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Mein Projekt für den NaNoWriMo 2019 und 2020!
NaNoWriMo2019: Teil 1 & Teil 2
Überarbeitung: Oktober 2020
NaNoWriMo2020: Teil 3
▹"You're gonna go far, kid" - The Offspring◃
„Gleich haben wir ihn!“, erklang der Ruf.
Der Junge mit den aufgeschürften Knien brach ohne Rücksicht auf Verletzungen aus den Dornensträuchern. Verfolgt von einer kreischenden Menge aus fünfzehn, zwanzig Kindern sprintete er durch den Sand und schwang sich am Klettergerüst hinauf.
Keuchend zog sich der Rothaarige auf das schräge Dach der Spielburg aus Holz. Die ersten Verfolger befanden sich bereits in dem niedrigen Häuschen unter ihm. Hände tasteten den Rand des Daches ab, die Kante, an der sich der Junge festhielt. Unter ihm stapfte der Vierjährige Cailean durch den Sand, der Jüngste der Verfolger, und kletterte ungeschickt das Netz herauf, das zum Haus führte.
Der Gejagte streckte sich, bis er sich nur noch mit den obersten Fingergliedern am Dach hielt, und sah zur Seilbrücke. Doch dort tauchte das pickelige Gesicht von Dennis auf. „Hier ist er! Er kann nicht weg!“, brüllte der Fünfzehnjährige. Dann streckte er die Hand aus. „Gib das Handy her, Todd!“
Instinktiv griff der schlaksige Junge an die Bauchtasche des Pullovers. „Das ist nicht dein Handy!“
„Jetzt schon! Gib es mir zurück!“, verlangte Dennis.
Todd funkelte den Älteren an. Dann ließ er die Dachkante los. Mehrere Kinder schnappten nach Luft, als Todd sich vom Klettergerüst abstieß, fast drei Meter tief fiel und dann durch den Sand rollte. Noch ehe sich die Verfolger von ihrem Schock erholt hatte, hatte Todd sich mit sandverklebtem Pullover aufgerappelt und rannte auf den nahen Wald zu.
„Hinterher!“, brüllte Dennis laut. „Wer ihn erwischt, darf eine halbe Stunde mit Finlays Handy spielen!“
Todd rannte. Doch einer der Jungen hatte seinen rücksichtlosen Zug vorausgesehen. Hinter einem der immergrünen Sträucher, die auf der Spielwiese verstreut wuchsen, sprang Hamish hervor. Der Blonde rannte auf Todd zu und erwischte dessen Pullover am Rücken, obwohl der Schlankere einen Haken schlug.
„Ha!“, brüllte Hamish.
Ein Ruck, dann hielt er nur noch den Pullover in der Hand. Todd sprintete weiter. Verdutzt tastete Hamish die Bauchtasche ab, doch das Handy … war in Todds Hand.
„Verfluchter Mistkerl!“ Der sechzehnjährige Boxer wurde von der Horde eingeholt und rannte mit ihnen mit.
Todd erreichte den Wald ein Stück vor den Verfolgern und verlangsamte seine Schritte, um nicht über die vielen verteilten Äste zu stolpern. Gehetzt sah er sich um. Dennis‘ Gefolge stürmte ihm auf breiter Front nach. Der Wald war auf drei Seiten eingezäunt; selbst wenn Todd weiterhin schneller als seine Verfolger war, würden sie ihn bald eingekesselt haben.
Da sah er etwas, was ihm neue Kraft verschaffte. Mit einem kleinen Sprung rannte er wieder los, duckte sich unter dem schrägliegenden Stamm eines umgefallenen Baumes hindurch, dessen Krone noch im Geäst anderer Bäume verankert war, überquerte einen Trampelpfad, den Generationen spielender Kinder und Junkies hier geformt hatten, und rannte geradewegs in ein Feld aus meterhohen Brennnesseln und dichten Dornenranken hinein.
Die anderen Kinder blieben am Rand des Feldes stehen. Heftig atmend starrte Todd sie mit weit aufgerissenen Augen an. Die neuen Kratzer und das Brennen der Säure spürte er kaum. Sein Herz raste mit Unmengen an Adrenalin.
