Mondscheinserenade
25.08.2019
Eine meiner allerliebsten Erinnerungen aus den vergangenen Jahren ist immer noch unser missglückter Campingurlaub, der eigentlich in Spanien hätte stattfinden sollen.
Nicht nur deswegen, weil er eindeutig bewiesen hat, dass man auch den absurdesten Situationen etwas Schönes abgewinnen kann, selbst wenn eigentlich alles schief geht, was nur schief gehen kann. Nicht nur deswegen, weil er mir gezeigt hat, dass man sich mehr als einmal in denselben Menschen verlieben kann, ohne überhaupt damit aufgehört zu haben.
Es sind viel eher diese einzigartigen Momente, in denen das gesamte Universum mit einem Mal so klein und nichtig scheint, weil man sich nur auf einen einzigen Augenblick konzentriert. Ein paar Minuten, in denen die Welt noch heil ist und so viele gute Dinge zusammenkommen, dass alle Zweifel verschwinden.
Nichts kann diese Erfahrungen entkräften, auch wenn danach wieder Probleme auf einen zukommen. Man behält sie in seinem Herzen und zehrt davon.
Und wenn wieder alles dunkel scheint, denke ich deswegen immer wahnsinnig gern an unseren Campingurlaub zurück.
Es fing eigentlich schon damit an, dass wir kein Wohnmobil auftreiben konnten.
Als wir uns dann entschlossen, mit Christophs altem Wagen zu fahren und stattdessen ein großes Zelt mitzunehmen, schien das Problem gelöst.
Wir stellten uns auf unzählige Stunden endlos scheinende Fahrt und nicht enden wollenden Stau ein, fuhren noch vor Mitternacht los, um am nächsten Morgen früh da zu sein und Jakob schlief auf dem Rücksitz schon tief und fest, noch bevor wir die Autobahn erreichten.
Nach einigen Kilometern und einer Warnung im Verkehrsfunk des Radios beschloss Christoph allerdings, bis zur nächsten Autobahn einen Umweg über eine Landstraße zu nehmen, weil wir ansonsten sicherlich zwei Stunden im Stau gestanden hätten.
Jakob wachte erst wieder auf, als mitten auf einer sehr idyllischen Strecke am Waldrand einer der Reifen platzte und Christoph das Auto noch mit Müh und Not auf einen etwas breiteren Feldweg lenken konnte.
Kurze Zeit später kam uns der Gedanke, dass wir besser an der Straße geblieben wären, denn hier gab es weder ein Notruftelefon noch ausreichend Mobilfunknetz.
„Keine Panik“, meinte Christoph und stieg sofort aus, um den Reifen zu wechseln, „Ich bekomme das schon hin!“
Jakob maulte herum, dass er nicht mehr schlafen konnte, während ich die Taschenlampe hielt, als Christoph sich am Auto zu schaffen machte. Meine hilfreichen Tipps, wie er es am besten anstellen konnte, wollte Christoph nicht hören.
Aber auch mit vereinten Kräften wurde nicht viel draus und so beschlossen wir, dass wir besser das Auto stehen ließen, zurück zur Straße liefen und bei irgendjemandem um Hilfe bitten würden.
Allerdings war es so spät, dass kaum jemand hier noch entlang kam und wir warteten sicherlich eine halbe Stunde, bis wir Lichter entdeckten, die sich näherten – und trotz eindeutiger Handzeichen an uns vorbei fuhren, ohne anzuhalten.
Jakob beschwerte sich, dass er keine Lust mehr hatte, ließ sich aber mit ein paar aufmunternden Worten von Christoph umstimmen, nicht wie in seinem Trotz geplant wieder zu Fuß nach Hause zu laufen.
Dann fing es noch zu regnen an. Wir rannten zurück zum Auto, um dort Schutz vor dem plötzlichen Wolkenbruch zu suchen und entschieden uns gegen einen Aufbau des Zelts im strömenden Regen.
