir die Schneemassen anschaue, die sich vor dem Tor auftürmen, kann ich verstehen, warum er losgezogen ist. Eure Steinmetze sind jedoch wesentlich besser als die unseren.“
„Sie hatten ja auch viel Zeit zum Üben“, entgegnete Torib heiter und zeigte auf einige recht krakelige Runen nahe dem Boden: „Schließlich fangen alle hier bereits klein an. Hier müssen wir dann links.“
Er stieß die angelehnte Holztür auf, und die beiden fanden sich in einem Raum von 20 Schritt Länge und zehn Schritt Breite wieder, in dessen Mitte sich Berandil und ein halbes Dutzend anderer Zwerge um eine Bahre scharten. Torib trat ebenfalls an die Bahre heran: „Wie steht es mit ihr?“
„Wie du es haben willst, sie lebt noch gerade so, aber wirklich helfen können wir ihr nicht; sie hat sehr viel Blut verloren“, teilte ihm Berandil seine Einschätzung mit, während er die Wunde vollends nähte. Schweigend standen sie nun alle um die junge Frau, einige Helfer schmierten ihr eine übelriechende Paste aus zerstoßenen Bergkräutern auf die Wunde und verbanden anschließend alles fachkundig. Gerade als sich die übrigen Zwerge entfernten, drang ein leises Wimmern aus ihrem Mund. Ruckartig öffneten sich ihre Augenlider, die tiefgrünen Augen waren erfüllt von Schmerz und Trotz: „Komm....näher...“ Die Stimme der jungen Frau war kraftlos, aber bestimmt. Torib beugte sich zu ihr hinunter um zu lauschen.
„Die.... Verfluchten der Fjords....“, ein Hustenanfall schüttelte ihren blassen Körper:„...sie..erheben...Vorhut ....ist hier.“ Sie krampfte und rote Bläschen sammelten sich in ihrem halboffenen Mund. Berandil hetzte zu einem Regal und angelte nach einer kleinen, verstaubten Ampulle, deren Inhalt er der Menschenfrau aufzwang. Nachdem sie die gelbliche Flüssigkeit mitsamt einem guten Schluck von ihrem eigenen Blut hinuntergewürgt hatte, entspannten sich ihre Gesichtszüge.
„Eine Art Notfallmittel“, erklärte sich der Zwergenheiler, sobald er Toribs fragenden Blick bemerkte: „Sie wird jetzt für mindestens drei Sonnenkreise schlafen, bevor sie hoffentlich wieder aufstehen kann.“
Torib stutzte: „Was heißt hoffentlich?“
„Nun ja, das Zeug wurde für Zwerge entwickelt, ich weiß nicht, wie gut es ein Mensch verträgt, geschweige denn wie groß die Dosis sein muss.“
„Wie viel hast du ihr denn grade gegeben?“
„Hab' ihr die doppelte Menge verpasst, is' ja schließlich auch doppelt so lang“, grummelte Berandil in seinen Bart. Torib wollte gerade weiter nachfragen, als der gesamte Berg zu beben begann. Sein zwergisches Gespür sagte ihm, dass der Ursprung des Bebens irgendwo in dem neuen Stollen lag; dort wo sie die natürliche Höhle entdeckt hatten. „Berandil, ich muss los. Sag mir Bescheid, sollte sich bei der Menschenfrau etwas regen. Kaz'do, kommst du mit?“ Doch als Torib sich umdrehte, stand dort niemand mehr. Achselzuckend trabte er los, denn sollte das Beben einen der Stollen zum Einsturz gebracht haben, würde jede helfende Hand benötigt werden. Still dankte er Ba'zharad für die Eingebung der Baumeister, den Stollen der Heiler und Soldaten in Schichten aus massivem Granit zu schlagen, so dass kein Zorn der Erde die Räume zerstören konnte. „Torib! Die Rückwand der Kaverne ist eingestürzt!“ In der Haupthalle stolperte Ungrim auf ihn zu: „Einige der Vorarbieter sind bei dem Beben hinab gefallen!“
„Bleib hier, ich schaffe das alleine.“ Mit einem Blick auf seinen ramponierten Freund beschleunigte Torib seine Schritte, bis die genagelten Schuhsohlen nur so auf den felsigen Untergrund knallten. Die Stollenwände zogen an ihm vorüber, wirkten immer roher, bis er um die nächste Ecke bog und die Schreie von sterbenden Zwergen vernahm, darunter mischte sich ein vielstimmiges Stöhnen und das Klappern von Knochen. Torib kannte diese Geräusche, jedoch hatte keiner der Händler, die im Sommer zu Ihnen gekommen waren, etwas davon erzählt, dass sich die Fluchfürsten des Nordens wieder erheben. Ohne innezuhalten zog er seine Axt aus dem Gürtel und bereitete sich darauf vor, seinen Ahnen gegenüberzutreten.
