Er drehte den Schlüssel und öffnete die Türe. Mit einem lauten Knarren öffnete sich der schwere Flügel langsam.
„Richard, das ist keine gute Idee!“
„Sei kein Frosch!“, lachte der Mann und zog die zögernde Frau in die Dunkelheit. „Komm schon!“
Widerstrebend ließt sie sich von ihm fortführen. Sie hatte kein gutes Gefühl dabei. „Wir sollten lieber gehen!“
„Du bist wirklich ein Angsthaste“, lachte er, während er mit seiner Taschenlampe den Raum ausleuchtete. „Hier neben dem Eingang müsste eigentlich ein Lichtschalter sein.“
„Vielleicht ist ja der Strom abgeschaltet oder die Sicherungen aus?“, hoffte sie unbehaglich.
Der Mann beachtete sie nicht, sondern betätigte leicht lachend den Lichtschalter, den er gerade gefunden hatte.
Zu Monikas großen Enttäuschung wurde es auch tatsächlich hell.
Hell war ein wenig übertrieben, da der opulente Kronleuchter mit elektrischen Kerzen nur ein sehr mattes Licht in den Raum warf.
„Komisch. Aber möglicherweise kann man diese Lichter ja dimmen“, mutmaßte er. „Aber solche hohen Herrschaften haben ja vielleicht auch komische Angewohnheiten, was weiß ich.“
„Bitte, lass uns gehen. Wenn uns jemand sieht oder der Besitzer zurückkommt…“
„Sei doch nicht so ängstlich.“ Beruhigend tätschelte er ihre rechte Hand. „Du tust ja gerade so, als hätte ich diesen Schlüssel gestohlen.“
Sie blickte auf den großen altertümlichen Schlüssel, den er in seine rechte Hosentasche gesteckt hatte und mit der Reide herausragte. „Das nicht, aber ganz legal ist das auch nicht.“
„Ich habe dir doch gesagt, der Kämmerer ist ein alter Freund. Und er hatte mir schon lange versprochen, dass mich mir diese heiligen Hallen einmal ansehen könnte, Nur hat er ja nie Zeit. Wir dürften eben nur nichts anfassen oder kaputtmachen.“
„Ich glaube nicht, dass der Baron damit einverstanden ist“, jammerte sie unbehaglich. „Was ist, wenn doch jemand da ist? Dann verhaftet man uns noch als Einbrecher!“
„Papperlapapp! So langsam regst du mich wirklich auf“, fuhr Richard sie ungehalten an. „Uns kann nichts passieren. Der Baron wohnt nicht hier und kommt jeden ersten Samstag für zwei Tage hierher. Sonst steht dieses Haus leer. Deshalb hat den Schlüssel ja für Notfälle bei der Stadtverwaltung hinterlegen lassen, da keine Angehörigen in der Nähe sind oder er zu geizig ist, jemand zu bezahlen, der regelmäßig nach dem Rechten schaut.“
„Eben du sagst es! Für NOTFÄLLE!“, widersprach er.
„Dann schauen wir jetzt eben nach einem Notfall. Und nun sei endlich ruhig! Ist es nicht fantastisch hier?“
Mit leuchtenden Augen blickte er sich umher. Trotz der schwachen Beleuchtung war die geschmackvolle und wertvolle Einrichtung nicht zu leugnen.
Monika seufzte innerlich und zog es vor, zu schweigen. Dieses alte Herrenhaus lag so abseits, dass all dies nicht so klar war, wie er behauptete. Sie taten hier etwas, was nicht recht war und ihr mulmiges Gefühl wollte nicht verschwinden. Da konnte ihr Freund noch so selbstsicher die Tatsachen verdrehen.
Das alte Herrenhaus mitsamt ihrem Baron hatte eh eine seltsame Geschichte. War der alte Baron – also der Vater des jetzigen -noch ein recht umgänglicher Mensch und sehr beliebt gewesen, so konnte man dies von seinem Sohn nur bedingt sagen. Er lebte sehr zurückgezogen und wurde kaum gesehen. Eigentlich war es ein Rätsel, weshalb er dieses alte Gebäude überhaupt noch besaß, wenn er es eh kaum zu nutzen schien.
Dieser Hintergrund trug nicht gerade zu Monikas Beruhigung bei. Und so konnte sie es nicht wirklich genießen, hinter ihrem Freund herzugehen. Ein leichtes Unbehagen schwang mit und sie zwang sich, all diese Möbelstücke und die kunstvollen Wände und Böden anzusehen, um nicht eine neue Diskussion mit Richard heraufzubeschwören. Sicher, die Einrichtung war bewundernswert und es war sicher ein kleiner Traum, hier zu wohnen – aber sie waren Eindringlinge und daher konnte sie es nicht genießen. Sie wollte nur noch eines – möglichst schnell wieder von hier weg.
„Was zögerst du immer noch? Du bist unmöglich!“, nörgelte er verständnislos.
