"Lass uns ein Spiel spielen."
04.09.2019
Irgendwann hatten wir einmal abgemacht, jeden Sonntag etwas miteinander zu unternehmen. Die Wahl fiel auf diesen Tag, weil unter der Woche jeder seine eigenen Dinge zu tun hatte und es schon zur Gewohnheit geworden war, am Samstag alles zu erledigen, was im Haushalt liegen geblieben war. Demnach war der Sonntag meist der einzige Tag, an dem wir überhaupt die Chance hatten, regelmäßig mehr Zeit füreinander einzuplanen, die wir zu dritt verbringen würden.
Jakob musste nicht zur Schule, ich musste nicht arbeiten und Christoph hatte einmal gesagt, dass der Sonntag ein „verlorener Tag“ war, weil man nichts erledigen konnte, wenn sowieso alle Geschäfte geschlossen hatten.
Also mussten wir den Sonntag retten, indem wir ihm eine neue Bedeutung schenkten und somit sollte es unser Familientag sein. Dass dabei schon nach kürzester Zeit Probleme auftreten würden, kann sich jeder denken, der uns ein bisschen kennt.
Zu Anfang hatten wir noch massig Ideen, was man unternehmen könnte. Sogar Jakob hatte hochmotiviert eine Liste mit Dingen angefertigt, die er gern machen würde, so mussten wir uns nur etwas aussuchen, wenn wir seine Meinung berücksichtigen wollten.
Nach einer Weile war allerdings alles abgearbeitet, was nicht ein halbes Vermögen kostete, eine mehrtägige Reise erforderte oder bei einer Wiederholung irgendwann an Reiz verloren hatte und unsere Vorschläge wurden kategorisch mit der Aussage „Nee, das ist ja voll langweilig“ abgelehnt.
Sowieso schien die anfängliche Motivation längst dahin und immer öfter musste Jakob sonntags plötzlich sehr viel für die Schule machen oder ganz dringend einem Kumpel bei irgendetwas ganz wichtigem helfen.
Für schönes Wetter ließ Jakob sich immer noch widerwillig zu einem Spaziergang überreden, in der Hoffnung dass seine Schuldigkeit dann nach einer Stunde getan war und er sich wieder zum „Hausaufgaben machen“ in seinem Zimmer einschließen oder zu einem Klassenkameraden zum „Mathe lernen“ verschwinden konnte. Gegen diese Argumente waren wir natürlich machtlos.
Und wenn man einmal herausgefunden hatte, dass die „Hausaufgaben“ im Zimmer jedes Mal aus stundenlanger Beschäftigung mit der Playstation bei einer Geräuschkulisse aus übertrieben lauter Musik bestanden, konnte man sich ungefähr vorstellen, wie das „Lernen“ bei Freunden aussehen würde.
Natürlich konnten wir ihn überreden, etwas mit uns zu unternehmen.
Aber wir konnten ihn nicht dazu zwingen, dass es ihm Spaß machte.
Auch wenn es manchmal sogar schon passiert war, dass er zuerst keine Lust gehabt hatte, es ihm aber dann am Ende doch irgendwann noch Freude bereitet hatte, wurde auch dies seltener.
Wenn ich ganz ehrlich war, konnte ich bei aller Liebe auch gut darauf verzichten, dass Jakob bei jeder Unternehmung mit einem langen Gesicht und abwertenden Kommentaren uns die zunächst noch Laune auch noch mies machte.
Diskussionen und Gespräche über die Thematik endeten im Streit und der Montag wurde zur Erlösung von der familiären Pflicht, die leider dazu geworden war, obwohl wir genau das Gegenteil damit erreichen wollten.
Irgendwann war es soweit, dass die eingeplante Zeit füreinander regelmäßig zu einer Qual für alle wurde, bis wir die Sache noch einmal überdachten und uns eingestanden, dass es auf diese Weise wirklich keinen Sinn hatte.
Jakob war heilfroh, Christoph war erleichtert und ich war frustriert.
Der Sonntag blieb, was er war: Ein verlorener Tag.
Christoph wollte erst ausschlafen und danach fernsehen, Jakob ließ sich nur blicken, um kurz zum Kühlschrank und wieder zurück ins Zimmer zu huschen, wenn er Hunger oder Durst hatte.
Ich fing irgendwann im Keller an, machte in der Garage weiter und landete schließlich auf dem Dachboden in meiner Absicht, alles zu entrümpeln, endlich mal auch an diesen vergessenen Orten ordentlich sauber zu machen und mir zu überlegen, was ich tun würde, wenn es am Ende dann auch dort wirklich nichts mehr zu arbeiten gab.
Auf dem Dachboden stapelten sich noch immer einige volle Kartons und ungenutzte Möbelstücke, die ich beim Einzug mitgebracht hatte.
Es waren verschiedene Dinge, die ich nicht mehr brauchte oder für die wir keinen Platz hatten. Solche, die wir nun doppelt besaßen und solche, deren Ausräumen ich über den Umzugsstress und im Alltag danach so lange vor mich hingeschoben hatte, dass ich sie irgendwann komplett vergessen hatte.
Ich war gerade hin- und hergerissen zwischen dem unterschwelligen Bedürfnis, meine alten Sachen durchzuschauen, dabei alles wegzuwerfen, was ich nie wieder brauchen würde und dem Gedanken, dass der Dachboden groß genug war, dass man ihn zu einer kompletten weiteren Wohnetage ausbauen könnte, als die schmale Holztreppe nach oben knarzte.
