Noch Jahre später bezeichnete ich diesen Herbst als den Herbst meines Lebens, denn war es der Beginn eines Neuanfangs. Die verbliebenen zwei Wochen verbrachte ich viel Zeit mit Marie und freundete mich sogar mit Jan und Antonia an. Wir schwammen im See, bauten eine Hütte im Wald und spielten unseren Eltern Streiche. Das Besonderste für mich war der Tag, an dem Marie mich an die Hand nahm, von den anderen fortführte und auf einen meiner Papierflieger jene Geheimschrift aufschrieb, in der wir uns in den letzten Tagen geheime Botschaften zusandten. Das Schlüsselwort „Winnetou“ war sogar meine Idee gewesen. Wir schworen uns ewige Treue und rangen unseren Eltern das Versprechen ab, im nächsten Jahr zurückzufahren zu diesem Ort, wo ich zum ersten Mal begonnen hatte, mich zu akzeptieren.
Erst im Winter verstand ich, dass ich in dieser Zeit ein Stück weit erwachsen worden war. Aufgrund der neuen Arbeitsstelle meines Vaters zogen wir nach Hamburg um und meine Eltern verspürten wenig Lust, auf den Campingplatz nach Österreich zu fahren. Als ich mir drei Jahre später die Zugfahrt alleine zutraute, war Marie nicht mehr da und Jan konnte mir zwar sagen, dass sie aus Hanau kam, aber weder ihre Adresse noch ihre Nummer geben. Das Einzige, was mir von dieser Zeit geblieben war, waren Erinnerungen und ein halbes Dutzend Papierflieger, von denen einer noch immer rostrote Flecken aufwies.
Einige Zeit habe ich nicht mehr an diesen magischen Herbst gedacht, aber am heutigen Abend ist er mir sehr präsent. Die Menschenmassen, durch die ich mich drängle, haben nichts mit der Einsamkeit unserer Waldhütte zu tun, doch es ist der Duft von Abenteuer und jenes Gefühl von Mut, das mich erneut überkommt, als ich die Stufen der Freilichtbühne hinabsteige. Es ist ein warmer Tag und die Wettervorhersage hat keinen Regen angesagt, wofür ich sehr froh bin. Dennoch habe ich eine Regenjacke übergezogen und einen Schirm im Rucksack. Sicher ist sicher. Vor allem bei dem unsteten nordischem Wetter.
Endlich habe ich meinen Platz gefunden, lasse mich auf einen der blauen Sitzflächen fallen und betrachte neugierig das Bühnenbild. Ich sitze auf der linken Seite nahe der Rampe, wo die Pferde hinab kommen werden. Es ist nicht der beste Platz, aber ich bin froh bei der spontanen Aktion überhaupt noch einen soweit vorne bekommen zu haben. Hinten auf der rechten Seite ist eine Ruinenstadt aufgebaut, von der ich jetzt schon weiß, dass sie entweder in Flammen aufgehen oder dass ein Statist zwischen die Felsen fallen wird. Trotz dieser Vorhersehbarkeit sind die Festspiele in Bad Segeberg eine der unbestreitbaren Vorteile, die Schleswig-Holstein für mich zu bieten hat. Ich habe bisher kein einziges Jahr versäumt. Vorsichtig schlinse ich meiner Nachbarin ins Programmheft und lese über die beiden Stinktiere, die heute eine Rolle spielen sollen. Auch das erinnert mich wieder an jenen Herbst in Österreich, wo wir durch den Wald gestromert sind. Seltsam, dass die Gedanken ausgerechnet jetzt immer wieder hochkommen müssen. Ich kann mich nicht erinnern, dass es die letzten Jahre auch so war.
Fast bin ich erleichtert, als die Show beginnt und Winnetou und Old Shatterhand auftreten. Wie jedes Jahr bin ich beeindruckt von der Art, wie das Stück gestaltet ist, von den Pferden und dem Humor, der sich mit Tiefsinn mischt.
Es ist zu der Zeit, als der Italiener das Stinktier findet und es auf dem Arm nimmt, als ich sie sehe. Nur zwei Reihen sitzt sie schräg vor mir. Mit einem Lachen sagt sie etwas zu der neben ihr sitzenden Frau und dreht sich dabei so, dass ich ihr Gesicht sehe. Ich meine zu sehen, dass sie immer noch Sonnensprossen auf der Nase hat. Marie. Ich flüstere ihren Namen, kann nicht glauben, dass ich sie jetzt zwölf Jahre später ausgerechnet in einem Kaff wie Bad Segeberg wieder sehen soll. Deutschland ist so gewaltig mit seinen achtzig Millionen Einwohnern, diese Festspiele haben mehr als ein Dutzend Vorstellungen, aber sie muss heute am Fünften Mai 2019 hier sein, ebenso wie ich. Ich habe keinen Blick mehr für die Kämpfe, die soeben auf den Sand ausbrechen, für meinen Kindheitshelden Winnetou, der mutig gegen die Indianer ankämpft. Mein Blick fängt sich in winzigen Details. Die Kapuze ihrer Regenjacke, deren Ränder blau sind, die Wellen in ihrem Haar, das ihr gleich Gold über den Rücken fällt. Die Art, wie sie den Arm nach hinten über den Sitz legt und mit der Freundin neben sich über eine Bemerkung des Schweizers lacht.