„Wer ist hier unmöglich! DU bist es! Ich muss hier mit, nur weil du dich allein nicht traust.“
„Pah! Andere wären dankbar, aber nein, Monika Gruber, hat wie üblich etwas einzuwenden.“
Diesmal seufzte sie laut. „Bitte, Richard. Schau doch mal – das alles wirkt nicht so, als würde nur einmal im Monat jemand hier vorbeikommen.“
„Ihr Frauen seid unmöglich. Neugierig wie sonst was, aber dann kneifen, wenn man mal etwas mutig sein muss. Also kommst du mit ins nächste Zimmer oder bleibst du hier stehen?“
Eine wirkliche Alternative wäre es gewesen, durch diesen Raum wieder aus der Türe ins Freie zu gehen. Was aber eine lange Diskussion nach sich ziehen würde, sobald beide in ihrem Renault saßen. Und alleine im Auto zu warten, hier im Dunklen abseits der anderen Häuser, war auch nicht wirklich besser.
„Schön, aber mach bitte langsam, nicht, dass wir noch etwas kaputtmachen.“
„Ich pass schon auf“
Gemeinsam betraten sie das nächste Zimmer. Oder wohl eher einen Saal.
Diesmal waren es mehrere Kronleuchter, die aber ebenfalls nur unzureichend beleuchteten. Links neben einigen hochstehenden Fenstern konnte Monika im Eck einen hochwertigen Flügel entdecken. Gegenüber befanden sich mehrere hochwertige Stühle, in sechs Reihen ordentlich und akkurat platziert. Mit ihrem roten Samtbezügen passten sie wunderbar in diesen Raum. Beide mussten ihr Schritttempo anpassen, denn der Parkettboden war, wie es sich für einen Tanzboden gehörte, gut gewienert.
Richard schmunzelte. „Ziemlich übersichtlich eingerichtet, oder? Und nur so ein altes Klimperpiano, keine Anlage oder so. Das ist echt furchtbar altmodisch. Wobei ich mir auch wirklich nicht vorstellen kann, dass dieser Typ überhaupt groß zum Tanz einlädt. Wenn überhaupt, dann sicher nur Stücke wie Beethoven & Co. Und alle sitzen steif herum.“
Sie verspürte plötzlich den seltsamen Drang, den unbekannten Baron zu verteidigen. „Woher willst du das wissen? Keiner kennt ihn wirklich. Vielleicht ist er ganz anders als du denkst.“
„Ist ja auch unwichtig. Komm, setzen wir uns mal auf einen dieser hoheitlichen Sitzplätze.“
„Wenn du meinst.“ Am besten hörte sie auf, sich mit ihm zu streiten und gab ausnahmsweise nach. Es erschien ihr einfach unangebracht, in diesem fremden Gebäude mit ihm zu diskutieren. Und je weniger Diskussion, desto schneller war dies hier alles vorbei.
Vorsichtig setzte sie sich auf einem der Stühle und schloss die Augen, um sich etwas zu sammeln. Richard hatte ja nicht ganz unrecht – dieses Haus war in der Tat interessant und geheimnisvoll. Im Gegensatz zu ihrem Freund war sie davon überzeugt, dass hier sehr wohl Veranstaltungen stattfinden und auch getanzt wurde. Wofür sonst dieser präparierte Parkettboden? Und ob da wohl wirklich immer nur Klavier gespielt wurde, oder auch andere Instrumente dabei waren?
Bevor sie den Gedanken weiterverfolgen konnte, hörte sie den Stuhl neben sich quietschen. Der Mann war schon wieder auf dem Sprung.
Nein, nicht wie bei einer Flucht gleich weiter. Widerwillig öffnete sie die Augen.
„Richard, lässt du mich hier kurz genießen? Ich komme gleich nach!“
„Ah, hat meine Freundin nun doch endlich etwas Gefallen gefunden? Aber bleib ruhig sitzen. Wir werden uns schon hören, ansonsten rufe einfach. Es ist ja sonst keiner da!“, war seine unerwartete Antwort. Oder war er nun doch froh, sie für einige Zeit loszuwerden?
Monika wartete, bis er den Raum verlassen hatte und seine Schritte nur noch entfernt zu hören waren. Sie verstand ja selbst nicht, was plötzlich mit ihr los war – woher dieses plötzliche Bedürfnis kam, hier einfach zu verweilen und erneut die Augenlider zu schließen.
Ganz deutlich sah sie das Piano vor ihrem geistigen Auge. Und einen Mann, der dahinter saß und irgendein klassisches Stück spielte. In trüben Licht konnte sie nicht mehr als seine Umrisse erkennen und auch nicht hören, was er da klimperte – trotzdem starrte sie in ihrer Fantasie fasziniert in seine Richtung und versuchte, mehr von ihm zu erkennen als nur diese Schemen.