Das betretene Schweigen im Wagen war unerträglich, aber es getraute sich wohl niemand, auch nur ein Wort zu sagen.
Immerhin würde niemand jetzt auch noch einen Streit gebrauchen können, auch wenn wir alle drei recht frustriert Löcher in die Luft starrten.
Als es statt aus Eimern zu gießen nur noch leicht regnete, stieg Christoph wieder aus, um noch einmal nach dem Reifen zu sehen. Er hatte die Taschenlampe nun so positioniert, dass er meine Hilfe nicht brauchte, also seufzte ich schwer und öffnete den Kofferraum, um zumindest nach etwas zu trinken für Jakob zu schauen.
Neben unserem Gepäck hatten wir glücklicherweise wenigstens genügend Proviant mitgenommen, aber während ich noch in der Kühltasche kramte, zwinkerte Jakob mir verschwörerisch zu und flüsterte mir etwas ins Ohr.
Wir könnten ja heimlich schon mal das Zelt aufbauen, weil sein Vater es ja sowieso nicht hinbekommen würde, wir ihm das aber nicht sagen dürften, weil er sich sonst aufregte – freuen würde er sich aber bestimmt.
Christoph bemerkte unsere Mühen entweder nicht, weil er zu beschäftigt war, oder er tat zumindest so. Letzten Endes gab er fluchend auf und wir präsentierten stolz das stehende Zelt, auch wenn wir nun sowieso alle komplett durchnässt waren.
Tatsächlich schien er sehr erleichtert, dass es eine Alternative gab.
Jakob strahlte über das ganze Gesicht und ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass er mich vielleicht doch nicht komplett hasste.
Mit frischen Klamotten, Schlafsack, Kissen und Decken machten wir es uns darin gemütlich und zu meiner großen Verwunderung schleppte Christoph noch die Gitarre an, von der ich eigentlich angenommen hatte, dass sie Jakob gehörte.
Der Regen trommelte auf die Zeltplane und obwohl es für die sommerliche Jahreszeit beinahe schon erschreckend kühl war, war davon hier drin nichts zu spüren. Auch wenn das Zelt an und für sich geräumig war, rückten wir doch näher zusammen als sonst.
Und das nicht nur im Sinne der Räumlichkeit.
„Was genau hast du vor?“, fragte ich lachend, als Christoph die Gitarre auspackte.
Er zuckte nur mit den Schultern und grinste.
„Das Beste draus machen“, erklärte er und suchte einige Zeit lang noch nach dem Stimmgerät, bevor er bemerkte, dass er es zuhause vergessen hatte.
Genauso wie das Liederbuch, in dem Akkorde und Text aufgeschrieben waren.
„Du kannst spielen?“, fragte ich überrascht.
„Ein bisschen“, meinte er lächelnd, „Für’s Lagerfeuer reicht es gerade so.“
Jakob kicherte eingemummelt in seinem Schlafsack und verriet damit, dass er doch nicht so tief schlief, wie er zuvor noch vorgegeben hatte.
„Wir haben gar kein Lagerfeuer“, gab er zu Bedenken, dann schnappte er sich noch eine Decke und setzte sich auf, „Aber gut, dass ich noch wach bleiben darf!“
Das mit dem Schlafen hatte wohl noch Zeit.
Wir fanden eine gute Position für die Taschenlampe, dass sie eine praktische, aber nicht störende Lichtquelle darstellen konnte, ohne dass jemand sie halten musste.
Viele Worte brauchten wir auch nicht mehr, aber inmitten dem ganzen Chaos kamen wir wieder ein bisschen zur Ruhe. Auch wenn wir keinen Empfang, kein funktionierendes Auto und auch kein Lagerfeuer hatten – wir hatten noch einander.
