Panoptikum
Achtung! Hierbei handelt es sich um eine Horrorgeschichte. Zwar keine, die in die Unterwelt gehört, aber wer solche Geschichten nicht mag, wird daran keinen Gefallen finden.
Nur noch wenige Minuten trennten ihn von seinem Ziel.
Matthias Weber seufzte. Ganz wohl war ihm nicht. Eigentlich wollte er sich gar nicht mit Xaver treffen. So war es denn sein schlechtes Gewissen, das ihn dazu getrieben hatte, die Einladung anzunehmen.
Xaver Brügger. Wie er war er 35 Jahre alt.
Und das waren auch schon die einzigen Gemeinsamkeiten.
Es war ein unglücklicher Zufall gewesen, ihm über den Weg zu laufen. Matthias war gerade dabei gewesen, sein Einkaufwagen zurückzubringen, als ihm eine Gestalt entgegenkam.
Er hatte ihn sofort erkannt. So wie der andere ihn.
Und als Xaver ihn bat, ihn am Samstag vor seinem Panoptikum zu treffen, hatte er nicht Neinsagen können.
Weshalb war der Brügger wieder da? Nach fast 15 Jahren? Und warum hatte er diese Bruchbude gekauft, renoviert und ein Wachsfigurenkabinett darin eröffnet? Damit holte man doch heutzutage keinen mehr hinter dem Ofen hervor. In Zeiten von Internet, Virtual Reality und 3 D- Kino?
Nun ja, er musste es nicht verstehen. Sollte Xaver das Risiko eingehen und Pleite gehen. Es war ihm gleich.
Trotzdem hatte er etwas gutzumachen. Und deshalb war er also auf dem Weg. Zu dem Mann, den er, zusammen mit sechs weiteren Jungs, in der Schule immer gehänselt hatte. Gehänselt und weit schlimmeres dazu.
Was wollte Brügger?
Der Regen peitschte auf die Straße und Matthias zog den Kragen hoch in der Hoffnung, so wenigstens einige der Regentropfen abhalten zu können. Weshalb hatte er keinen Schirm mitgenommen? Und warum war er mit seinem Auto ins Parkhaus gefahren und nicht bis zum Panoptikum gefahren?
Weil es eine verlassene und verrufene Gegend war, deshalb. Er hatte einfach Sorge, seinen schwarzen BMW verkratzt wiederzufinden.
Wobei alleine laufen auch keine bessere Idee war. Fast leichtsinnig, so einsam in diesem gottverlassenem Viertel herumzulaufen. Egal, ob Pisswetter oder nicht.
Und wer eröffnete in einer solchen Umgebung ein Wachsfigurenkabinett?
Keiner konnte das verstehen, und so hatten sich die örtlichen Zeitungen auch ein wenig lustig darüber gemacht. Häme und Spott, diese schienen Xaver zu begleiten, ob als Kind oder als Erwachsener.
Natürlich hatte das Panoptikum auch kaum Besucher. Was auch zu erwarten gewesen war.
Matthias sah nun bereits den Schriftzug des Museums. Eine helle Lichtquelle in der ansonst eher trüben Licht der Straßenlaternen.
Er beschleunigte seine Schritte. Wenn er Glück hatte, war Xaver nicht da und er konnte ohne schlechtes Gewissen wieder nach Hause gehen.
Dies war ihm jedoch nicht vergönnt. Sein ehemaliger Klassenkamerad wartete schon auf ihm und kam aus einer Ecke hervor, als Matthias das Gebäude erreicht hatte.
„Was für ein Sauwetter! Komm, lass uns rein gehen!“
Ohne weitere Worte zu wechseln oder ihn zu beachten, hatte Xaver seinen Laden auch schon aufgeschlossen und war drinnen in der Dunkelheit verschwunden.
Nach kurzem Zögern folgte Matthias ihn. Wenigstens war es da drin trocken.