Gleichzeitig meine sie eine seltsame Präsenz hinter sich zu spüren. Zwei Augen, deren Blick sich in ihren Rücken bohrten. Und war da nicht eine leichte Kälte, die sie mit einem Mal umgab?
Erschrocken riss sie die Augen auf, sprang auf und drehte sich panisch um!
Natürlich war da – nichts!
Und doch blieb das Gefühl, beobachtet zu werden.
„Richard?“, rief sie mit piepsiger Stimme und stolperte durch die Stuhlreihen nach vorne. Sie wollte nur noch fort von diesem Ort.
Lange brauchte sie nicht zu warten, denn der Mann kam aus der Seitentüre zurück.
„Was machst du denn für einen Lärm?“, rief er entgeistert und betrachtete kopfschüttelnd das Durcheinander. „Nun müssen wir erst die Stühle wieder richtig in die Reihe stellen. Du bist mir vielleicht ein Trampel!“
„Bitte, ich ... ich…“
Resigniert schüttelte er den Kopf. „Ja, das hat mit dir wirklich keinen Sinn. Komm, hilf mir mit den Stühlen, dann gehen wir. Du bist dazu nicht zu gebrauchen!“ Schlechtgelaunt fuhr er fort: „Ich hätte doch Bruno fragen sollen, der hat wenigstens Mumm in den Knochen. Keine Ahnung, ob ich den Schlüssel nochmals bekommen kann. Und dabei habe ich gerade eine seltsame Türe entdeckt, die wohl zum Keller führt, aber verschlossen ist.“
Monika zog es vor, nicht zu antworten. Sie war nur froh, diese Stätte endlich verlassen zu können.
Keiner bemerkte die dunkle Gestalt, die ihnen hinterherblicke.
Ein augenscheinlich junger Mann, groß, hager, mit kurzen leicht lockigen Haaren und ungewöhnlich blass im Gesicht. Ganz in schwarz gekleidet war er mit menschlichen Augen auch kaum wahrzunehmen. Er schüttelte leicht den Kopf und ein leicht spöttisches Lächeln umspielte seine Lippen.
„So, neugierig warst du also, kleiner Sterblicher?“, flüsterte er. „Und was hat es dir gebracht?“. Er konnte diesen Richard nicht verstehen – wenn man schon ungerechtfertigt in ein fremdes – sein! – Domizil eindrang, so sollte man andere nicht mit hineinziehen. Feige war das – anders konnte man es nicht bezeichnen.
Aber das hatte auch sein Gutes.
Denn so hatte er sie gesehen – Monika Gruber, die nun gerade in einen roten Renault davonfuhr.
Für seine Augen problemlos zu erkennen, ebenso das Kennzeichen. Mithilfe seiner Kontakte dürfte es daher nicht schwer sein, mehr über sie herauszufinden – inklusive ihrer Adresse.
Ein wenig war er darüber verärgert gewesen, wie dieser Tölpel seine Freundin behandelte. Eine Frau hatte Respekt verdient und Höflichkeit – so war er zumindest erzogen worden. Damals, vor langer Zeit. Und so sehr er sich auch angepasst hatte und die Moderne genoss, so hatte er diese Regel immer hochgehalten.
Andererseits gefiel es ihm natürlich auch – weil der Mann alles tat, um Monika von sich wegzustoßen.
Dass die beiden noch lange zusammen sein würden, daran zweifelte er ohnehin. Und ansonsten würde er dafür sorgen, dass sie allen Grund hatte, diesen Richard zu verlassen.
Denn wer konnte ihm, Andre Petit, schon widerstehen?
A/N:
Zur Inspiration: Ich selbst wohne in einem Wohngebiet nahe einem Schloss, welches tatsächlich von einem Baron bewohnt wird. Es ist genau wie hier erfunden – der alten Baron ist sehr volksnah und auch beliebt, wohnt aber einige Kilometer entfernt. Sein Sohn wohnt nun im Schloss, ist aber eher reserviert. Ab und zu sieht man ihn mit seiner Bulldogge spazieren gehen – er selbst grüßt nicht, aber immerhin zurück.
Diese Räume sind nicht zugänglich, man kann aber wohl eine Führung über das Rathaus buchen, allerdings nur für ganze Gruppen. Zumindest konnte man das mal.
Es gibt einige Gebäudeblocks im Hof des Schlosses, die vermietet sind. Schöne alte, hohe Wohnungen, aber nicht ganz billig in der Miete. Nun ja, so ein Schloss muss eben auch unterhalten werden.
Ob es sich hier nun auch rechtlich um einen Baron handelt, weiß ich nicht – auf jeden Fall ein Freiherr von und zu.
Kein Wunder, dass ich gerne von Grafen schreibe, zumal meine verstorbene Urgroßmutter immer behauptet hat, dass ein Vorfahre den Adelstitel der Familie verspielt oder versoffen hätte. Muss natürlich nicht stimmen, aber auf jeden Fall für mich oft auch Inspiration.