Die Schreie seiner Stammesgenossen steigerten sich in ihrer Intensität, trieben ihm Angstschweiß aus den Poren und sandten Schauer seinen Rücken hinab. Doch wo ein Mensch längst die Flucht ergriffen hätte, machte der zwergische Wille, eine am Stamm verübte Untat zu sühnen, einen Rückzug undenkbar. Torib hatte den Eingang in die Kaverne nun im Blick, doch die Schwärze dahinter machte es unmöglich etwas zu erkennen. Die Sterbensschreie endeten jäh, und mit ihnen auch die Geräusche der wandelnden Toten. So leise wie es ihm in seinem Kettenhemd möglich war, pirschte sich Torib näher an den Eingang um an der Bruchkante hinab in die Kaverne zu spähen. Doch was auch immer an Schrecken an der Unterkante des gut elf Schritt tiefen Abbruchs auf weitere Opfer wartete, es zeigte sich nicht. Unschlüssig stand Torib an der Kante und sah sich um; in einer Ecke des Stollens entdeckte er eine erloschene Laterne, wie sie von den Vorarbeitern benutzt wurde, um eventuelle Schluchten zu erhellen, damit man feststellen konnte, ob diese verfüllbar waren oder die Baumeister eine Brücke errichten müssten. Entschlossen hob er die Laterne auf, fischte ein kleines wenig Zunder sowie einen arg in Mitleidenschaft gezogenen Feuerstein aus dem kleinen Beutel an seinem Gürtel und entfachte den Docht neu.
„Na dann wollen wir doch mal sehen, wie viele von euch sich da unten tummeln.“ Mit diesen Worten ließ er die flackernde Lichtquelle fallen. Scheppernd kam die Laterne am Boden der Kaverne an, prallte mehrfach vom schroffen Fels ab, bevor sie schlussendlich zu Füßen einer schwarz gewandeten Kreatur liegen blieb. „Sehr gut. Ich dachte schon meine Diener hätten keinen von euch am Leben gelassen.“
Die schnarrende Stimme ging nicht von der Gestalt aus, sondern fand ihren Ursprung irgendwo an der Kavernendecke: „Lauf kleiner Zwerg. Lauf und warne die anderen Reiche, ich schenke dir dein Leben. Wie viele Schlachten ihr auch schlagen mögt, wie viele Siege ihr auch davontragen werdet, es kümmert mich nicht. Die Armee der Toten wird eure gefallenen Brüder und Schwestern mit offenen Armen willkommen heißen.“ In mitten der Kaverne begann eine kleine Kugel machalitfarbenen Lichts zu pulsieren. Während sie sich langsam dem Boden entgegen neigte, steigerte sich die Intensität des Leuchtens, bis die Kugel zwei Schritt über dem Boden hängen blieb und Torib den Umfang der Gruppe aus wandelnden Toten erkennen ließ. Nebst Horden von Zombies fanden sich dort unten zahllose kurz geratenen Skelette, welche aufwändig gearbeitete Rüstungen trugen; die Ahnen seines Stammes. „Sieh nur, wie bereitwillig sie sich meiner Armee angeschlossen haben“, höhnte die ominöse Stimme: „Offenbar ist euren Toten nicht der selbe Starrsinn beschieden, für den dein Volk im Leben doch so berüchtigt ist. Nun weide dich an der Macht der Fluchfürsten.“
Urplötzlich fuhr die Kugel in den Boden und ließ das Gestein selbst aufleuchten. Deutlich zeichneten sich unter den Untoten gigantische Knochen ab, welche in der Erde lagen. Die Intervalle des Pulses wurden immer kürzer, während sich gleichzeitig ein schwaches Beben bemerkbar machte und stärker wurde. Schon begannen erste Felskrümel von der Decke der Kaverne zu fallen, im nächsten Moment brach nur wenige Schritt vor Torib ein Stück des Stollenbodens ab und fiel in die Tiefe. Hastig machte er einige Schritte rückwärts um nicht von einem weiteren Abbruch in die Tiefe gezogen zu werden. Torib sah, wie einige mannsgroße Stalaktiten abbrachen und hinunter rauschten. Dem empörten Geklapper nach waren wohl einige der wandelnden Toten von den Felsen zerquetscht worden. Urplötzlich erlosch das Leuchten, und auch das Beben ließ nach. Stattdessen hörte Torib ein Rumpeln, durchmischt mit dem Geräusch von über Stein schabenden Klauen. Wieder erstrahlte das machalitfarbene Licht in der Kaverne, nur waren es diesmal zwei kleinere Ovale und sie näherten sich dem Stollen. Torib drohte der Mageninhalt zu entweichen, als sich vor seinen Augen der verrottete Kopf eines Drachen in den Stolleneingang schob.
