Das Mädchen hat eine Sommersprosse, die genau auf ihrer Nase sitzt. Ich kann sie sehen, den vorwitzigen Punkt, der sich hin und her bewegt, wenn sie den Kopf dreht. Und das tut sie oft. Heftig gestikulierend redet sie auf die anderen Kinder ein, wobei sie immer lauter wird. Nur ich, ich bin kein Teil davon. Wieder einmal. Stattdessen sitze ich hier auf einem Ast, drehe gedankenverloren den Papierflieger in der Hand und denke über das Dilemma nach, in dem ich mich befinde. Ich habe versagt. Wieder einmal. Ich oder die Verkettung von Unglücken, die alles tut, um mir das Leben schwer zu machen. Woher hätte ich auch wissen sollen, dass die Kinder ausgerechnet zu dem Baum, wo ich den Sonnenuntergang beobachten wollte, kommen werden? Nun sitzen sie unten und ich oben. So gerne würde ich ihre Stimme hören, doch der Wind trägt sie fort, bevor ich ihre Worte fassen kann.
Eigentlich hatte ich gehofft, das alles besser werden würde auf diesem Campingplatz fern von der Schule, fern von zuhause und allen Schatten, die dort ihre grausigen Finger nach mir ausstrecken.
Papierflieger. Fast von selbst knicken meine Finger das nächste Stück Papier, falten das Weiß und bringen es in Form. Es lenkt mich ab, beruhigt meine Gedanken und lässt mich von Freiheit träumen. Freiheit.
Ein Windstoß fährt durch die Bäume, bringt die Blätter zum Rascheln und ihr Haar zum Schweben. Lichtpunkte glänzen darin, die letzten Zeugnisse der untergehenden Sonne. Über diesen Blick vergesse ich ganz den Papierflieger in meiner Hand, der sanft hinabschwebt und vor ihren Füßen landet. Mein Herz stockt, als sie ihn aufhebt und sich umblickt. Einer der Jungen tritt auf sie zu und nimmt ihn ihr aus der Hand.
„He Papierfliegerjunge“, ruft er so laut, dass ich ihn verstehen kann, „Komm raus aus deinem Versteck, Feigling!“
Ich beiße mir auf die Unterlippe und bemühe mich, nicht in Tränen auszubrechen. Warum muss immer alles schief gehen? Dennoch beginne ich mich mit hängendem Kopf den Abstieg und springe zwischen ihnen auf den Boden. Das Mädchen mit der Sommersprosse steht mir direkt gegenüber, den Papierflieger immer noch in der Hand. Für einen Moment hoffe ich, dass sie mich anlächelt und sagt, dass alles gut sei, doch nichts passiert. Stattdessen tritt der Junge vor.
„Hast du spioniert?“, fragt er scharf.
Stumm schüttle ich den Kopf.
„Er hat uns gesehen, Jan“, mischt sich ein weiteres Mädchen ein.
„Ich weiß“, knurrt er.
Erst jetzt bemerke ich das Messer in seiner Hand. Erschrocken schrecke ich zurück.
„Warte!“ Die Sommersprossige tritt hervor. Noch immer kenne ich ihren Namen nicht.
Jan macht ihr Platz und sieht zu, wie sie einen Stift hervorholt und etwas auf den Papierflieger schreibt.
„Er ist ein Schisser, Marie. Sieh doch, wie er sich in die Hose macht.“ Marie sieht noch nicht einmal auf.
„Du willst ihn doch nicht etwa mitmachen lassen?“, fragt er ungeduldig, „So einen können wir nicht gebrauchen!“
Sie setzt den Stift ab und sieht zu mir.
„Hier.“ Ich pflücke den Papierflieger aus der Luft. Es steht nur ein einziges Wort darauf Iltschi.
„Wer ist das?“, fragt sie. Mein Herz pocht wie wild, als ich ihren Blick auf mir spüre. Das weiß ich! Wenn Worte nur so einfach wären wie das Basteln von Papierfliegern. Ich senke den Blick, kann den Gedanken nicht ertragen, sie zu enttäuschen.
„D-das Pferd von Winn-winn-etou“, murmle ich.
„Nun hör doch wie er stottert!“, lästert das zweite Mädchen.
„Wie heißt sein Bruder?“, fragt Marie und tritt noch einen Schritt näher. Ich bemerke, dass in ihren Augen ein Schimmer von Gold ist. Wunderschön.
Wenigstens ein einziges Mal, sei mutig!
Unendlich langsam hebe ich den Blick.
„Hatatitla.“ Dieses Mal zittert meine Stimme nicht.
Triumphierend wendet sie sich zu den anderen beiden um.
„Er ist dabei“, erklärt sie.
„Marie.“ Protestierend legt Jan ihr die Hand auf den Arm. „Er ist ein Looser. Du hast ihn doch auf dem Zeltplatz gesehen!“
„Mir egal“, entgegnet sie, „Er weiß mehr als der Typ vom letzten Jahr. Außerdem sind wir ungrade.“
Ich sehe, dass es Jan ebenso wenig passt wie dem anderen Mädchen, doch sie widersprechen nicht.
„Dann machst du mit ihm.“ Das zweite Mädchen stellt sich an Jans Seite und hebt eine Augenbraue.
Marie nickt.
„Komm her“, sagt sie zu mir und klingt zu meiner Enttäuschung nicht gerade freundlich.
Ich trete ihr gegenüber.
„Du kennst Winnetou und Old Shatterhand.“ Es ist keine Frage.
„Wenn du das machst, gehörst du zu uns, verstanden.“ Marie starrt mich an.
Ich nicke stumm. Den Preis für ihre Gegenwart werde ich bezahlen.
Sie hebt ihren Arm, zieht das Longshirt zurück, bis ihre Armbeuge frei ist. Ein kleiner Leberfleck sitzt direkt dort. Er hat fast die Form eines Herzchens.
„Komm schon“, zischt sie und bedeutet mir, es ihr gleichzutun.
Die Flecken, die meinen Ärmel zieren, bemerke ich erst jetzt. Seltsamerweise sind sie mir peinlich. Eilig rolle ich sie weg.
Auch sie hat nun ein Messer in der Hand.
„Willst du mein Blutsbruder sein?“, fragt sie.
Ich nicke und blicke auf die Klinge. Der Himmel spiegelt sich blutrot darin.
„Willst du meine Blutschwester sein!“, zischt sie mir zu.
Rasch wiederhole ich ihre Worte und hofft, dass sie in der aufziehenden Dunkelheit nicht bemerkt, wie rot ich geworden bin.
Sie hebt die Klinge und setzt sie zunächst an ihren und dann an meinen Arm. Ich spüre einen kurzen Stich, aber mehr nicht. Ein einziger Tropfen quillt aus ihrer Armbeuge. Sie hält den Arm hoch und drückt ihn gegen meinen. Die Wärme ihrer Haut lässt mich zittern, das Lächeln auf ihren Lippen noch viel mehr.
Ich kann nicht anders als ebenfalls zu lächeln.
Sie hat den Papierflieger fallen gelassen. Ich beuge mich hinunter und hebe ihn auf. Es sind Blutflecken darauf. Meines oder ihres? Ich weiß es nicht. Aber ich weiß, dass dieser Flieger für mich das Zeichen einer Freundschaft ist, die ich nie verlieren möchte.
Marie.