Er fühlte sich absolut hilflos ...
19.08.2019
Christoph ist einer dieser Menschen, denen man schon von weitem ansieht, was gerade in ihnen vorgeht.
Selbst wenn er etwas verbergen möchte, schafft er es nicht lange, irgendeine Fassade aufrecht zu erhalten. Normalerweise halte ich hohe Stücke auf diese gar nicht mal komplett freiwillige Ehrlichkeit. Es ist auf diese Weise meist einfacher, auf etwaige Bedürfnisse einzugehen und gewisse Sorgen und Nöte zu erkennen.
Noch dazu hatte er nie die Angewohnheit gehabt, auf eine direkte Frage nach dem Befinden mit einer nur so dahingesagten Antwort wie „Passt schon“ auszuweichen.
Somit ist mir der Abend, an dem ich diese Worte in eben diesem Zusammenhang das erste Mal hörte, noch sehr gut in Erinnerung geblieben.
Er saß mit einer Tasse Tee auf dem Sofa, ich weiß noch genau, dass gerade Fußball lief und seine Mannschaft sogar vorn lag. Daher war mir gleich bewusst, dass etwas mit höherer Relevanz als das Spiel vorgefallen sein musste, wenn auf seinem Gesicht der Ausdruck kompletter Verzweiflung lag.
Ich war eben von der Arbeit gekommen und hatte noch nicht einmal die Schuhe ausgezogen, als mir sein Schweigen so zu denken gab, dass ich ihn überhaupt beim Fernsehen störte.
Auf meine Begrüßung hin gab er mir zwar wie immer einen Kuss, ansonsten sagte er aber nichts bis ich mich neben ihn setzte und ihn in meine Arme schloss.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte ich ihn.
„Passt schon“, sagte er knapp.
Bei diesen zwei kleinen Wörtchen ging für mich fast eine Welt zu Bruch.
Es war viel weniger die Tatsache, dass ich ihm schon an der Nasenspitze ansehen konnte, dass eigentlich gar nichts passte, sondern er nur nicht darüber reden wollte.
Viel mehr war es eben genau das. Ich war immer der Ansicht gewesen, dass man jedes Problem gemeinsam lösen konnte, wenn man darüber sprach und zusammen nach einer Lösung suchte. Dass es aber Dinge gab, die auch nicht besser wurden, wenn man darüber redete, wollte ich zu diesem Zeitpunkt nicht wahrhaben.
Auf meine Frage, was denn passiert sei, bekam ich keine Antwort.
„Ich möchte dir nicht das Gefühl geben, dass ich dir etwas verheimliche“, sagte er, „Aber ich will dich auch nicht damit belasten.“
Vehement hatte ich ihm widersprochen, dass seine Belange niemals eine Last für mich darstellen würden, sondern er mit mir über alles reden konnte.
„Eigentlich hatte ich auch gar nicht vor, mich damit heute noch weiter auseinanderzusetzen“, mit einem schweren Seufzen lehnte er den Kopf gegen meine Schulter, „Einfach eine Nacht drüber schlafen, um wieder einen kühlen Kopf zu bekommen und bei dir all meine Sorgen vergessen.“
„Das klingt super“, meinte ich lächelnd, „Nur irgendwie habe ich das Gefühl, dass du trotzdem darüber nachdenkst?“
„Das ist es ja“, Christoph stellte die Tasse auf dem Tisch ab und kuschelte sich an mich, „Es heißt ja immer, man soll sich ablenken, wenn man gerade ohnehin nichts ändern kann, dass das aber nicht funktioniert, sagt einem keiner!“
Sanft streichelte ich durch sein Haar und verkniff mir fürs erste die tausend Fragen auf meiner Seele, um ihm wenigstens ein bisschen Zeit zu lassen. Ich war alarmiert, aber dennoch war mir auch bewusst, dass ich ihn nicht zum Reden zwingen konnte.
Wenn ich ihn damit derartig überfordern würde, wäre ein Abblocken sicherlich die natürlichste Reaktion und das wollte ich eigentlich verhindern.
Trotzdem wuchs meine Sorge um Christoph mit jeder Sekunde seines Schweigens.
So kannte ich ihn nicht, er wirkte komplett durch den Wind und dass er es nicht einmal richtig benennen wollte, dehnte meine Besorgnis gleich bis zu Jakob aus, den ich an diesem Tag noch nicht einmal zu Gesicht bekommen hatte.
„Andere Leute würden gewiss nicht so einen Aufstand machen“, sinnierte Christoph verdrossen, „Aber es häuft sich einfach und ich weiß nicht mehr, was ich tun soll.“
Es stellte sich heraus, dass wieder mal ein Brief von Jakobs Klassenlehrerin ins Haus geflattert war, in dem sie um ein persönliches Gespräch mit Christoph bat.
Der Termin war erst in ein paar Tagen vereinbart und als er versucht hatte, von Jakob zu erfahren, was denn vorgefallen war, hatte dieser sich ohne jegliche Antwort abrupt zu einem Kumpel verabschiedet, das Haus verlassen und war bisher nicht wieder aufgetaucht.
An sein Telefon ging er nicht und mit wem er neuerdings befreundet war, wusste Christoph auch nicht so recht. In dem Alter telefonierte man wohl auch nicht mehr oft mit den Eltern der Klassenkameraden, falls es denn überhaupt einer von denen war.
Mehrmals fragte mich Christoph, ob ich glaubte, dass er ein schlechter Vater war. Aber selbst meine Einschätzung, dass er doch einen sehr guten Job mache, schien ihm von diesen Zweifeln nichts nehmen zu können.
Er fühlte sich absolut hilflos. Als hätte er keine Chance mehr, überhaupt noch irgendeinen positiven Einfluss auf Jakobs Leben zu nehmen zu können. Als wäre er für ihn nur noch ein Ärgernis, der ständig meckernde Vater, mit dem es immer nur Streit gab.
Und auch ich war komplett überfragt in dieser Hinsicht.
Ich konnte nicht viel mehr tun, als ihm beizupflichten, dass er keine andere Wahl hatte, als das Gespräch abzuwarten, eine Nacht darüber zu schlafen und einen kühlen Kopf bis dahin zu bewahren. Trotzdem sprachen wir noch eine ganze Weile darüber und Christoph erzählte mir von all seinen Bedenken, die er gerade für Jakobs Schullaufbahn sah, wenn er weiterhin immer wieder negativ auffiel.
Danach wirkte er fast erleichtert, wenngleich sich eigentlich nichts an den bestehenden Umständen geändert hatte und mir wurde mir bewusst, dass ich auf eine Art sogar Recht behielt.
Die Situation wurde nicht besser, wenn man darüber sprach.
Aber immerhin musste er die Last nicht mehr allein mit sich herumschleppen, sondern konnte sich mir anvertrauen, damit ich das Gewicht mit ihm gemeinsam trug.