„Du wirst mir als Bote dienen; mit meinem Zeichen sollst du in die Reiche der Menschen ziehen und solange nicht vergehen, bis ein jeder von ihnen zu meinen Truppen zählt.“ Nun konnte er die Stimme verorten: sie erschallte aus dem Kern des Lichts. Wutschnaubend zückte Torib seine Axt und wollte sich auf den reanimierten Drachen stürzen, doch je näher er dem Knochengebilde kam, desto schwerer wurde es, einen Fuß vor den anderen zu setzen. „Ihr Lebenden seid so bemitleidenswert schwach“, höhnte die Stimme, während Torib vor Anstrengung keuchte und der Schweiß ihm in Sturzbächen durch den Bart rann.
„Aber da du nun schon freiwillig zu mir kommst, lass mich dir mein Zeichen geben.“ Der unsichtbare Widerstand verstärkte sich, bis Torib zu Boden gezwungen wurde. Er fühlte sich, als hätte jemand eine ganze Schmiede auf ihm abgelegt. Urplötzlich explodierte ein gleißender Schmerz in seinem Kopf und er roch, wie sein eigenes Fleisch verbrannte; schreiend versuchte er sich davon zu wälzen, doch konnte er keinen Finger rühren. Die Zeit verschwamm vor seinen Augen, er konnte sich auf nichts konzentrieren, es existierte nur dieser unerträgliche Schmerz. Nachdem seine Stimme vom Schreien heiser geworden war ließ der Schmerz langsam nach. Sobald er genug Kraft gefunden hatte, konnte Torib sich auch wieder erheben. In seinem Kopf ertönte die ihm mittlerweile verhasste Stimme: „Laufe nun in wärmere Gefilde, mein Herold. Bringe die Kunde der Fluchfürsten zu den Menschen.“
Obgleich der Zwerg in ihm sich gegen den Befehl auflehnte, klopfte Torib sich den Staub von der Kleidung, stopfte seine Axt zurück in die Halterung und machte sich auf den Weg zur Haupthalle.
Dort angekommen traf er auf einen verwundeten Berandil, sowie einen äußerst bestürzt dreinblickenden Ungrim.
„Was ist passiert?“ Torib malte sich bereits noch mehr schlechte Neuigkeiten aus.
„Also erst einmal warst du fast 10 Sonnenkreise verschwunden, darüber hinaus ist hier eine Armee der Fluchfürsten aufgetaucht, sie kamen aus der Kaverne; wir nahmen an, sie hätten dich getötet.“
Ungrim verschränkte die Arme: „Und jetzt bist du hier, mit so einem merkwürdigen Symbol auf der Stirn, du starrst vor Dreck und scheinst von alledem nichts bekommen zu haben.“
„Ein merkwürdiges Symbol?“
„Es sieht in etwa so aus.“ Berandil kratzte mit seiner Krücke zwei sich überkreuzende Sichelmonde in den Staub.
„Ich bin bei der Kaverne gewesen...“, begann Torib seine Erzählung und schilderte ihnen, soweit seine Erinnerungen nicht durch den Schmerz getrübt waren, was geschehen war.
„Was ist eigentlich mit der Menschenfrau?“, verlangte er im Anschluss zu wissen.
„Kaz'do hat sie getötet und noch ein Dutzend weitere unseres Volkes, bevor es Ungrim gelang ihm den Kopf abzuschlagen. Nach dem was du uns erzählt hast, hat er wahrscheinlich für diese Stimme gearbeitet.“
„Ich werde trotzdem gen Westen reisen, wer weiß eventuell kennen ihn dort einige“, schlug Torib vor: „Angeblich hatte er dort wohl Familie und Leute, mit denen er gearbeitet haben muss.“
„Nicht ohne mich, ich werde dich begleiten“, grollte Ungrim in einem Tonfall, der unmissverständlich klar machte, dass es daran nichts zu rütteln gab.
„Nun gut, wir brechen morgen bei Sonnenaufgang auf.“
Mit diesen Worten stiefelte Torib davon, als er wenig später in seiner Kammer auf das Bett fiel, hörte er die Stimme wieder flüstern: „Vernichte deinen Begleiter bei der ersten Möglichkeit. Er wird nicht verstehen, was du tust.“ Doch ein Rest seiner zwergischen Natur war Torib geblieben, und so schlief er ein mit dem Entschluss, Ungrim zurückzulassen, sobald sich die Gelegenheit dazu bot.