Erinnerung, schön wie ein Traum
15.09.2019
Seitdem ich Christoph kenne, hat sich vieles in meinem Leben verändert.
Dass Jakob dabei immer eine große Rolle gespielt hat, gebe ich gern offen zu, denn es ist meiner Meinung nach unmöglich, mit einem Vater zusammen zu sein, ohne dessen Kind ebenso zu lieben wie ihn.
Manchmal hatte er sich gar dafür entschuldigt, dass wir so wenig Zeit füreinander zu zweit hatten. Aber wenn ich ehrlich bin, waren genau die Situationen der extra eingeplanten Zweisamkeit oft diejenigen gewesen, in denen etwas gefehlt hatte.
Es hatte nicht lang gedauert, bis ich mir eine Beziehung zu Christoph ohne Jakob gar nicht mehr hatte vorstellen können.
Wir waren kein Paar. Wir waren eine Familie.
Und so sehr mich dieses Tatsache auch einige Male mehr Nerven gekostet hatte, als ich vor Christoph würde zugeben, wollte ich es anders gar nicht haben.
Es war einige Wochen nach Jakobs sechzehntem Geburtstag, bei dessen Gestaltung wir relativ wenig Mitspracherecht gehabt hatten. Immerhin war er längst viel zu alt für einen Kindergeburtstag, aber auch noch viel zu jung, um daran Freude zu haben, an einem äußerst langweiligen Kaffeetisch zu sitzen.
Mit den Kumpels hatte er reingefeiert, war viel zu spät nach Hause gekommen und hatte seine Zeit mit uns mehr pflichtbewusst abgesessen als sich über die Torte zu freuen, die wir im Schweiße unseres Angesichts zusammen gebacken hatten.
Unansehnlich war sie zwar gewesen, aber geschmeckt hatte sie wirklich gut.
Immer wieder überkam mich das Gefühl, dass wir es trotz aller Probleme doch wirklich gut hin bekamen. Welche Familie war schon perfekt? Um Perfektion ging es doch gar nicht, sondern darum, immer einen sicheren Hafen zu haben und trotz diverser Meinungsverschiedenheiten immer wieder zueinander zu finden.
An diesem Tag war Jakob nach der Schule nicht einmal wie üblich gleich oder zumindest etwas später wieder aus dem Haus gegangen, sondern wirkte unüblich anhänglich und fast schon besorgniserregend gut gelaunt.
Im Nachhinein kann ich es mir nicht anders erklären, als dass Christoph ihn von Anfang an in seine Pläne eingeweiht hatte, aber er machte ohne zu Murren den liegen gebliebenen Abwasch vom Mittagessen.
„Ihr seid echt voll albern“, hatte er Christoph und mich augenrollend wissen lassen, als ich mit einem Strauß Rosen zur Tür hineingekommen war.
„Nach fünf Jahren ist das doch gar kein besonderer Tag mehr“, beschwerte er sich, als wir uns küssten und einander zum Jahrestag beglückwünschten.
„Das ist glaub mehr so ein Ehrentag, dass ihr es schon so lange miteinander aushaltet, ohne euch gegenseitig umgebracht zu haben“, lachte er kopfschüttelnd, als wir extra noch weiter rumknutschten, um ihn auf die Palme zu bringen.
Danach schüttelte er uns beiden sehr offiziell die Hand und wünschte uns „Herzliches Beileid zum Jahrestag“, woraufhin ich ihn einfach so liebevoll drückte, dass er bald schon reißaus nahm und sich mit den Worten „Ich glaub, ich lass euch lieber allein, ist ja voll eklig wie ihr heute drauf seid!“ dann doch in sein Zimmer verkroch.
Seit vier Jahren gingen wir an genau diesem Tag regelmäßig in das Restaurant, an dem wir vor fünf Jahren gewesen waren, bevor ich das erste Mal bei Christoph übernachtet hatte, was in unserer Zeitrechnung eben den offiziellen Beginn unserer Beziehung markierte.
Auch für heute hatten wir das geplant und während Christoph die letzten beiden Jahre noch gemeint hatte, dass er sich für mich ja nicht mehr extra aufbrezeln müsse, machte ich mich wie gewohnt schick zum Ausgehen. Als ich danach ins Schlafzimmer trat, fand ich Christoph vor dem Spiegel, wie er gerade vergeblich versuchte, sich sehr umständlich eine Krawatte anzulegen.
