Er drehte den Schlüssel und öffnete die Tür ...
04.08.2019
Er drehte den Schlüssel und öffnete die Tür nur einen Spalt, der gerade groß genug war, dass ich dazwischen sein missmutiges Gesicht erkennen konnte.
„Was willst du?“, fragte er knapp.
Es klang, als wäre er geradezu ungehalten darüber, dass ich an seinem Zimmer geklopft und ihn bei weiß Gott welcher Tätigkeit gestört hatte. Dass ich das tosende Gepolter zuvor aber für einen längeren Zeitraum ignorieren würde, hatte er sicherlich nicht ernsthaft vermutet.
„Jakob“, begann ich vorsichtig, damit er mir nicht einfach wieder die Tür vor der Nase zuschlagen und sich wieder für mehrere Stunden in seinem Zimmer verbarrikadieren würde, „Ich wollte mit dir reden.“
„Schön für dich. Ich aber nicht mit dir!“, ließ Jakob mich patzig wissen und seine Augen funkelten mich anklagend durch den Spalt in der Tür an.
Mir entkam ein schweres Seufzen. Immerhin hatte ich nicht die leiseste Ahnung, wie ich diese Situation entschärfen oder gar wieder zum Besseren wenden sollte. In derartigen Auseinandersetzungen hatte ich wirklich keine Erfahrung.
„Wir müssen reden“, versuchte ich es noch einmal.
„Nee, ich muss gar nichts“, stellte Jakob sich stur und starrte mich grimmig an, „Ich bin dir absolut nichts schuldig. Du bist hier einfach so ungefragt in unser Leben reingeplatzt und hast alles durcheinander gebracht. Wegen dir geht doch alles den Bach runter. Ich wünschte, wir hätten uns niemals kennen gelernt!“
Jeder andere Mensch hätte es sich jetzt mit mir verscherzt, denn ich wäre beleidigt abgerauscht. Wer nicht wollte, der hatte bekanntlich schon, aber hier bei Jakob war das etwas anderes. Auf der einen Seite wollte ich seine Wünsche und Bedürfnisse ja durchaus ernst nehmen, denn er hatte seinen eigenen Kopf und war eine eigenständige Person für sich.
Auf der anderen Seite musste ich aber auch über derartige Beleidigungen stehen können und vernünftig bleiben, denn immerhin war er trotz allem noch ein Kind. Und ich ertappte mich dabei, dass es mir in dieser Sache nicht einmal um seinen Vater ging und was er davon halten würde.
Es ging mir nicht um den Haussegen, der ohnehin schon seit Wochen immer wieder schief hing, sondern um Jakob selbst.
Auch wenn wir uns nach wie vor in keiner einfachen Lage befanden, so konnte ich nicht leugnen, ihn trotz all der Schwierigkeiten schon innerhalb der ersten Monate tief und fest in mein Herz geschlossen zu haben.
Und irgendwie tat es mir unglaublich weh, nun nicht mehr nur zu vermuten, sondern sehr deutlich zu wissen, dass es ihm absolut nicht ebenso ging. Auch wenn ich seine Position durchaus verstehen konnte, nagte es an mir, wie sehr er mich nach wie vor zu hassen schien.
Lange hatte ich versucht, mir einzureden, dass es nicht an mir, sondern an der gesamten Situation lag, in der ich unter keinen Umständen jemals gut genug sein würde. Aber vielleicht stimmte das auch gar nicht. Vielleicht lag es durchaus an mir selbst. Womöglich war es nur mein Stolz, der mich vor dieser bitteren Erkenntnis schützen wollte.
„Jakob-“, begann ich noch einmal mit etwas Nachdruck in meiner Stimme.
„Was denn noch!“, fuhr er mich genervt an und ich versuchte vergeblich, noch einen Blick in sein Gesicht zu erhaschen, das er scheinbar längst abgewandt hatte.
„Darf ich reinkommen?“, fragte ich vorsichtig.
Kurz herrschte Stille, als würde er tatsächlich darüber nachdenken.
Dann aber fühlte es sich eher an, als würde er mich lediglich ignorieren, denn als ich sanft die Hand an den Türgriff legte, um sie weiter zu öffnen, knallte er sie von innen wieder komplett zu und ich hörte das Geräusch des Schlüssels, den er zweimal im Schloss umdrehte.
„Jakob?“, fragte ich durch die geschlossene Tür.
Keine Reaktion. Innen war alles mucksmäuschenstill.
„Jakob, ich bitte dich“, versuchte ich es noch einmal, dann gab ich mir einen Ruck, „Nein, ich flehe dich an. Sprich mit mir!“
Im Zimmer polterte es wieder. Es klang, als hätte er diesmal den Schreibtischstuhl mit voller Wucht auf den Boden geworfen.
„Jakob!“, entfuhr es mir, mehr schockiert als wütend.