Entgegen meiner Vermutung war es aber nicht Christoph, der um Gesellschaft bitten würde, sondern Jakob, der wortlos die Stufen nach oben kletterte und sich zweifelnd umsah.
„Was zum Teufel machst du hier?“, fragte er mich.
Ich zuckte grinsend mit den Schultern, „Ordnung.“
Jakob sah sich unbeeindruckt zwischen Staubflocken und Gerümpel um.
„Und ich dachte schon, du bist geflüchtet“, meinte vorwurfsvoll, dann legte er den Kopf schief, „Dafür dass du scheinbar sauber machst, sieht es hier aber immer noch katastrophal aus!“
Etwas verlegen kratzte ich mich am Kinn.
„Bin noch nicht ganz fertig“, sagte ich dann, „Magst du mir helfen?“
Jakob konnte nicht verbergen, dass sein Blick neugierig über die Sachen schweifte, auch wenn er eigentlich komplett desinteressiert wirken wollte.
„Es ist Sonntag“, murrte er abweisend, bewegte sich aber nicht vom Fleck.
Kurze Zeit schwiegen wir uns an, ich kramte noch beiläufig in einem Karton voll mit alten Büchern, die im Regal keinen Platz mehr hatten.
„Mir ist langweilig“, ließ Jakob dann verlauten.
Ich ließ Krieg und Frieden zurück in den Karton sinken und sah Jakob an.
„Du musst bestimmt Hausaufgaben machen“, wagte ich zu vermuten.
Er brummte nur, „Nee, hab ich schon gemacht.“
„Und lernen?“, fragte ich vorsichtig.
Er verdrehte die Augen, „Nee, bin schon fertig.“
Ich musste lächeln.
„Lass uns ein Spiel spielen“, schlug ich vor.
Jakob stöhnte auf, „Ich bin doch kein kleines Kind mehr!“
„Zum Spielen ist man nie zu alt“, behauptete ich.
„Doch“, sagte Jakob und musste grinsen, „Wenn man hundert Jahre alt ist, darf man die meisten Brettspiele offiziell nicht mehr mitspielen!“
Ich lachte, „Na gut, aber bis dahin hast du noch ein paar Jahre Zeit.“
„Was willst du denn spielen?“, fragte Jakob und versuchte, möglichst genervt zu klingen, „Wir haben nur langweilige Spiele da.“
Zwar wusste ich nicht, ob wir überhaupt auf einen gemeinsamen Nenner kommen würden, wenn er die Vielfalt unserer Karten- und Brettspiele im Wohnzimmer kategorisch ablehnte, dennoch sah ich mich verlegen um.
Mit einer ausladenden Handbewegung verwies ich auf die unzähligen Kartons, „Wer zuerst den Karton mit den Brettspielen findet, darf sich eins aussuchen?“
Jakob lachte und schüttelte den Kopf.
„Und wenn wir ausnahmsweise was Cooles spielen würden?“, fragte er.
Ich zuckte mit den Schultern, „Zum Beispiel?“
„Billard“, sagte er wie aus der Pistole geschossen, „Dart. Bowling. Oder zumindest Tischkicker.“
„Haben wir leider alles aktuell nicht im Angebot. Ich dachte da eher an sowas wie Siedler von Catan“, meinte ich mit einem schiefen Lächeln.
Jakob verdrehte die Augen.
„Folgender Vorschlag“, begann er, „Ich helfe dir, hier oben sauber zu machen und im Gegenzug gehen wir heute Abend Billard spielen?“
Fast schon glaubte ich, mich verhört zu haben.
Ich wollte darauf hinweisen, dass er beim letzten Mal, als wir Kegeln waren, ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter gezogen hatte.
Die Möglichkeit, dass Jakob nach dem abrupten Ende der Tradition die gemeinsamen Sonntage insgeheim vermissen würde, aber viel zu stolz war, es zuzugeben, hatte ich wirklich nicht in Erwägung gezogen.
„Abgemacht“, sagte ich und strahlte über das ganze Gesicht.
Jakob lachte, zuckte mit den Schultern und lief zur Leiter.
Ich sah ihn fragend an, „Und wohin gehst du jetzt?“
„Zu Papa“, meinte er, während er schon nach unten stieg und grinste, „Wenn er uns heute Abend was zu Essen macht, darf er sogar mitkommen!“
Seitdem gab es keine große Debatte mehr über den Familientag.
Nachdem Jakob und ich nach ein paar Wochen den Dachboden komplett entrümpelt hatten, starteten wir eine Überholungsaktion und holten uns Christoph mit ins Boot für Renovierungsarbeiten. Stunden verbrachten wir damit, aber immer wenn wir fertig waren, gingen wir danach zum Billardspielen.
Ich trennte mich von einigen Dingen, andere konnten wir zur Einrichtung unseres neuen Hobbyraums gebrauchen und nachdem unzählige Sonntage mit vereinten Kräften gearbeitet wurde, überraschten wir Jakob zu seinem Geburtstag mit einer Dartscheibe und einem Tischkicker auf dem Dachboden.
„Der Billardtisch war doch ein bisschen zu teuer“, meinte Christoph verlegen, aber Jakob kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus und winkte grinsend ab.
„Ist doch super“, sagte er, „Sonst müssten wir das Haus ja überhaupt nicht mehr verlassen!“
Mit der Zeit kamen immer wieder Sonntage, an denen Jakob keine Lust auf gemeinsame Stunden hatte. Aber für jeden davon gab es mindestens zwei, die wir zusammen auf dem Dachboden verbrachten.
So musste selbst Christoph sein Urteil über den „verlorenen Tag“ revidieren.