Er konnte den anderen nicht mehr sehen, hörte aber „Einen Moment noch“ und hörte Schritte, die sich entfernten. Einen kurzen Augenblick später hörte man das Klicken der Neonröhren, die sich nach einem kurzen Flackern einschalteten.
„Ich muss mir noch etwas anderes überlegen“, erklärte Xaver mit einem schiefen Lächeln. „Aber das war so ziemlich das einzige, was in diesem alten Gebäude intakt war und du weißt ja vielleicht, dass Wachsfiguren nicht zu viel Hitze vertragen. Aber durch den Austausch mit dem etwas wärmeren Licht ist es fürs Erste ganz akzeptabel, findest du nicht?“
Er antwortete nicht direkt, sondern nickte stattdessen. Eigentlich war es ihm recht egal, was Xaver machte oder nicht. Aber unrecht hatte Xaver nicht, die Beleuchtung war ganz ok. Wenn man von dem Unsinn des Geschäfts hier absah.
Viel eher beschäftige ihm die Frage, warum der andere sich hier mit ihm hatte treffen wollen.
„Lust auf eine kleine Führung?“, erkundigte sich Brügger mit einem eigentümlichen Lächeln.
Xaver hatte immer noch dieses seltsam schiefe Gesicht und wie damals war es schwer, seine Mimik zu deuten. Wohl mit ein Grund, dass die anderen ihn gehänselt hatten. Insgeheim war er ihnen wohl allen etwas unheimlich gewesen. Und da war das Auslachen, der Spott und das Treten wohl das Ventil gewesen.
Matthias wusste als Erwachsener natürlich, dass dies alles kein gutes Handeln gewesen war. Aber er konnte es immer noch nachvollziehen, während er in diese Visage schaute.
Aber er war ja mittlerweile vernünftig und ließ sich nicht mehr so von Äußerlichkeiten vereinnahmen. Im Prinzip war Xaver ein armer Mensch, der zu der leichten Verunstaltung noch die Vorurteile anderer aushalten musste.
„Gerne“, bestätigte er deshalb. „Zeig mir deine Wachsfiguren.“
„Oh, ich habe noch nicht so viele, aber das wird sich langsam ändern. Die alternativen Figuren nehmen im Augenblick meine ganze Zeit in Anspruch. Aber das wird sich wieder ändern.“ Ein leichtes Kichern, dann fuhr er fort: „Schau, hier haben wir historische Personen: George Washington, Albert Einstein, Kleopatra und auch Personen der Neuzeit wie Steffi Graf, George Clooney oder George Bush. Ich möchte noch einige Fantasie- oder Sagenfiguren kreieren wie Robin Hood, Batman oder Spiderman. Wie findest du dies Idee?“
„Ja, das hört sich nicht schlecht an.“ Er hörte nur mit einem Ohr zu. Die Figuren waren sicher nicht schlecht, aber man sah ihnen einfach zu deutlich an, dass es keine echten Figuren waren. Lag es an den zusätzlichen Lichtern, die am Boden angebracht waren oder lag es an den Neonröhren? Er war zuvor noch nie in einem solchen Wachsfigurenkabinett gewesen, aber kam die Faszination nicht daher, dass sie echt wirken sollten und es nicht sofort erkennbar war, aus was sie tatsächlich bestanden? Und so gut diese Figuren auch ausgearbeitet waren, so meinte er doch aus etlichen Medienberichten, dass es auch weit bessere gab?
So trottelte er also seinem Klassenkamerad hinterher und gab seinen wohlwollenden Kommentar. Seine wirkliche Meinung würde er gewiss nicht kundtun.
Nach einer etwas halbstündigen Führung erkundigte sich Xaver schließlich: „Ich habe noch eine spezielle Ausstellung. Die bekommen nur wenige auserwählte Personen zu Gesicht. Ich dachte, dass auch du dazugehörst.“
Was hatte das seltsame Grinsen zu bedeuten? Und hatte Xavers Stimme leicht gehässig geklungen?