Ich blicke auf meine Hände. Wie von selbst haben sie aus der Eintrittskarte einen winzigen Papierflieger gebastelt, der scheinbar perfekt in meiner Handfläche ruht. Soll ich es tun? Meine Hände zittern, als ich einen Kuli aus meiner Jackentasche fummle. Es dauert lange, bis ich fertig geschrieben bin. Nicht nur weil ich mich erst wieder in die Verschlüsselung denken muss, sondern auch weil meine Hände so stark zittern, das ich immer wieder neu ansetzen muss. Schließlich ist es fertig und es gibt keine Ausrede mehr, die mich aufhalten kann. Oder sollte. Es sind die Gedanken, die mich zögern lassen. Die leisen Lügen, die mir einreden, dass jeder Herbst doch nur eine Lüge gewesen war und dass Marie im Stillen über mich gelacht hätte. Verdammt. Ich hatte geglaubt, dass ich diese alte Angst abgelegt hatte, jetzt, wo ich mich verändert habe. Und dennoch ist sie wieder da, hält mich fest und errichtet eine unsichtbare Mauer zwischen mir und ihr. Einen Stein setze ich auf den anderen, bis nur noch eine winzige Lücke verbleibt. Ich hebe eine weitere Lüge vor mich und schicke im letzten Moment den Papierflieger auf seine Reise. Dann den letzten Stein. Zornig lecke ich mir über den Finger, wo ich mich soeben am Papier geschnitten hatte. Warum fürchte ich mich überhaupt? Ich kann es nicht begreifen, nicht verstehen, wieso diese Angst wieder da ist. Nur wegen ihr?
Der Papierflieger fliegt ein Stück zu weit, aber sie hebt ihn trotzdem auf, sagt etwas zu ihrer Freundin und liest ihn. Suchend sieht sie sich um. Ein Teil von mir wünscht sich zu verschwinden, ein anderer von allen Schweinwerfern angestrahlt zu werden. Sie sieht mich. Ich kann den Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht deuten, doch ich weiß, dass auf meinem eigenen die Furcht regiert. Sie dreht sich um. Tränen verschleiern mir die Sicht auf sie und das Geschehen unten im Sand, wo Old Shatterhand soeben gefangen genommen wurde. Siehst du, flüstern mir die Lügen zu. Sie will dich nicht, sonst wäre sie aufgestanden und zu dir gekommen.
Inmitten der Tränen bemerke ich den Papierflieger zunächst nicht, der vor mir im Sand landet. Sie sieht mich an. Eilig beuge ich mich herab, um die Tränen zu verbergen und hebe dabei den Flieger auf. Es ist eine neue Reihe von Buchstaben darauf, ebenso verschlüsselt. Sie hat tatsächlich das gleiche Schlüsselwort wie ich genommen, das wie damals „Winnetou“ lautet. Die Mauer zerbirst, als ich ihre Nachricht lese. Sie ist simpel, doch vertreibt sie die Ängste. Marie. Ich flüstere ihren Namen immer wieder und verliere mich in ihrem Anblick, während Winnetou auf der Brücke um sein Leben kämpft.
Endlich ist die Vorstellung vorüber. Ich stehe auf, um die dicke Frau und die anderen Zuschauer neben mir vorbei zu lassen, doch dann setze ich mich wieder auf meinen Platz und warte bis alle gegangen sind. Alle bis auf Marie.
Sie steht in ihrer Reihe, hat sich mir halb zugewendet und sieht mich an. Dieses Mal, das weiß ich, muss ich den ersten Schritt gehen.
Ich stolpere mehr aus der Reihe als dass ich gehe, aber schließlich bin ich bei ihr angelangt.
„Moin“, begrüße ich sie, „Es ist seltsam, dass wir uns sehen.“ Ich versuche mich an einer eindrucksvollen Handbewegung, breche sie aber schon im Ansatz ab. Womit sollte ich diese Frau denn auch beeindrucken.
„Ja“, erklärt sie leise, „Wirklich seltsam.“
„Wie geht es dir?“, frage ich sie leise, auch wenn ich eigentlich meine: Hast du einen Partner?
„Oh!“ Mit strahlenden Augen fängt an von ihrer Ausbildung in Flensburg zu erzählen, der WG, in der sie lebt und den Hund aus ihrer Nachbarschaft, in den sie sich vernarrt hat. Ich lasse sie reden und höre ihr nur zu.
Schließlich hält sie inne. „Und was hat sich bei dir getan?“ Mit stockenden Worten berichte ich von meinem Medizinstudium in Lübeck, meiner Familie und meinem Freundeskreis.
Eine unangenehme Pause entsteht.
Schließlich bemerkt Marie mit einem leichten Lächeln. „Du bastelst immer noch Papierflieger?“
„Ja“, entgegne ich, „Den Papierflieger von damals habe ich immer noch.“
„Den mit den Blutflecken?“, fragt sie und ich bin froh über das Grinsen, weil es mir zeigt, dass ich zumindest kein kompletter Langweiler bin.
„Ja. Genau den, Blutsschwester.“ Besorgt mustere ich sie. Fast erwarte ich so etwas, wie: Was waren wir damals für Kinder.
Doch sie kommt nicht, stattdessen sieht sie mich nur mit einem leicht zur Seite gelegten Kopf an. Wieder habe ich das Gefühl, dass ich voranschreiten muss, damit sich etwas ändert, dass sie mich prüft und etwas erwartet. Mein Herz pocht wie wild und ich versuche meine schweißnassen Hände zu verbergen.
Doch auf einmal ist mir das egal.
Ich beuge mich vor und dann, in einem Anflug von Mut, küsse ich sie.