Hinweis: Diese Kurzgeschichte spielt ein paar Jahre nach dem Buch "Lehrjahre" (https://belletristica.com/de/books/16340-lehrjahre/) und bezieht sich auf die dort genannten Charaktere. Die Kenntnis dieser Geschichte ist jedoch für diese hier nicht notwendig.
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„Ich weiß noch, wie er mit uns Fangen gespielt hat – also, mit mir, Arlin war da noch zu klein. Er hat mich immer gekitzelt, wenn er mich erwischt hatte.“
Danja errötet leicht, als sie daran zurückdenkt. Natürlich nicht wegen ihres Bruders, sondern wegen der anderen Person in ihrer Erinnerung.
Innerlich seufze ich. Es ist nicht zu übersehen, dass sie anfängt, sich für Männer zu interessieren, wenn auch noch völlig naiv und ahnungslos, mit einem Kuss als dem Intimsten, das ihre Vorstellung hervorzubringen vermag. Doch das Interesse wird zweifellos immer stärker werden.
Ich hatte gehofft, das dauere noch ein paar Jahre. Einige Jahre, um genau zu sein. Zehn, oder auch zwanzig.
Aber was soll ich machen, die Zeit hält nicht still, so sehr man sich das gelegentlich wünschen mag. Nie hätte ich es für möglich gehalten, doch ich bin tatsächlich ein wenig neidisch auf alle, denen meine Tochter ihre Aufmerksamkeit schenkt – selbst, wenn es nur Geister aus der Vergangenheit sind. So wie mein Glaubensbruder.
Was wohl aus ihm geworden ist? Eines Morgens war er einfach verschwunden. Er hatte nichts zurückgelassen – bis auf die Erinnerungen an die Zeit, die wir miteinander verbracht haben.
Noch immer schmerzt mich sein Verlust. Ich hatte mir so sehr gewünscht, er würde hier eine Gefährtin finden, sich an sie und diesen Ort binden und so bei uns bleiben. Wie hätte ich ahnen können, wie sehr ich ihn mit diesem Wunsch einschränkte ...
Könnte ich die Worte, die zwischen ihm, meiner Frau und mir am letzten Abend gewechselt wurden, zurücknehmen, ich würde es ohne zu zögern tun. Doch vorbei ist vorbei. Ich bezweifle, dass ich ihn je wiedersehen werde.
Ob er überhaupt noch lebt?
Das Traurige ist, dass dies die einzige negative Erinnerung ist, die ich an ihn habe. Es hat zwar lange gedauert, bis er mir vertraute, doch als meine Geduld belohnt wurde, er sich mir endlich öffnete, waren unsere Gespräche immer ausgesprochen angenehm. Meine Familie liebte ihn, und er war oft bei uns zu Gast.
Meine Frau sah in ihm, so glaube ich zumindest, eine Art Ziehsohn. Wenn heute das Gespräch auf ihn kommt, schleicht sich stets Bedauern in ihre Augen. Sie bereut ihre Worte von damals inzwischen, das weiß ich, und gibt sich die Schuld an seinem Verschwinden, egal, wie häufig ich ihr erkläre, dass es an mir lag.
Arlin war damals noch zu klein, um sich heute an ihn zu erinnern. Sein Lachen und vergnügtes Quietschen, wenn er sich mit ihm beschäftigte, klingen mir allerdings bis zum heutigen Tag im Ohr und bringen mich zum Lächeln.
Und Danja ... Sie erinnert sich überraschend gut an ihn. Für sie war er eine Art großer Bruder oder Onkel, jemand, der gutmütig jedes Spiel mit ihr spielte, sich stundenlang all ihre Erzählungen und Sorgen anhörte, praktisch immer da war und etwas mit ihr unternahm.
Kein Wunder, dass er in ihrem Kopf zu einer Art Idealbild geworden ist.
Ich will diese Vorstellung, die sie von ihm hat, nicht zerstören, darum korrigiere ich ihre Erinnerungen nicht. Natürlich hat er gerne mit ihr gespielt, doch so viel Zeit, wie sie glaubt, hat er nie mit ihr verbracht.
Er war wegen mir hier. Ich war sein Mentor, und sobald die Kinder im Bett waren, haben wir stundenlang geredet, einander Dinge erzählt, die der andere nicht wusste, Glaubensfragen erörtert oder Tempelangelegenheiten besprochen. Er hat mir mindestens so viel beigebracht wie er von mir gelernt hat.
Nie hätte ich den almadanischen Handelsreisenden vor einem Jahr so erfolgreich weiterhelfen können, wenn er mir damals nichts über seine ferne Heimat erzählt hätte. Die Sitten und Bräuche dort wären mir fremd gewesen, und wie leicht hätte ich jemanden vor den Kopf stoßen können! Doch so habe ich meinem Gott alle Ehre erwiesen und allen zu einem zufriedenstellenden Handelsvertrag verholfen.
Er war es auch, der mir die feinen Qualitätsunterschiede bei Weinen näherbrachte. Zu Beginn tranken wir den Wein nur, damit er ein wenig lockerer wurde, mehr von sich erzählte. Bis dahin war für mich ein Wein wie der andere – gut, die Farben waren unterschiedlich, aber das war alles. Wie viele Geschmacksnuancen in diesem Getränk stecken, wurde mir erst nach und nach bewusst, wenn er die Weine wie beiläufig kommentierte und mich auf den einen oder anderen Bestandteil aufmerksam machte. Ich genieße dieses Getränk seitdem viel mehr.
„Kommt er eigentlich irgendwann mal wieder?“ Danjas Frage reißt mich aus meinen Erinnerungen. Ihr Tonfall klingt beiläufig, doch die Röte ihrer Wangen hat sich noch verstärkt. „Wenigstens zu Besuch?“
Ich lächle zärtlich bei ihrem Anblick. In ihren Gedanken ist er sicherlich keinen Tag gealtert, immer noch der grob achtzehnjährige, gutaussehende Mittelländer mit dem vollen Lachen und den blauen Augen, in denen der Schalk blitzt. Kein graues Haar, keine Falte, keine Narben oder Verletzungen, keine Erlebnisse, die ihn ernüchtert haben. Sie träumt von einem Mann, der nur in ihren Erinnerungen existiert. Ich will ihr diese Tagträume nicht nehmen.
„Vielleicht“, antworte ich vage. „Man kann nie wissen, mein Schatz.“
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Dies ist ein Beitrag zur SiXTY-MiNUTES-Challenge. Die Beiträge der anderen Teilnehmer finden sich hier: https://belletristica.com/de/books/16378-sixty-minutes-linksammlung/chapter/63105-sm-008-15-09-2019