Rauschen.
Es ist das beständige, monotone und ihn allzeit begleitende Rauschen der Hauptstraße unter seinem Schlafzimmerfenster, welches ihn auch diesen Morgen, noch bevor der Wecker klingelt, abrupt aus den Träumen reißt. Entnervt schält er sich mühsam aus den Decken und schleppt sich, der Blick noch immer verschleiert, die Gelenke wie immer knackend und ächzend, an das Fenster Richtung Hauptstraße, stößt es auf und holt einmal tief Luft.
Gestank.
Der allmorgendliche Geruchsteppich aus Abgasen, Teer – heute vermengt mit Regen – und durchmischt mit einer Ahnung von Mohnschnecken, welche der Bäcker gegenüber wie jeden Morgen in der Auslage hat, schlägt ihm wie eine mannshohe Wand entgegen.
Rauschen.
Langsam wach werdend, stützt er sich mit den Ellenbogen auf die Fensterbank, zündet sich eine Zigarette an und starrt in das einheitliche Grau in Grau seiner Stadt.
Bochum.
Wie hatte Herbert Grönemeyer es noch so schön besungen?
„Du bist keine Schönheit, vor Arbeit ganz grau“?
Ja, nickt er stumm und zieht weiter an der Zigarette. Ja, das bist du. Alt und grau.
Überall Betongrau, durchmischt mit Zementgrau und regnerischem Himmelgrau.
Alles ist grau.
Es erscheint ihm, als sei er der einzige Farbklecks inmitten dieser Monotonie, während er eine halbe Stunde später in seinem dunkelblauen Anzug die Karl-Friedrich-Straße hinab läuft, welche zwar wie zu jeder Tageszeit viel befahren, aber ansonsten menschenleer ist.
Er kauft sich beim Bäcker gegenüber einen Kaffee. Das grelle Gelb der Arbeitskleidung strahlt ihm penetrant entgegen. Schnell huscht er weiter zur Straßenbahnhaltestelle.
Grau-weiße Ungetüme. Wieso können sie nicht bunt sein? So wie in Dortmund? Oder Essen? Oder sonst wo.
„Wieso diese Nichtfarbe?“, fragt er sich, während er einsteigt und sich auf die durchgesessenen, graugrünen Polster fallen lässt, derweil noch immer seinen Kaffee trinkend.
Es ist dasselbe wie jeden Morgen. Wie jeden Morgen seit so vielen Jahren schon.
Routine, Monotonie, Alltag, Grau.
Es scheint an ihm zu haften, an ihm zu kleben und ihn nicht mehr loszulassen.
Dieses Grau.
Und dabei hatte er sich einst nach diesem Grau gesehnt. Als Junge vom Dorf wollte er für sein Studium unbedingt in die Stadt, mehr als alles andere. Hier gab es nicht den Gestank von Jauche und Gülle, hier gab es den Smog und den so sehr gefürchteten Feinstaub. Hier gab es keinen schlechten Winterdienst, nein. Winterdienste waren hier nicht nötig. Das bisschen Schnee an mit Glück drei Tagen im Winter wurde von den Autos so schnell so klein zermahlen, dass einzig an den Straßenrändern schmutzige, schmierige Häufchen zurückblieben. Hier gab es Hektik und Unterhaltung, stets war etwas los.
Und dennoch ist ihm, als sei all das nur dazu da, um die eigentliche Hässlichkeit dieser Stadt zu verstecken.
Bochum.
Herz des Ruhrpotts, eine einzige große, stillgelegte Zeche.
Ein stetig gleichbleibendes, träge vor sich hin atmendes Einerlei.
Die Straßenbahn hält, die Türen schwingen auf, ein Fahrgast tapst schwerfällig ins Innere.
Eine Frau, die Arme voll mit Ordnern und Büchern, lässt sich schwer aufatmend auf den gegenüberliegenden Sitz fallen.
Auch sie ist grau. Ein sprichwörtliches graues Mäuschen, denkt er im Stillen, die Frau beinah mitleidig anschauend.
Das Kostüm hat die Farbe des Himmels, kurz bevor es zu regnen anfängt, ihre Haare sind aschblond, sogar ihr noch recht junges Gesicht scheint die Farbe der Wohnblöcke angenommen zu haben.
