Er fühlte sich absolut hilflos. Der Marmor des polierten Fußbodens kühlte seine feuchte Stirn, und er schämte sich bei dem Gedanken, den heiligen Ort mit seinem Schweiß zu besudeln. Doch nur hier konnte Gerion auf Vergebung, auf Hilfe hoffen - und er war entschlossen, nicht zu gehen, bis er irgendein Zeichen seines Gottes erhalten hatte, auch, wenn sein Körper, der schon viel zu lange in diese kniende Haltung gezwungen wurde, langsam protestierte.
Sein Gott war nicht unbedingt für seine Gnade bekannt. Gehorsam war eines der obersten Prinzipien seiner Kirche, und Er erwartete außerdem Demut, Ehrlichkeit, Wachsamkeit, Standhaftigkeit und Gerechtigkeit von seinen Gläubigen. Er stand für Ordnung, Recht und Gesetz, war der Oberste Richter, selbst unter den Göttern - und genau aus diesem Grund konnte Gerion sich nur Seinem Urteil unterwerfen, nur von Ihm von seiner Schuld befreit werden.
Natürlich könnte man behaupten, es seien alles nur unglückliche Umstände gewesen. Die junge Frau, die ihn ansprach, schien ehrliche Absichten zu haben. Sie sah verzweifelt aus, kam voll Demut auf ihn, den Göttergeweihten, zu, trug ihr Anliegen vor. Er hatte ihr konzentriert gelauscht, mehrere Möglichkeiten bedacht, ihr zu helfen, hatte erwogen, welche davon den Prinzipien seines Gottes am ehesten entspräche. Ihre tiefen braunen Augen hatten ihn in ihren Bann gezogen, und das schüchterne, hoffnungsvolle Lächeln, das seine Worte langsam in ihr Gesicht zauberten, hatte sein Herz berührt. Er hatte ihr seine ganze Aufmerksamkeit geschenkt, wie es von einem Geweihten erwartet wurde.
Und doch hatte er versagt, denn all das entschuldigte seine Verfehlung nicht. Denn er hätte auch die Gestalt bemerken müssen, die sich hinter seinem Rücken in den Tempel des Götterfürsten schlich.
Das Artefakt, das sie hier, auf dem Schrein im Allerheiligsten, vor dem er seit Stunden kniete, für einen anderen Tempel aufbewahrt hatten, verschwand in genau dieser Nacht seiner Wache. Natürlich war er nicht alleine gewesen, doch in der Hierarchie seiner Glaubensbrüder hatte er den höchsten Rang inne, und damit war er für die Taten und Fehler der Wache in dieser Nacht verantwortlich. Für die Schädigung des Rufs seines Tempels, seiner Kirche. Seines Gottes. Und nur dieser selbst konnte ihm vergeben oder eine Buße auferlegen, mit der er seine Schuld vielleicht würde abtragen können. Gerion hatte ihm sein Leben gewidmet, und er würde sein Urteil akzeptieren, wie auch immer es ausfiel. Er konnte ohnehin nichts tun, akzeptierte seine Hilflosigkeit jedoch als Teil der göttlichen Ordnung.
Die Morgendämmerung, die durch die hohen, großen Fenster ein wenig Licht ins Tempelinnere hinter ihm sandte, erreichte auch das Allerheiligste. Die Sonne, fühlbare, sichtbare Manifestation seines Gottes, würde bald aufgehen.
'Herr, voll Demut erwarte ich deinen Richtspruch. Wenn ich eine Bitte äußern darf, so ersuche ich dich, dir meine Beweggründe darlegen zu dürfen', wiederholte er im Geiste den Satz, den er die halbe Nacht lang ehrfürchtig vor sich hingemurmelt hatte. Seine Stimme versagte ihm inzwischen den Dienst. Doch müsste es nicht in der Macht des Götterfürsten liegen, auch das Flehen in seinen Gedanken zu erspüren?
Die ersten Lichtstrahlen fielen durch den Durchgang, der das Allerheiligste vom öffentlichen Tempelinneren trennte, und ließen die vergoldete Sonnenscheibe auf dem Schrein leuchten. Gerion kannte den Anblick, liebte es, wie das Gold das Leuchten im ganzen Raum verteilte, einen göttlichen Zauber über alles legte, was sich in diesem Moment im Raum befand. Doch heute wagte er es nicht, den Kopf zu heben. Seine einzige Chance auf Gnade war die völlige Unterwerfung, und schon das Heben der Augen könnte ihm als Insubordination ausgelegt werden.
Die Helligkeit im Raum nahm immer weiter zu, senkte sich auch in Richtung des Bodens, auf dem er kniete, während die Sonne draußen immer höher in den Himmel stieg. Dann berührten ihn ihre Strahlen.
Sengende, göttliche, unerträgliche Klarheit erhellte seinen Geist, leuchtete jeden Winkel seines Bewusstseins, seiner Erinnerungen aus. Gnadenlose Augen betrachteten jedes Details seines Lebens, holten jede Verfehlung zu Tage, beleuchteten all seine Entscheidungen, Taten. Selbst die intimsten Erinnerungen, Dinge, die ihm lieb und teuer waren, aber auch Details, derer er sich schämte, wurden erbarmungslos offengelegt, abgetastet, bewertet. Hilf- und wehrlos musste er es zulassen, dass göttliche Hände seinen Geist durchwühlten, betasteten, das Innerste nach Außen kehrten - rücksichtslos, brutal.
Doch er wehrte sich nicht, ertrug die Gewalt, die seinem Geist angetan wurde. Gerion hatte nichts zu verbergen außer seiner Sterblichkeit, seiner Fehlbarkeit. Er war seinem Gott vollkommen ergeben. Die törichte Hoffnung, Er möge von einigen Fehlern seiner Vergangenheit nichts erfahren, gab er auf, nahm sein Schicksal an.
Er fühlte sich nackt und schutzlos, als er sich seiner Umgebung wieder bewusst wurde. Keuchend lag er im Allerheiligsten, schweißgebadet, am ganzen Körper zitternd - aber lebendig. Geläutert. Der Götterfürst hatte seine Hingabe erkannt, seine Unachtsamkeit dieses eine Mal vergeben, er spürte es genau. Dankbarkeit durchströmte ihn, und er schämte sich der Tränen, die er vor Erleichterung vergoss, nicht. Er hatte noch eine Chance erhalten, Ihm zu dienen.
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Diese Kurzgeschichte entstand als Teil der SiXTY-MiNUTES-Challenge - eine Übersicht über alle veröffentlichten Texte findet ihr hier: https://belletristica.com/de/books/16378-sixty-minutes-linksammlung/chapter/57920-sm-003-18-08-2019