„Mir reicht’s!“, konnte ich ihn fluchen hören, „Hau doch endlich ab! Wenn du vor meiner Tür Wache stehen willst, bitteschön. Ich werde niemals wieder einen Fuß aus meinem Zimmer setzen und das ist mein voller Ernst!“
Ich seufzte schwer und wusste mir weder einen Rat, noch fielen mir irgendwelche weiteren Worte ein. Mutlos lehnte ich mich mit dem Rücken gegen die Wand neben der Tür und lauschte. Jakob schien zu vermuten, dass ich noch da war. Oder er war einfach stur genug, sich nun wirklich wieder stundenlang einzuschließen.
Besser gemacht hatte ich es also nicht, eher noch schlimmer.
Was für eine Glanzleistung. Wahrscheinlich hatte er doch recht und ich war nicht nur gegen seinen Willen in sein Leben getreten, hatte ihm seinen Vater weg genommen, sondern würde es auch niemals schaffen, sein Vertrauen zu gewinnen.
Es wurde wieder totenstill im Zimmer.
Keine laute Musik, nicht die Geräusche von irgendwelchen Videospielen. Nicht einmal das Gepolter und Getobe, einfach nur Stille und sie nahm mir jeglichen Mut, ließ meine Brust eng werden und mein Herz verkrampfen.
Ich hatte es komplett verbockt. Dabei wollte ich eigentlich ein klärendes Gespräch suchen, viel weniger meine Sicht der Dinge erklären, als ihn einfach nur zu fragen, was ihm so sehr auf der Seele brannte. Ihm einfach zuzuhören, wenn er endlich darüber reden würde, was die gesamte Situation mit ihm machte, welche Ängste, Sorgen und Nöte es waren, die er so eindeutig durch Wut kanalisierte und sich nicht anders zu helfen wusste, als überall anzuecken.
Ich sank an der Wand nach unten auf den Boden, nicht wissend, was ich nun tun oder lassen sollte. Versunken in meine verzweifelnden Gedanken hörte ich nach einer gefühlten Ewigkeit doch leise Schritte, die sich der Tür näherten.
„Bist du noch da?“, fragte Jakob.
Ich konnte nicht zuordnen, ob er sich noch immer wütend anhörte oder ob doch ein anderer Unterton in seiner rauen Stimme lag. Ich schwieg einfach, weil ich mit meinem Latein am Ende war und selbst eigentlich gar nicht mehr wusste, was ich hier eigentlich tat und warum ich ihn nicht einfach in Ruhe ließ.
Er hatte es sicher schon schwer genug in der Schule und all den Dingen, mit denen sich die Jugendlichen in der heutigen Zeit herumschlagen mussten. Da musste ich ihm nicht auch noch das Leben zuhause zur Hölle machen.
„Bist du da“, fragte Jakob noch einmal und diesmal bildete ich mir sogar ein, dass seine Stimme ein bisschen zitterte.
Eigentlich wollte ich antworten. Mir wäre egal gewesen, wenn er mich nochmals weggeschickt hätte, aber in dem Moment hörte es sich fast so an, als wäre das Gegenteil der Fall. Da konnte ich ihn nicht einfach so in der Stille hängen lassen, doch gerade als ich den Mut und meine Stimme wieder fand, sprach er schon von sich selbst aus weiter.
„Ist ja auch egal“, sagte er.
Es klang kurz noch trotzig, dann jedoch zog er geräuschvoll die Nase nach oben und allein meine Vorstellungskraft versetzte mir einen Stich.
„Wenn du da bist, hörst du mich. Und wenn nicht, dann weiß eh keiner, was ich gesagt habe“, begann er zu sprechen und ich konnte nichts darauf sagen.
Vielleicht war genau das die beste Entscheidung, denn ich unterbrach ihn nicht. Ich redete nicht pausenlos auf ihn ein, was er zu tun und zu lassen hatte. Er bekam keine gut gemeinten Ratschläge, er musste nicht einmal die vorwurfsvollen oder besorgten Blicke ertragen, weil die Tür dazwischen war.
Er musste sich nicht mit mir auseinandersetzen. Ich hörte ihm einfach nur zu.
Hörte ihm zu, nachdem wir wochenlang nur die allernötigsten Worte miteinander gewechselt hatten, ehe wir uns vorhin vollkommen unnötig wegen einer solcen Lappalie wie derverdammten Spülmaschine gestritten hatten.
Ich ließ ihn ausreden und hörte ihm einfach nur zu.
Und anscheinend schien er genau das zu brauchen.
„Ich hab’s nicht so gemeint“, sagte er nämlich und wie vom Donner gerührt lauschte ich einfach nur seinen Worten, die so leise und ehrlich durch die Tür drangen, „Es liegt gar nicht an dir. Du kannst nichts dafür, dass Mama weg gegangen ist. Du hast damit gar nichts zu tun und eigentlich bin ich ja auch froh, dass Papa wieder jemanden an seiner Seite hat, den er lieb hat und bei dem er sich ein bisschen anlehnen kann, wenn es ihm zu viel wird.“
Jakobs Stimme war ganz brüchig geworden und er stolperte über die letzten Worte, ehe er stockte und einige Male zittrig Luft holte.