Als sie sein Mustern bemerkt, lächelt sie unsicher, wendet jedoch sofort wieder den Blick ab.
Weiter geht die Fahrt. Ruckelnd, zuckelnd, abrupt haltend.
Sie steht keine zwei Haltestellen später wieder auf, versucht sich erneut mit all ihrem Ballast zu beladen. Das Elend, welches sich dort vor ihm abspielt nach einer Weile nicht mehr mitansehen könnend, entschließt er sich, in Anbetracht dessen, dass die nächste Haltestelle gnadenlos immer näher rückt, ihr zu helfen. Er ergreift die letzten zwei Ordner und hält sie ihr lustlos entgegen.
Ein scheues Lächeln ist die Antwort, ein kaum hörbares „Danke“, als im selben Augenblick die Straßenbahn stoppt.
Der Kaffee perlt langsam, leise von ihrem Blazer, sucht sich einen Weg zum Rock hinab.
Unverständliches nuschelnd, sich schrecklich unwohl fühlend, sucht er verzweifelt in seinem Jackett nach einem Taschentuch, nur um festzustellen, keine eingesteckt zu haben.
„Ach, vergessen Sie es. Ist nicht so schlimm“, sagt sie nur und zwängt sich an ihm vorbei den Gang entlang, als auch schon wieder die Türen schließen und sich die Bahn schwerfällig in Bewegung setzt.
Sich schrecklich hilflos fühlend, starrt er sie nur tonlos an, das graue Mädchen mit all den Aktenordnern.
Sie bemerkt seine Blicke.
„Na ja, dann steige ich eben die nächste Haltestelle aus“, seufzt sie hilflos die Schultern ruckend ein so bemitleidenswertes Seufzen, dass es ihm die Schamesröte ins Gesicht treibt. Beinah reflexartig nimmt er ihr die Aktenordner wieder ab.
„Ich muss sowieso an dieser Haltestelle aussteigen“, lügt er, nicht wissend, warum er lügt.
„Ich begleite Sie eben zurück bis zu Ihrer Haltestelle.“
Erneut ein kurzes Nicken. Sie steigen aus.
Es ist nicht weit zu gehen, die Haltestellen kommen immer recht kurz hintereinander. Dennoch fühlt er sich besser der Frau zu helfen.
Mit etwas Glück könnte er auch noch rechtzeitig zur Arbeit kommen.
Vor einem vierstöckigen Betonblock, einer Versicherungsfirma, kommen sie schlussendlich zum Stehen. Sie dreht sich schlagartig zu ihm um, lächelt ein Dankeschön.
Sie ist wirklich jung, denkt er, während er ihr zum ersten Mal genauer ins Gesicht blickt. Die Farbe macht sie nur wesentlich älter.
„Dankeschön“, lächelt sie es nun nicht mehr, sondern sagt es, während sie ihm die Ordner aus den Händen nimmt.
„Wäre aber nicht nötig gewesen, doch-“
„Ich bezahle die Reinigung!“, platzt es unkontrolliert aus ihm heraus und er könnte sich im nächsten Augenblick für diese Bemerkung schlagen, als er ihren erschrockenen Gesichtsausdruck bemerkt. Das Perplexe verlässt jedoch alsbald ihr Gesicht, macht erneut einem Lächeln Platz.
„Nein, nein. Aber Sie können mich mal zum Kaffee einladen, ich fahr ja oft mit Ihnen in der Straßenbahn.“
Und schon wendet sie sich ab, schwer beladen huscht sie davon.
Er bleibt ungläubig stehen. Sie war ihm doch tatsächlich noch nie aufgefallen.
Und ja, vielleicht sollte er sich wirklich mit ihr treffen und sie auf einen Kaffee einladen, denkt er und blickt gen Himmel.
Was hatte er eigentlich je erwartet? In einer Stadt wie dieser, einer Stadt so grau in grau?
Noch einmal wendet er den Blick, sieht dem wippenden, grauen Rocksaum hinterher.
Ein Kostüm in den Farben Beton- und Zementgrau.
Er zündet sich eine Zigarette an.
„Du bist keine Schönheit, vor Arbeit ganz grau.“
Vielleicht ist Grau doch gar keine so schreckliche Farbe.
Er lächelt.