Herbstzeitlose
11.08.2019
Oft denke ich daran zurück, wie damals alles begonnen hatte.
Es war Anfang Oktober gewesen und das erste Mal, an dem Christoph niemanden gefunden hatte, bei dem er Jakob hätte unterbringen oder irgendwie anders beschäftigen können, während wir uns trafen.
Ich hatte am Telefon sofort gesagt, es würde absolut kein Problem für mich darstellen, wenn er seinen Sohn dabei hatte. Es war ihm hörbar unangenehm gewesen, scheinbar sogar etwas peinlich, denn sein Kind hatte er bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal erwähnt gehabt und verschiedene Menschen reagierten bekanntlich sehr unterschiedlich auf solche Details.
Was er erwartet hatte, ist mir bis heute schleierhaft, doch als ich ohne Zögern zustimmte, hatte sich für das restliche Telefonat ein so überglücklicher Unterton in seine Stimme gelegt, dass ich die Entscheidung nicht einen Moment bereuen konnte.
Natürlich war es etwas anderes, gemeinsam schick essen zu gehen oder in einem gemütlichen Café zu sitzen, als bei einer Verabredung zusätzlich noch einen damals Elfjährigen dabei zu haben, dem bei solchen Dingen sterbenslangweilig wäre.
Selbstverständlich hatte ich mir danach auch noch meine Gedanken gemacht.
Ich konnte verstehen, dass er nicht mit der Tür ins Haus gefallen war und sicherlich hatte er auch seine Bedenken gehabt, ob ich überhaupt Lust darauf hatte, mir potenziell einen Mann anzulachen, der ein Kind mit in die Beziehung bringen würde – Wenn es denn soweit kam, was er zu diesem Zeitpunkt aber insgeheim sicherlich schon genauso sehr beabsichtigt hatte wie ich.
Wir hatten uns zuvor zwar erst dreimal verabredet gehabt, doch wenn ich zurückdenke, bin ich mir sicher, dass es um uns beide schon längst geschehen war.
Jedoch war ich zuversichtlich, dass ich mit seinem Sohn würde umgehen können. Es war immerhin sein Fleisch und Blut, und auch wenn es implizierte, dass Christoph zuvor mit einer Frau liiert gewesen war, war ich mir sicher, dass er ebenso liebenswert sein würde wie sein Vater.
Nicht zuletzt hoffte ich womöglich sogar unbewusst darauf, dass er keinen Gedanken mehr an irgendwelche Zweifel verschwenden würde, wenn ich es schaffte, das Vertrauen des Jungen zu gewinnen. So schwer konnte es in dem Alter ja nicht sein, dachte ich noch. Aus dem Gröbsten war er raus und die Pubertät stand noch bevor, vielleicht war es sogar der allerbeste Zeitpunkt überhaupt, um sich ihm anzunähern.
Es lagen trotz des Altersunterschieds noch genügend Jahre zwischen Jakob und mir, dass mich niemand mit seinem Bruder verwechseln würde und wenn ich das Glück hatte, dass seit der Scheidung schon genügend Jahre vergangen waren, dass er sich an seine Mutter gar nicht so recht erinnern konnte, würde ich am Ende sogar leichtes Spiel haben.
Dass ich mir das Ganze einfacher vorgestellt hatte, als es eigentlich sein würde, lag bestimmt vor allem daran, dass ich bis zu jenem Zeitpunkt noch absolut keine Erfahrungen mit Kindern gehabt hatte.
Wie naiv ich gewesen war, fiel mir erst auf, als ich vor ihm stand.
Auf den Wetterbericht hatte man sich die letzten Tage schon nicht mehr verlassen können. Eigentlich war strahlender Sonnenschein angesagt gewesen, doch der Himmel war bedeckt und es stürmte, aber wenigstens regnete es nicht, als ich vor der Haustür auf die beiden wartete.
Wir entschieden uns spontan dazu, einen Spaziergang aufs nahe gelegene Feld zu machen, um den Lenkdrachen steigen zu lassen, den Jakob kürzlich beim Werken in der Schule selbst gebastelt hatte.
Entgegen meiner Erwartung zu einem elfjährigen Kind schien der Junge erstaunlich wenig ausgelassen und viel reservierter, als ich es mir vorgestellt hatte. Er wandte nicht einmal den Blick zu mir, als Christoph mich ihm vorstellte.
„Das hier ist Daniel“, sagte er zu ihm und erntete keinerlei Reaktion, „Der gute Freund, von dem ich dir erzählt habe – Erinnerst du dich?“
Jakob hielt den Drachen samt zugehöriger Spule für die Befestigungsschnur in den Händen und war wohl davon abgelenkt, dass er einen Knoten in der Leine gefunden hatte, den er unbedingt noch lösen wollte, damit unser abenteuerliches Vorhaben auch reibungslos funktionieren würde.
„Sag mal Hallo zu ihm“, forderte sein Vater ihn auf, doch er beschäftigte sich sehr eingehend damit, an den Schnüren herumzuwerkeln und ignorierte mich komplett.
