„Komm!“, wisperte er ihr zu und nahm ihre Hand.
„Friedrich“, entgegnete sie leise, „Was hast du vor?“ Er hatte ihre Augen mit einem Tuch verbunden und sie war versucht, es sich fort zu reißen. Seine Stimme hatte einen fast unbeschwerten Klang, so, als wäre all das nicht geschehen, so als wäre die Zeit zurückgedreht und die Erinnerung nicht so stark.
„Psst!“ Seine Hand hielt sie sicher und fest. Sie fürchtete sich nicht, aber ihr war unwohl bei dem Gedanken, was ihr Freund wohl wieder einmal anstellen mochte.
„Das wirst du sehen“, meinte er nicht minder leise und führte sie weiter über die Straße. Sie spürte die Unebenheiten im Kopfsteinpflaster und wäre mehr als einmal gestolpert, doch Friedrich reagierte jedes Mal rechtzeitig.
„Langsam.“ Seine Schritte wurden langsamer, dann hielt er an. Über ihnen brannte eine Laterne. Sie konnte das Licht spüren, wenn sie den Kopf hochlegte.
Auf einmal spürte sie, wie er ihre Hand losließ. „Was tust du?“, zischte sie, als sie hörte wie etwas auf Metall scharrte.
„Dir einen schönen Abend ermöglichen“, entgegnete er, während er weiter irgendetwas tat. In Wirklichkeit, das wusste sie, hörte er ihr gar nicht zu. Nervös trat sie von einem Fuß auf den anderen. „Friedrich.“ Nun legte sie ihre flehende Stimme auf. „Wollen wir nicht nach Hause und gemeinsam etwas lesen? Mir ist kalt und ich fühle mich unwohl.“ Keine Antwort, stattdessen ein leises triumphierendes Jauchzen.
„Friedrich?“ Ihre Stimme wurde panischer, lauter und sie legte schon die Hand an das Tuch, als sie seinen Atem vor ihren Gesicht und seine Finger auf der ihren spürte. „Entspann dich.“ Langsam sollte er echt wissen, dass sie immer, wenn er das sagte, eben nicht entspannte. „Marie“, wiederholte er, „vertrau mir.“
Marie nickte und atmete einmal kurz durch. Sie konnte spüren, wie wichtig dies ihm war und entschloss sich, ihm die Überraschung nicht zu verderben.
„Bereit?“, fragte Friedrich und nahm erneut ihre Hand. Sie trug keine Handschuhe und heute Abend herrschte ein eisiger Wind, sodass sie froh über seine Wärme war.
„Vorsicht Stufe.“ Sie hob den Fuß an und setzte ihn auf den Absatz. „Und weiter.“
Das Gefühl der Enge umgab sie und sie verstand, dass sie soeben in ein Haus eingetreten waren. Fast wollte Marie zurückweichen, ihre Befürchtung aussprechen, dass er etwas Illegales getan hatte, doch dann schluckte sie die Worte hinunter.
„Hier entlang.“ Nun nahm er ihren Arm. Etwas klickte und Licht drang durch das Tuch. Nun wuchs ihre Anspannung und Marie verspürte fast so etwas wie Vorfreude. Ihre Schritte wurden schneller und fordernder, nun war es Friedrich, der sie bremsen musste.
„Anhalten“, sprach er im normalen Tonfall, was ihr verdeutlichte, dass sie an ihrem Ziel angelangt waren.
„Jetzt“, meinte er mit sichtbarem Stolz in der Stimme, „Jetzt kannst du die Augen öffnen.“
„Mach du es“, forderte sie.
Er trat um sie herum und löste den Knoten in ihrem Nacken. Wie immer wenn sie seine Finger dort spürte, lief ihr ein angenehmes Kribbeln über den Rücken.
Dann fiel das Tuch.
Zunächst sah sie nur einen Mann, der vom Licht der Taschenlampe angestrahlt wurde. Sie zuckte zusammen, erwartete, dass er auf sie zustürmen würde, weil sie und Friedrich eindeutig nicht hier sein durften. Als sie jedoch bemerkte, dass der Mann sich nicht bewegte, trat sie neugierig näher. Friedrich blieb hinter ihr stehen, deutlich gespannt auf ihre Reaktion.
„Ist das…“ Sie ging um die Person herum, tippte sie vorsichtig mit dem Finger an und schlug sich die Hand vor dem Mund. Mit strahlenden Augen wandte sie sich zu ihm um. „Wir sind wirklich hier, hier, wo wir…“
„Ja.“ Er nickte. Sie biss sich auf die Unterlippe, drängte die Erinnerungen fort, die aufkommen wollten und in der das Glück nur eine kleine Insel innerhalb eines Meers von Schmerz gewesen war, die sie erst im Nachhinein als diese erkannt hatte.
„Danke“, flüsterte sie ihm zu, umarmte ihn zunächst und drückte ihn dann einem Kuss auf die Wange. „Danke.“
Seine Taschenlampe konnte nicht den ganzen Raum erhellen, doch machte es ihr viel mehr Spaß, die einzelnen Ecken des Panoptikums langsam zu entdecken, als alles auf einmal zu sehen.
