Wenn die alten Leute davon redeten, das früher alles besser war, redeten sie meistens von einer idealisierten Kindheit in der festen Überzeugung bessere Kinder gewesen zu sein, als die eigenen Nachfahren. Damals war auch alles besser gewesen, sagten sie dann, weil es keinen Fernseher gegeben hatte, kein Internet, kein Smartphone. Damals hatten sie noch draußen spielen müssen – wobei sie das „müssen“ immer betonten.
Sean hatte mal gelesen, dass sogar die ersten Schriften, die man gefunden hatte, ähnliches beinhalteten. Alte Leute, die sich über jüngere Leute beschwerten. Früher war alles besser. Alle wollten zu einem „früher“ zurück, dass es wahrscheinlich nie gegeben hatte. Am Ende sehnten sie sich wahrscheinlich nur nach der Ignoranz, die sie sich als Kinder hatten erlauben können.
Er konnte all diese Dinge sehen und doch war er nicht viel besser. Wieder saß er hier, lötete eine der kleinen Modeleisenbahnen und sehnte sich an nach diesem „Früher“.
Dieses Früher war für ihn nicht zwangsläufig die Kindheit, denn seine Kindheit war nicht die beste gewesen. Er war mit seinem Vater schon aneinandergeraten, bevor er eines Tages nackt in einer Hütte aufgewacht war. Es war nicht zwangsläufig das, was er zurücksehnte.
Sicher. Ein Teil von ihm wünschte, nie nackt in dieser Hütte gewesen zu sein. Nie seinen ersten Mord begangen zu haben. Nie zum Wolf geworden zu sein. Manchmal sehnte er sich nach der Welt der einfachen Menschen, nach der Welt ohne Dämonen, Geister und Regeln, die selbst im Mittelalter brachial gewirkt hätten.
Doch es war eher ein idealistischer Gedanke. Der Wunsch nach etwas, das so nicht hätte sein können. Er war ein Werwolf. Daran konnte er nichts ändern und kein Geist der Welt besaß die Macht die Realität so zu verändern, dass dies nicht länger zutreffen würde. Er war ein Werwolf und würde als Werwolf sterben.
Nein. Das Früher, das er ersehnte war gerade einmal drei Jahre her. Nun. Etwas mehr. Wie lange? Vierzig Monate vielleicht. Die genauen Daten verschwammen schon wieder in seinem Kopf. Seine Konzentration wollte nicht bleiben. Doch er konnte sich an die Dinge noch sehr genau erinnern. Es war so seltsam klar, wenn er nur für einen Moment die Augen schloss, für einen Moment sich der Illusion hingab. Der Erinnerung.
Da war Sarah gewesen. Und Thomas. Sie waren glücklich gewesen, selbst wenn sie sich so vieles hatten nicht aussuchen können. Sie waren glücklich gewesen. Gemeinsam.
Glasklar konnte er Sarahs Lächeln sehen, konnte er Thomas „Dada“ brabbeln hören. Im Vergleich zu anderen Kindern hatte Thomas nicht besonders klar gesprochen, doch was für einen Unterschied machte es, wenn er dabei so gestrahlt hatte?
Genau konnte er sich an die Tage erinnern, an denen er mit Sarah, ihren Eltern und Thomas weggefahren war, an denen er die Wölfe, seine Pflichten und seltsame mystische Bedrohungen vergessen konnte. Dann waren sie am Strand gewesen, mit Thomas eine Sandburg gebaut, hatten am Abend ein wenig Zeit füreinander gehabt, während die Großeltern ihren Enkel behütet haben. Das war eine schöne Zeit gewesen. Er hätte alles gegeben, um es zurückzubekommen.
Aber selbst sein Schicksal als Werwolf war damals ein leichteres gewesen. Damals, als sie noch zu fünft gewesen waren. Als Thia ab und zu noch gelächelt und Matt ihm nicht immer diesen strafenden Blick geschenkt hatte. Damals hatte er wenigstens eine Person gehabt, mit der er hatte reden können. zwei Personen sogar. Tina und Sarah. Und jetzt?
Jetzt saß er hier allein, lötete an einer kaputten Modelllokomotive, deren Schaltkreise locker waren. Die Platinen waren sehr billig produziert. Er tat es, weil er ohne diese Arbeit nicht mehr haben würde, als das, was er brauchte. Ein Dach über den Kopf. Essen. Mehr nicht.
Im Hintergrund lief ein Film. Der erste X-Men, der noch zu jener besseren Zeit rausgekommen war. Sein Versuch sich selbst abzulenken von den Erinnerungen abzulenken. Vergeblich.