„Hast du beschlossen, dass du mich jetzt doch mal wieder beeindrucken musst?“, neckte ich ihn fröhlich, „Du wirst immerhin auch nicht mehr jünger!“
Er lachte nur und ließ sich von mir die Krawatte ordentlich binden.
„Irgendwann lerne ich es noch“, beteuerte er und ich schmunzelte nur.
„Nicht solange ich dir immer helfe“, meinte ich, „Ich sollte dich einfach mal daran verzweifeln lassen, aber das bringe ich nicht übers Herz. Hat Jakob dich in seine Pläne für heute Abend eingeweiht?“
Christoph zuckte grinsend mit den Schultern, „Scheinbar bleibt er hier. Ich hatte zunächst auch gedacht, dass er krank ist, aber er muss wohl noch irgendeine Projektarbeit fertig bekommen.“
„Wenn wir später heimkommen und hier große Hausparty ist, dann weißt du bescheid“, lachte ich, „Aber solange das Haus noch steht, soll’s mir recht sein.“
Christoph nahm mich an der Hand und zog mich zu sich.
„Weißt du wie egal mir das heute ist?“, meinte er grinsend, „Von mir aus kann er mit seinen Freunden im Wohnzimmer Shisha rauchen. Wenn er danach wieder aufräumt und ordentlich durchlüftet, drücke ich mal ein Auge zu.“
Ich küsste ihn und löste mich dann, um endlich meine Schuhe anzuziehen, damit wir irgendwann vielleicht auch mal loskamen. Vorzugsweise pünktlich genug für unsere Tischreservierung.
Es war eine stille Vereinbarung, dass dieser Tag neben den üblichen beruflichen Verpflichtungen wirklich nur uns gehörte und wir uns von nichts und niemandem aus der Ruhe bringen lassen würden.
Trotzdem dachte ich immer wieder an Jakob, als wir schließlich im Auto saßen, beruhigte mich aber mit dem Gedanken daran, dass er uns sowieso den Vogel zeigen würde, würden wir ihm anbieten mitzukommen.
Christoph hingegen schien fast unüblich aufgeregt für unsere bewährte Jahrestagstradition, aber ich dachte mir in diesem Moment absolut nichts dabei.
Ich genoss einfach, dass wir die Fahrt und den restlichen Weg über statt Probleme zu wälzen nur scherzten und in Erinnerungen schwelgten, bis ich mich mit all diesen Situationen im Kopf fast wieder wie frisch verliebt fühlte – bis darauf, dass es nach all dieser Zeit mehr war als nur Schmetterlinge im Bauch.
Viel mehr. Es war die Erfüllung des Wunsches, den ich damals gehabt hatte.
Als wären die kühnsten Träume aus dieser Zeit in Erfüllung gegangen und noch so viel mehr. Es war nicht einmal so, dass ich Christoph liebte wie am ersten Tag.
Ich liebte ihn einfach mit jedem Tag noch mehr.
Und als wir schließlich ganz gemütlich in unserem Lieblingsrestaurant saßen, kramte er fast verlegen ein Feuerzeug aus der Tasche, um die dekorative Kerze auf dem Tisch anzuzünden.
„Rauchst du etwa wieder oder willst du einfach nur so tun, als wärst du plötzlich zum Romantiker geworden?“, neckte ich ihn grinsend und er griff schmunzelnd nach meiner Hand, die ich lässig auf die Tischplatte gelegt hatte.
Er lächelte nur vielsagend und brachte wohl kein Wort heraus.
Die gesamte Zeit über sah er mich so an, als würde ihm etwas auf der Zunge liegen, was er sich dann wohl doch nicht getraute zu sagen und erst als er auch nach dem Essen bis auf wenige kleine Wortwechsel unüblich schweigsam war, machte ich mir dann doch Gedanken.
Immer wieder sah Christoph sich fast nervös um, als würde er nach irgendetwas suchen, und je mehr Zeit so verstrich, desto besorgter wurde ich.