Unter Führung von Dennis‘ fünfköpfiger Gang umkreisten die Kinder Todds Unterschlupf. Sie schlugen mit Stöcken auf die Brennnesseln ein. Dennis, Hamish und die drei anderen Jugendlichen warfen Todd tödliche Blicke zu. Die Kinder, bis hin zum Jüngsten, Cailean, genossen einfach das Toben und Rennen – solange, bis ein Mädchen von den Brennnesseln erwischt wurde und weinend zurück zum Spielplatz lief. Dennis‘ Armee drohte, sich aufzulösen.
„Wartet!“ Der Blonde lief den Kindern hinterher und versuchte, sie zum Bleiben zu überreden.
Mit einem Mal war Todd allein. Er zögerte nicht eine Sekunde und huschte aus dem Brennnesselmeer. Sicheren Schrittes und so lautlos wie möglich folgte er dem deutlichsten der Trampelpfade, vorbei an einer alten, gammelnden Matratze und einer Burg aus Zweigen, bis er schließlich den Zaun erreichte. Hier lag eine größere Lichtung, wo nichts auf der nackten Erde wuchs, doch Todd eilte weiter, nah am Zaun entlang auf einem fast unsichtbaren Weg. Bis er eine Stelle erreichte, wo das Drahtgeflecht des Zauns aufgeschnitten war. Todd warf einen letzten Blick zurück und lauschte auf Rufe, steckte das fremde Handy in seine Hosentasche und trat dann in den Garten eines heruntergekommenen Reihenhauses.
Sonnenlicht und die hohen, dunklen Tannen spiegelten sich in den Scheiben des Wohnzimmers. Todd schlich am Komposteimer vorbei, als er ein Knacken hörte. Die spiegelnde Scheibe bewegte sich, jemand öffnete die Glastür – Todd rannte los und setzte mit einem eleganten Sprung über den Zaun zum Nachbargarten, der an dieser Stelle von irgendjemandem nach unten getreten worden und damit nur noch halb so hoch wie ursprünglich war.
„Hey, junger Mann!“, rief ihm die unbekannte Stimme eines Mannes hinterher. Todd rannte über weichen Rasen, dann warf er sich auf die Knie und rutschte in einen schmalen Graben, das trockengelegte Bett eines Baches, das hier begann. In seiner Deckung huschte Todd durch drei Gärten, da die Zäune am Rand des Grabens endeten. Im dritten Garten, der von einem hohen Lattenzaun eingezäunt war, sprang Todd aus dem Graben. Er zog am Ende einer Holzlatte, die leicht knirschend nach oben schwang. Kniend quetschte sich Todd durch die Lücke und robbte auf einen kleinen Innenhof.
Gras wuchs zwischen dem Kopfsteinpflaster. Zu den Seiten befanden sich zwei niedrige Gebäude aus Beton, an denen der Regen von Jahren Spuren hinterlassen hatte. Eine Blechüberdachung auf dünnen Stahlsäulen führte an den Vorderseiten der Gebäude entlang und schloss auch den kleinen Innenhof ab. Todd wagte sich in ihren Schatten vor.
Der Säulengang bildete eine Seite des wie ausgestorben daliegenden Schulhofes. An der linken Seite wuchs das Gebäude in die Höhe, Backstein mit langen Scheibenreihen. Rechts lag die Turnhalle mit rechteckigen Butzengläsern, zu großen Fensterfronten zusammengesetzt. Gegenüber von Todd lag ein Zaun aus rautenförmigem Maschendraht und dahinter waren grüne Hügel zu sehen. Doch mitten auf dem Hof befand sich eine Frau, offenbar auf dem Weg von der Sporthalle – sie musste sie gerade abgeschlossen haben – zum Ausgang zwischen Schulgebäude und Zaun.
Sie entdeckte Todd, sobald sich sein oranger Haarschopf zeigte.
„Hallo? Was machst du hier? Die Schule ist aus!“
Sie eilte auf Todd zu. Der Junge warf sich zurück in den Innenhof. Da gab es den Holzlattenzaun, die glatten Wände der beiden Umkleiden und undurchdringliches Brombeergestrüpp in dem Platz dazwischen.