Christoph schien die Situation äußerst peinlich zu sein und sein hilfloses Schulterzucken konnte es genauso wenig verbergen wie der entschuldigende Blick, mit dem er mich ansah, „Der Flieger ist grad wohl wichtiger, tut mir leid. Wollen wir dann mal los, bevor es am Ende doch noch regnet?“
„Klar“, ich nickte zuversichtlich und versuchte, mir die gerade doch langsam aufkommende Unsicherheit nicht anmerken zu lassen.
Wenigstens schien Jakob durch die Tatsache, dass er mich kein einziges Mal ansah, auch nicht zu bemerken, wie Christoph schon nach wenigen Metern seinen Arm um meine Schultern legte und fast beiläufig fragte, wie mein Tag bisher gewesen war.
Ich wollte nicht in seiner Haut stecken, es musste sich wohl angefühlt haben, als stünde er zwischen zwei ungeklärten Fronten und wisse nicht, auf welchen der beiden Menschen er sich nun konzentrieren sollte.
Dass er sich mit mir unterhielt, war sicherlich dem Umstand zu verschulden, dass wir uns seit mehr als einer Woche nicht gesehen hatten und Jakob sowieso desinteressiert schien, denn dass er sich bei einer tatsächlichen Wahl jederzeit ohne nachzudenken für seinen Sohn statt einer dahergelaufenen, neuen Liebschaft entscheiden würde, hoffte ich zumindest von Herzen.
Noch mehr wünschte ich mir allerdings insgeheim, dass er vor einer solchen Entscheidung niemals stehen würde, denn diese beiden Dinge mussten einander ja nicht zwangsläufig ausschließen.
Erst als er mit einem fast aufgeregt wirkenden Lächeln seine Hand um meine schloss und mich spielerisch noch ein Stückchen näher zog, drehte Jakob sich beim Laufen um. Ob er etwas fragen oder etwas sagen wollte, sollten wir nie erfahren.
Er starrte uns einfach nur einige Momente lang an, als würde seine Welt gerade aufhören, sich zu drehen. Kurz darauf lag sein Blick starr und kalt in meinen Augen, als würde er eine stumme Warnung aussprechen, die mir das Herz in die Hose rutschen ließ. Christoph meinte zu ihm, dass wir ja gleich da wären und er ruhig schon mal vorlaufen könnte, wenn wir ihm zu langsam wären - und das tat er auch sofort.
„Mach dir nichts draus“, sagte er dann etwas verlegen zu mir, „Er ist immer ein bisschen kritisch gegenüber Fremden. Das legt sich, sobald ihr euch besser kennen lernt.“
Ich nickte verständnisvoll und lächelte Christoph aufmunternd an.
Insgeheim wurde mir aber in genau diesem Moment bewusst, dass es so einfach mit Sicherheit nicht werden würde. Die Möglichkeit, dass Jakob mich als Konkurrenten um die Gunst seines Vaters ansehen könnte, hatte ich komplett außer Betracht gelassen, mit einem Mal schien es jedoch der Naheliegendste aller Schlüsse zu sein – und wie ich ihm diese Angst jemals würde nehmen können, war mir nicht nur damals ein Rätsel gewesen.
Als wir schließlich schon einige hundert Meter auf dem Feldweg zurückgelegt hatten, verließ Jakob diesen und lief über die Wiese daneben in Richtung eines kleinen Hügels.
Von dort oben hatte man sicherlich nicht nur eine nette Aussicht, sondern auch gute Windverhältnisse zum Drachensteigen, darum folgten wir ihm dorthin und als Jakob schon geschäftig dabei war, die Schnur abzurollen, bückte sich Christoph leicht vornüber.
Erst als er sich wieder aufrichtete, bemerkte ich wirklich bewusst, dass zu unseren Füßen die Wiese mit unzähligen Herbstzeitlosen übersät war und er eine davon gepflückt haben musste, um sie mit einem Lächeln an einem der Knopflöcher meiner Jacke zu befestigen.
Ich redete mir währenddessen noch ein, dass Jakob vielleicht wirklich nur gespannt auf die tatsächliche Flugfähigkeit seines Lenkdrachens war und diese Unternehmung so aufregend war, dass er deswegen gar keinen Kopf für mich hatte und sich das mit der Zeit dann wirklich von allein alsbald ändern würde.
Aber als Christoph mich wieder verspielt näher zu sich zog und diese fast alberne Aktion mit der kleinen Blüte augenzwinkernd durch die Worte „Eine wunderschöne Blume für einen wunderschönen Menschen“ erklärte, bewies Jakob, dass er uns zwar ignorierte, aber lange noch nicht außer Hörweite war.
„Die sind giftig“, sagte er tonlos.
Christoph lief rot an vor Verlegenheit und entschuldigte sich leise bei mir, weil er das anscheinend wohl gar nicht gewusst hatte.
Mir hingegen kam es vor, als hätte Jakob mit diesen drei so unscheinbaren Worten bei weitem nicht nur sein Wissen über die Herbstzeitlose geteilt, sondern so viel mehr noch aussagen wollen.
Unser gemeinsames Schicksal schien in eben diesem Augenblick besiegelt.