Ich zerbrach mir den Kopf, was in Gottes Namen ihm denn so schwer auf der Seele lasten musste, dass er es nicht einmal schaffte, es mir anzuvertrauen. Natürlich war mir bewusst, dass er sicherlich die Vereinbarung, keine Problematiken zu thematisieren, noch im Kopf hatte und sich deswegen vielleicht nicht so wirklich dazu durchringend konnte.
Immerhin war das unser Tag, aber es wäre mir um einiges lieber, als dass ich nun durch eben diese Sorge auch selbst immer nervöser wurde.
Als wir wieder im Auto saßen, huschte sein Blick immer wieder zu mir.
„Was ist los?“, fragte er schließlich, „Alles in Ordnung?“
Ich schnaufte, „Das wollte ich dich gerade fragen! Ich hab gerade echt das Gefühl, dass du wieder nur am Grübeln bist.“
„Grübeln? Ach Quatsch!“, Christoph musste leise lachen und zwinkerte mir zu, „Ich denke nur darüber nach, wie wir den restlichen Abend verbringen könnten.“
Vielleicht bildete ich mir ja wirklich nur ein, dass er mir etwas verschwieg.
Womöglich war ich nach einigen Situationen wirklich paranoid geworden, denn während Christoph den Wagen parkte, wirkte er fast schon überschwänglich gut gelaunt, wenngleich auch immer noch komplett nervös.
„Oho“, ich hob grinsend eine Augenbraue, „Das klingt ja vielversprechend. Hast du denn besondere Wünsche?“
Christoph küsste mich schmunzelnd, bevor er ausstieg und mir unüblich zuvorkommend die Tür öffnete, „Nichts allzu ausgefallenes. Nur du und ich und sehr viel Zeit zusammen allein.“
Als ich ausstieg, entdeckte ich, dass bei Jakob noch Licht im Zimmer brannte und er wohl vergessen hatte, die Stehlampe im Wohnzimmer auszumachen oder zumindest die Jalousien nach unten zu lassen. Es war längst dunkel, aber durch die Fenster fiel warmes Licht nach draußen.
Zumindest fand bei uns keine Hausparty statt.
Christoph meinte, er müsse noch schnell schauen, ob er die Brunnenanlage in unserem Gartenteich aus Versehen nicht abgeschaltet hatte und ich wartete einige Minuten ungeduldig, ehe mir die Sache doch etwas seltsam vorkam.
„Wie lange genau brauchst du, um nach dem Brunnen zu schauen?“, rief ich dann doch etwas genervt schon an der Haustür in Richtung Garten, aber ich erhielt keine Antwort.
Seufzend beschloss ich, kurz nach dem rechten zu sehen.
Als ich aber durch die kleine Tür im Zaun in den Garten trat, blieb mir einige Momente lang komplett die Luft weg.
Irgendjemand, der bei kleinen, unverhofften Geheimnnissen wohl besonders gut dicht halten konnte, musste während unserer Abwesenheit den gesamten Garten über und über mit Teelichtern bestückt haben – und Christoph zündete gerade noch hastig eins an, bevor er mit einem breiten Grinsen zur Gartenlaube trat, die mit einer Lichterkette aus kleinen Lampions ausgeleuchtet war.
Auf dem mit roten Rosen geschmückten Tisch stand eine Schale mit Eiswürfeln und einer Flasche Sekt darin, daneben zwei Gläser und eine größere Kerze.
„Kleine Überraschung“, meinte Christoph ganz verlegen und wusste scheinbar nicht so ganz, wohin mit seinen Händen.
„Und ich dachte ja, diese ominöse Projektarbeit wäre tatsächlich für die Schule gewesen“, merkte ich noch an, strahlte aber über das ganze Gesicht und nahm Christoph überglücklich in den Arm, um ihn zärtlich zu küssen.
„Es ist wunderschön“, hauchte ich gegen seine Lippen.
Er hielt mich fest und als er sich löste und mir einige Momente lang tief in die Augen sah, schien er beinahe zu zittern.
Etwas schief lächelnd sah ich ihn an und streichelte über seine Wange.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte ich wieder.
Wenn die beiden sich solche Mühe gegeben hatten, sollten seine Sorgen unserem schönen Abend wirklich nicht im Weg stehen. Immerhin hatte ich ihm doch sicherlich klar gemacht, dass er mit mir über alles reden konnte.
