"Hey, Viktoria! Wach auf! Es ist Zeit!"
Unser Schiffszimmermann steht neben meinem Schlafplatz und rüttelt mich sanft an der Schulter.
Sofort bin ich hellwach - ich hatte ihn gebeten, mich rechtzeitig zu wecken. Es muss also kurz vor ein Uhr sein. Sehr gut. Damit alles schnell geht, habe ich mich vor dem Schlafen gar nicht erst ausgezogen, so dass ich nun nur meine Stiefel und den Waffengürtel anlegen muss. Mein Langdolch steckt in seiner Scheide - ich hoffe, ich werde ihn nicht brauchen.
Vor dem Zelt warten schon meine beiden Begleiter, unser Erster Offizier und unser Quartiermeister. Schweigend brechen wir auf in Richtung Tor.
Die Straßen durch die Zeltstadt sind gut ausgeleuchtet, der Hafenmeisterei sei Dank. Es ist die Müdigkeit, die mich ab und zu stolpern lässt, doch von Schritt zu Schritt werde ich wacher.
Vor vielen Zelten wird noch gefeiert. Die Hitze des Tages hat alle träge werden lassen, doch nun, in der herrlich angenehmen Nachtluft, kann man sich endlich wieder bewegen, ohne sofort in neuen Schweiß auszubrechen. Einige fleißige Musikanten und Barden sorgen für fröhliche Untermalung, und die Atmosphäre im Lager ist entspannt und gelassen.
Und das, obwohl unser Banner immer noch fehlt.
Ganz traditionsgemäß haben uns die Kupfernen in der ersten Nacht überfallen und das Banner des Blauen Drachen gestohlen, es auf ihrer eigenen Palisade zur Schau gestellt. Der Kupferne Drache war sehr zufrieden mit seinen Streitern - der Blaue dafür umso unzufriedener mit uns. Jedes Jahr dasselbe - sein Missfallen war deutlich in seinem Gesicht zu sehen, und keiner wagte es, ihm zu widersprechen, als er es zurückverlangte.
Seitdem sind bereits über 24 Stunden vergangen, und noch immer bläht sich unser Banner träge auf der Kupfernen Palisade.
Heute Nacht werden wir versuchen, es zurückzuerobern.
Am Tor erwarten uns schon meine treuen Verbündeten, die Crew der Freedom Alone. Sie sind es, die zusammen mit meiner Crew meine Leibwache bilden. Und ich brauche auch eine - ich bin Trägerin des Bannergürtels, nur ich kann unser Banner zurück in unser Lager tragen. Und die anderen werden mir das ermöglichen - und wenn sie selbst dabei draufgehen!
Glücklicherweise ist hier, in der Drachenwelt, der Tod meist nicht endgültig.
Es dauert nicht lange, bis sich weitere Streiter des Blauen am Tor eingefunden haben. Wir sind möglichst leise, um potentiellen Spionen, die vor unserer Palisade herumlungern, keinen Anlass zu geben, ihre Lager vor unserer Aktion zu warnen.
Einer der stellvertretenden Heerführer tritt an mich heran.
"Bereit?"
Ich nicke entschlossen.
"Gut. Wir haben drei Spione im Kupfernen Lager. Sie werden versuchen, uns das Tor zu öffnen, wenn wir in der Nähe sind. Falls das klappt, stürmen wir voran, nehmen den Torplatz ein und halten die Kupfernen so lange auf, bis du das Banner hast. Bis dahin wartet am Besten an einer Stelle, die weit genug vom Tor entfernt ist, um nicht in Kampfhandlungen verstrickt zu werden, aber nah genug, dass ihr uns schnell erreicht."
Wieder nicke ich. Der Plan ist verzweifelt und hat wenig Chance auf Erfolg, aber wir müssen alles versuchen, das Banner des Blauen wieder über unserem Lager wehen zu lassen. Ich habe keine weiteren Fragen, und meine Leibwache auch nicht.
Die letzten Befehle werden geflüstert, und ich spüre, wie der Adrenalinspiegel in meinem Blut steigt. Der Geruch von zertretenem Gras in der Luft scheint mir plötzlich intensiver zu werden, und auch das Gefühl des sanften Windes, der über meine nackten Unterarme streicht, scheint stärker. Meine Sinne saugen alle Eindrücke in sich auf, genießen den Moment vor der Jagd, vor dem Kampf, auch, wenn ich nicht direkt in die Kampfhandlungen eingreifen darf.
Es sind Momente wie diese, in denen ich spüre, wie gerne ich lebe.