Keine fünf Sekunden später erreichte die Frau den kleinen Innenhof. Sie war kräftig gebaut und hatte kurze, weiße Haare. Ihrer Kleidung nach war sie eine Sportlehrerin oder in einer vergleichbaren Position.
Suchend drehte sie den Kopf. Der Innenhof war leer. Von dem schmächtigen Jungen war keine Spur zu entdecken. Sie trat an den Zaun, drückte den lockeren Balken mit dem Sportschuh auf und spähte über das obere Teil, doch der Garten war leer. Dann sah sie in das Gestrüpp zu beiden Seiten. Unmöglich. Nicht einmal ein Kaninchen würde sich dort verstecken können.
Mit einem Seufzen trat sie an die Wand der Umkleide, sprang hoch und zog sich an der Dachkante nach oben.
Im letzten Moment sah sie noch, wie der Junge vom Rand des dünnen Wellblechs der Überführung sprang. Die Lehrerin hörte das schnelle Trommeln seiner Schritte.
Todds Shirt war durchnässt von einer Regenpfütze auf dem Dach, in die er sich bäuchlings gelegt hatte, um vor dem Blick der Lehrerin geschützt zu sein. Der Wind ließ den durchnässten Stoff gegen seine Brust flattern. Er sprintete über den Hof, sodass der Wind in seinen Ohren brauste. Auf kürzestem Weg hielt er auf den Zaun zu und ließ sich dicht vor den Drahtmaschen auf alle Viere nieder. Flink tauchte er unter einem losen Stück Zaun hindurch, dann warf er einen Blick zurück. Die Lehrerin kam gerade erst unter der Überdachung hervor. Mit einem frechen Grinsen machte sich Todd aus dem Staub und flitzte zurück zum Spielplatz.
Als er wütende Stimmen hörte, wurde er langsamer. Dem Spielplatz hatte er sich auf einem Schleichweg zwischen Schrebergärten hindurch genähert. Nun trat er aus einem schmalen, halb von Efeu überwucherten Durchgang zwischen einer roten und einer weißen Backsteinmauer. Vor sich sah er den Spielplatz. Rechts die Häuser der Siedlung, links das niedrige Gestrüpp, aus dem man ihn schon kurz nach Beginn der Jagd gescheucht hatte. Gegenüber lag der Wald.
Dennis hatte die Kinder offenbar bei der Stange halten können. In einer langen Reihe und mit Stöcken bewaffnet hatten sie sich am Waldrand aufgestellt und spähten in das Halblicht unter den Bäumen, sicher, dass sich ihr Opfer noch im eingezäunten Wäldchen befinden musste.
Todd grinste breit.
Bei den Tischtennisplatten etwa zwanzig Meter im Rücken der Suchenden saß der großgewachsene Finlay. Selbstsicher lief Todd über die Wiesen. Er hielt sich nur halbherzig im Schatten der vereinzelten Nadelsträucher, denn Dennis‘ Horde drehte sich kein einziges Mal um.
Schließlich blieb er hinter Finlay stehen. „Dein Handy.“
Der Größere zuckte zusammen. „Todd?! Wo kommst du her? Unglaublich! Du hast sie alle ausgetrickst!“ Dankbar presste Finlay sein Handy gegen die Brust.
„Ich bin ein Ninja!“, prahlte Todd und grinste breit.
„Da ist er!“
Fins Ausruf hatte Dennis alarmiert. Zwanzig Kinder von vier bis sechzehn stürmten auf Todd und Finlay zu.
„Lauf!“, brüllte Todd und die beiden Freunde hetzten los. Doch Todd strauchelte über ein Erdloch und schlug der Länge nach hin. Finlay hielt an und wollte ihm aufhelfen, doch dann musste er die Flucht ergreifen. Noch bevor Todd sich hätte aufrappeln können, waren Dennis, Hamish und ihre drei Freunde bei ihm. Jemand kniete sich auf Todds Schultern, ein anderer trat ihm in die Rippen, dann ließ der Druck auf seinen Oberkörper nach und er wurde grob nach oben gezerrt.
„Hab ich dich, Wiesel!“, grölte Dennis triumphierend. Zwei seiner Leute hielten Todd an den Armen aufrecht, die beiden andere jagten Finlay nach, während ihr Anführer dem Zwölfjährigen die Faust in den Magen rammte.