Christoph aber lächelte überglücklich, „Mehr als das- ich- ich meine, also-“
Er räusperte sich und seine Lippen zuckten kurz, dann dachte ich kurz panisch, er würde einfach vor lauter Aufregung umkippen, aber ich konnte mir in meiner grenzenlosen Naivität immer noch keinen Reim aus der ganzen Sache machen.
Erst als ich bemerkte, dass er mitnichten umgefallen war, sondern sich vor mir auf einem Bein in das Lichtermeer im Gras gekniet hatte, blieb mir der Mund offen stehen. Ich konnte nicht einmal mehr klar denken, ich sah nur all die kleinen Flammen um uns herum und wie seine Augen im flackernden Licht glänzten, als er zu mir aufblickte und tief Luft holte.
„Ich- Ich hatte mir wirklich eine ganze Menge Worte zurechtgelegt, die ich jetzt noch sagen wollte“, begann er und lächelte ein so ehrliches und liebevolles Lächeln, dass mir der Atem stockte, „Jetzt wo du so vor mir stehst, kann ich aber an gar nichts anderes mehr denken als an dich und wie wundervoll du bist. Vor fünf Jahren hätte ich nicht einmal im Traum gedacht, dass alles in Erfüllung gehen könnte, was ich mir wünschte – und doch ist es jetzt so viel mehr als das. Das einzige, was mir jetzt noch zu meinem Glück fehlen könnte, es- es ist- einfach nur“
Er geriet ins Stocken, fand aber schnell seine Sprache wieder.
Ich sah ihn einfach nur fasziniert und voller tiefer Liebe an, während ich bemerkte, wie mir überglückliche Tränen in die Augen stiegen. Meine Antwort auf die Frage, die er mir womöglich stellen wollte, stand längst fest und ich musste mich beinahe zusammenreißen, ihn ausreden zu lassen.
„Mir war damals längst klar, dass du derjenige bist, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen möchte. Und jetzt fehlen mir einfach die Worte, um auszudrücken, wie viel du mir bedeutest und wie sehr ich mir wünsche, dass du mich auch in zwanzig Jahren und mehr noch immer so anschaust wie jetzt gerade.“
Mit zittrigen Fingern, ebenfalls feuchten Augen und einem fast unsicheren kleinen Lächeln präsentierte er mir eine kleine Schachtel und öffnete sie, um den Blick auf den Ring darin freizugeben.
„Ich liebe dich, Daniel. Ich möchte für immer und ewig mit dir zusammen sein. Deswegen- deswegen möchte ich- ich wollte dich fragen- ob-“, es berührte mich, wie aufgeregt er zu sein schien, aber ich war nicht darauf gefasst, wie sehr mich die anschließenden Worte doch trotz all der Vorahnung mittlerweile doch mitten ins Herz trafen, „Willst du mich heiraten?“
Entgegen all meiner Pläne brachte ich zuerst kein Wort heraus, sondern kniete mich einfach kurzerhand neben ihn auf den Boden, um das zittrige, aufgeregte Häufchen Elend fest in meine Arme zu ziehen und innig zu küssen.
„Ja“, hauchte ich gegen seine Lippen und küsste ihn wieder, immer und immer wieder, „Ja, das möchte ich.“
Einige Momente lang hielten wir uns einfach fest umschlungen, bis wir schließlich beide zusammenzuckten, als das Klatschen von zwei begeisterten Händen und ein Pfiff ertönte.
Beide unsere Köpfe fuhren zum Haus herum, wo Jakob grinsend an seinem Fenster stand, uns scheinbar die ganze Zeit beobachtet hatte und applaudierte.
„Na endlich“, rief er lachend, „Ich dachte schon, das wird heute gar nichts mehr!“
Den restlichen Abend verbrachten wir alle drei in der so liebevoll geschmückten Gartenlaube und Christoph erlaubte Jakob sogar, mit uns anzustoßen und ein Glas Sekt zur Feier des Tages zu trinken.
Ich weiß noch gut, wie sehr alles in purer Glückseligkeit verschwommen war und als ich am nächsten Morgen neben Christoph wach wurde, musste ich erst einen Blick auf den Verlobungsring an meiner Hand werfen, damit ich überhaupt glaubte, dass es nicht nur ein wunderschöner Traum gewesen war.