Nach einigen zum Großteil improvisierten Liedern, deren Akkorde Christoph nur noch halbwegs kannte und wo ihm nach nur wenigen Zeilen bis auf den Refrain auch noch die Erinnerung an den Text ausging, hatte Jakob wohl so viel gelacht, dass er nach all diesen Strapazen ganz erschöpft war.
Er hing mittlerweile mehr gegen meine Schulter gelehnt da als dass er wirklich saß und auch wenn er noch angestrengt seinen Vater beim Gitarrespielen beobachtete, fielen ihm immer wieder die Augen zu.
Ich legte zögerlich meinen Arm um ihn. Statt sich zu beschweren und die Position zu wechseln, lehnte er sich dagegen, kuschelte sich an mich und schloss die Augen.
Christoph erfand noch aus dem Stehgreif einige Strophen, die sich weder reimten noch wirklich ins Versmaß passten, dann wollte er wohl gerade die Gitarre weglegen, als Jakob in der plötzlichen Stille nochmal die Augen öffnete.
„Nee, vergiss es“, murrte er schläfrig, „Du musst weitermachen!“
In Ermangelung von weiteren Liedern, die er zumindest zum Teil auswendig spielen konnte, reihte Christoph wohl nur noch wahllos einige Akkorde aneinander und summte ohne jegliche Worte dazu.
Jakob kuschelte sich noch näher an mich und ich weiß nicht, was von beidem mich in diesem Moment mehr mit dem Gefühl von absoluter Glückseligkeit erfüllte.
Die sanften Klänge der Gitarre untermalt mit Christophs tiefer, leicht kratziger Stimme, die zwar nicht besonders treffsicher war, aber dafür so viel Gefühl hatte – oder die Tatsache, dass ich mich zum ersten Mal fühlte, als ob das zwischen Jakob und mir wirklich irgendwann funktionieren könnte.
Nach einigen weiteren Minuten schnarchte er leise und ich streichelte vorsichtig und ganz sanft über sein Haar, was ihn absolut nicht zu stören schien.
Auf Christophs Gesicht lag ein so überglückliches Lächeln, das man es in seiner Stimme hören konnte und es sich im Glanz seiner Augen wiederspiegelte.
Erst als es schließlich aufgehört hatte zu regnen und der Mond zwischen den Wolken wieder durchblinzelte, fand sein spontanes Konzert irgendwann ein Ende. Statt begeistert zu applaudieren, beugte ich mich so gut es in meiner aktuellen Position eben ging zu Christoph und küsste ihn.
Irgendwie schafften wir es, eine gemütliche Schlafposition für uns alle drei zu finden, ohne Jakob aufzuwecken. Er lag zwischen uns in der Mitte und Christoph legte den Arm um ihn, damit er wenigstens meine Hand halten konnte, wenn wir schon nicht vor dem Einschlafen noch richtig schmusen konnten.
Der Boden war trotz allem recht hart und ich spürte jeden meiner Knochen.
Das Problem mit dem Autoreifen war lange nicht gelöst.
Aber ich war so von der Liebe zu meiner neuen Familie erfüllt, dass ich selig die Augen schloss, um diese Geborgenheit einfach nur zu genießen und mit keine weiteren Gedanken mehr zu machen.
Wir kamen niemals in Spanien an.
Am nächsten Morgen entdeckte uns in aller Früh schon der zuständige Förster, schimpfte eine ganze Weile, dass Zelten hier nicht erlaubt war, half uns aber aus unserer Not und organisierte einen Abschleppdienst für unser Auto.
Dann ging es für uns schnurstracks wieder zurück nach Hause.
Die Sache mit dem Urlaub hatte sich erst einmal erledigt. Alles war schmutzig und wir waren so übermüdet, dass Christoph beim Fernsehen einschlief, als wir es uns zu dritt auf dem Sofa gemütlich gemacht hatten.
„Das müssen wir unbedingt wiederholen“, sagte Jakob grinsend und legte den Kopf an meine Schulter, „Aber nochmal genau dasselbe!“