„Aber ich hab solche Angst“, fuhr er fort und klang mit einem Mal nicht mehr wie ein aufmüpfiger Teenager, sondern wie ein kleiner Junge.
Mit tränenerstickter Stimme redete er und redete. Er redete sich alles von der Seele und ich presste mir die Hand vor den Mund, um ihn nicht zu unterbrechen, sondern wirklich ausreden zu lassen.
Ein Geräusch ließ mich zuammenzucken, aber es war kein Poltern mehr, nur ein leises Kratzen und ein Klacken, als er den Schlüssel einmal umdrehte.
„Ich hab Angst, dass mit dir alles wieder so wird wie früher mit Mama. Ich hab Angst, dass Papa dich mehr liebt als mich und gar keine Lust mehr auf mich hat, weil ich immer nur Probleme mache. Ich hab Angst, dass ihr euch wegen mir streitet und dann redet ihr nicht miteinander, dann brüllt ihr euch an und du gehst und lässt uns wieder ganz allein.“
Erst als er eine kurze Pause machte, bemerkte ich, dass ich selbst zu weinen begonnen hatte. Und doch schaffte ich es nicht einmal, in zu unterbrechen, sondern ließ ihn ungestört weiterreden.
Dann wieder ein Kratzen und ein Klacken, als er den Schlüssel das zweite Mal umdrehte und die Tür entriegelte.
Sie war offen. Ich hätte einfach hineinmarschieren können, aber ich saß einfach nur am Boden und versuchte, nicht einfach über Jakobs Schmerz zu verzweifeln.
„Immer wenn ich etwas vorhabe, dann erreiche ich genau das Gegenteil. Ich wollte doch nur, dass Mama und Papa sich wieder vertragen. Ich wollte doch nur, dass wir wieder eine Familie sind. Dann wollte ich Papa für mich allein haben und jetzt will ich einfach nur, dass Papa glücklich ist. Und wenn er mit dir glücklicher ist als mit mir, dann will ich euch gar nicht stören. Ich hatte nur gehofft, dass wir drei eine Familie sein könnten. Heutzutage geht das doch. Auch wenn wir nicht wirklich verwandt sind, aber das wäre mir egal.“
Er zog wieder die Nase hoch und schluchzte leise. Ich schaffte es nicht mehr, regunglos sitzen zu bleiben und einfach nur zuzuhören. Mir schmerzte die gesamte Brust. Es tat so weh, ihn derartig leiden zu hören und er sprach immer noch weiter, als ich aufstand und meine Hand behutsam an den Türknauf legte.
„Ich hab Angst“, sagte er wieder „Ich hab’s nicht so gemeint, ich hab einfach immer nur solche Angst. Ich will nicht wieder alles kaputt machen. Ich hab Angst, dass du Papa allein lässt, weil ich so anstrengend bin. Ich hab Angst, dass du mich nicht leiden kannst und deswegen bald die Schnauze voll hast. Ich hab einfach solche Angst, dass ich niemals dein Kind sein werde, ganz egal wie sehr ich mir das wünsche. Dass du Papa liebst und mich akzeptierst, weil ich halt sein Kind bin. Dass ich hier geduldet bin, aber nicht geliebt. Und das- das macht mir Angst.“
Mir entfuhr ein Schluchzen, als ich die Lippen zusammenpresste und einfach nur den Kopf schüttelte, auch wenn Jakob mich gar nicht sehen konnte.
Jakob wurde komplett still und sagte einige Momente lang überhaupt nichts.
„Du bist echt noch da“, sagte er leise.
Es klang weder wütend noch schockiert. Es klang wie eine nüchterne Feststellung, als würde er es gar nicht so recht fassen können, als hätte er nie damit gerechnet.
„Natürlich bin ich noch da“, sagte ich sanft, „Darf ich reinkommen?“
Jakob schwieg und schluchzte.
„Ja“, hörte ich dann seine zittrige Stimme.
Als ich die Tür langsam öffnete, sah ich einige Momente in sein verquollenes, tränenüberströmtes Gesicht, bevor er mir einfach um den Hals fiel und so herzzerbrechend sehr an meiner Schulter gelehnt wieder zu weinen begann.
„Du bist wirklich noch da!“, schluchzte er.
Ich hielt ihn fest in meinen Armen und küsste liebevoll seine Stirn.
„Ja, das bin ich“, sagte ich leise.
Vorsichtig streichelte ich seinen Rücken, während er sich fest an mich klammerte und es mir vorkam, als könnten keine Worte dieser Welt so viel ausdrücken wie eben diese Tatsache.
„Ich bin da“, sagte ich noch einmal und wiegte Jakob sanft in meinen Armen, „Ich bin da und hier bleibe ich.“