„Ich hätte nie geglaubt“, meinte sie nachdenklich zu Friedrich, „dass sie es so schnell wieder aufbauen. Es sah so schrecklich aus an jenem Tag, als hier…“ Sie sprach es nicht aus, auch wenn sie beide genau wussten, was gemeint war. In manchen Nächten wachte sie immer noch schweißgebadet auf, das Geräusch der explodierenden Bomben, schreiender Menschen und der herabregnenden Splitter in den Ohren, den Geruch von Blut in der Nase. Und heute fünf Jahre später waren sie wieder hier.
„Ich erkenne diese Stelle“, flüsterte sie, ihre Schritte wurden schneller. „Hier lag der Junge, den wir aus den Balken hervorgezogen haben.“ Sie kniete sich hin, legte die Hand auf den Boden. Auch jetzt hörte sie seine Schreie und sah das Blut, das den Boden rot färbte. Fünf Jahre und doch immer noch ein Teil von ihr.
Starke Arme legten sich um sie. Seine Stimme an ihrem Ohr. „Ist alles in Ordnung?“ Auch er zitterte.
„Es geht“, flüsterte sie, „Es ist nur…die Erinnerungen.“
„Ich weiß und es tut mir Leid, falls ich dich damit quäle.“
„Nein.“ Marie schüttelte den Kopf. „Es ist richtig hier zu sein, um damit abzuschließen und nach vorne zu sehen. Der Krieg, all das“ Sie machte eine weite Handbewegung, als wolle sie auch das Kabarett mit den knappen dreißig Figuren mit einschließen. „es ist Vergangenheit.“ Sie stockte. „Das ist es doch, oder?“ Sie wollte nicht daran denken, nicht an ihren Bruder, der in Stalingrad gefallen war, nicht an den Hunger im kalten Winter, nicht an das Eis, das die Elbe bedeckt hatte und in dem ihr Vetter sich das Leben genommen hatte, um der Einberufung und damit den Tod zu entgehen. Sie wollte leben.
„Ich weiß es nicht, Marie“, flüsterte Friedrich. Sie spürte wie seine Brust sich im Takt seiner Atemzüge hob und senkte. „Aber ich weiß, dass wir uns ein gutes Leben bauen werden.“
„Ja.“ Sie nickte. „Das werden wir.“
Dieses Mal fasste sie ihn an der Hand und zog ihn hoch, entschlossen diesen Ausflug zu nutzen, um sich die restlichen Figuren anzusehen.
„Oh.“ Auf einmal blieb sie stehen, blickte auf die Figur, die nun von Friedrichs Taschenlampe angestrahlt wurde. „Ich hasse ihn, Friedrich“, erklärte sie und war selbst überrascht von den Emotionen, die in ihrer Stimme lagen. „Er…Ich begreife nicht, wie ein Mensch so etwas tun konnte, solche Ideen haben können.“
„Wir alle sind schuld daran, was geschehen ist.“ Schon immer hatte Friedrich die Eigenschaft gehabt, jene tiefe Wahrheit auszusprechen, derer sie selbst sich nicht getraute. „Wir haben alle versagt“, flüsterte er zornig, „Haben weggeschaut, während unsere Nachbarn weggetrieben worden und krude Ideen unserer eigenes Land zugrunde richteten.“
„Lass es uns besser machen“, forderte sie und nahm seine Hand, die sie zuvor losgelassen hatte.
„Lass es uns besser machen.“ In diesem Moment akzeptierte sie, dass dieser Tag im Jahr 1943, als die Bomben auf Hamburg und auch auf das Panoptikum gefallen waren, für immer ein Teil von ihr sein würde. Sie konnte die Erinnerungen nicht abschütteln und es wäre falsch sie zu vergessen, weil etwas Richtiges darin gelegen hatte, wie sie, zwei völlig Fremde, verletzte Menschen zwischen den Trümmern emporgezogen hatten. Dieser Tag war der Beginn ihrer Geschichte gewesen, doch ihre Geschichte würde nicht mit diesem Tag enden.
Friedrich fragte etwas, was nur undeutlich zu verstehen war.
„Was?“, fragte sie und sah ihn an.
„Ich fragte, ob du mich heiraten willst.“
Sie blickte auf die Figur, die vor ihnen stand. Die Nationalsozialisten hatten verboten Adolf Hitler als Figur aufzustellen, dennoch stand sie jetzt hier auf den Trümmern eines wieder aufgebauten Panoptikums.
Marie lehnte sich an seine Schulter.
„Ja, das will ich.“
Dann nahm sie seine beiden Hände, ihre Wärme in den seinen, seine in den ihren. Eins.
„Lass es uns besser machen und dafür sorgen, dass dies nie wieder geschieht.“
„Das werden wir.“
Ein grimmiges Lächeln zog über ihr Gesicht.
Nie wieder, das schwor sie sich.