Aber offensichtlich rechnete Brügger nicht mit einer Widerrede, denn er war schon zu einer Klappe im Boden getreten, die er mit einem altertümlichen Schlüssel aus seiner Hosentasche aufschloss. Quietschend öffnete sich die Lade.
„Früher war das der Keller. Aber nun ist es die Schau meiner Geheimexponate. Folge mir!“
Matthias erkannte, dass einige Stufen nach unten führten. Allerdings alles gut beleuchtet, so dass er keine Probleme hatte, hinabzusteigen.
„Hier gibt es keine Erklärungen. Schau dich einfach um.“
Lag es daran, dass nur Glühlampen in ihren Fassungen, ohne einen Lampenschirm oder dergleichen, an der Decke hingen? Jedenfalls wirkten diese Schaustücke wesentlich echter und wirklicher als die Figuren des offiziellen Museums. Kein Glänzen im Gesicht, keine künstlich wirkenden Gesichter.
Es fühlte sich verdammt… echt an. So, als seinen es keine Wachsfiguren, sondern tatsächlich lebende Menschen.
Was natürlich Unsinn war, schließlich bewegten sie sich nicht. Aber ihm war das hier alles mehr als unheimlich. Fast schien es sogar, als bewegte sich bei dem einen oder anderen der Brustkorb.
Seine Fantasie spielte ihm wirklich einen Streich.
Dabei war die Ausstellung von den Motiven her gar nichts Besonderes. Weder grusligen Szenen noch historische Personen. Die dargestellten Menschen waren irgendwelchen lebenden Vorbildern abgeschaut, wie es schien. Kinder und Jugendliche, junge Frauen und Männer, dick und dünn, groß und klein, hässlich und schön. Von Hochzeitskleidung bis Schlabberlook. Die ganze Palette der menschlichen Evolution schien zumindest in Teilen vorhanden zu sein.
„Und, was sagst du Matze?“, fragte Xaver aufgeregt. „Sind sie nicht wunderschön?“
„Ja. Sie wirken wirklich echt. Mein Kompliment“, bestätigte er etwas zögernd. Er mochte nicht Matze genannt werden – zumindest nicht von ihm.
In diesem Moment hörten sie ein Räuspern und ein etwas 50- jähriger Mann in weißem Kittel kam ihnen entgegen. Offensichtlich hatte er sich in den hinterem Teil aufgehalten, die beide noch nicht betreten hatten.
„Oh, darf ich vorstellen? Dr. Jäger. Mein Präparator.“
Xaver war schon seltsam, dass er dieses Wort verwendete. Aber er war ja schon immer seltsam gewesen.
Und, um dieses Wort zum letzten Mal zu verwenden, war es auch seltsam, dass dieser sogenannte Arzt sich an dieser Formulierung nicht zu stören schien. Eifrig kam Herr Jäger auf Matthias zu und schüttelte ihm erfreut die Hand: „Sehr erfreut, Herr Weber. Xaver sagte mir schon, dass Sie kommen. Ich bin wirklich schon ganz ungeduldig. Wenn ich Sie mir so anschaue, sind Sie wirklich prädestiniert hier zu sein, wenn ich das mal so sagen darf.“
Genauso verschroben wie Xaver! Ja, die zwei passten zusammen.
„Du musst wissen, Matze, mein Panoptikum wirft nicht viel ab. Aber das hast du dir sicher schon gedacht. Mein eigentliches Geschäft mache ich hier unten. Also mit diesen Exponaten. Die du hier siehst, die gehörten mir, aber ich zeige so den Herrschaften, wie die Endprodukte aussehen können.“
„Ich verstehe nicht.“ Er bekam zunehmend ein mulmigeres Gefühl „Heißt das, du stellst Wachsfiguren für Privatpersonen her?“
„Sagen wir mal – ja, ich stelle Exponate für gewisse Herrschaften her. Die ein Sinn für das etwas Makabrere haben. Sie bringen mir das Material her und ich fertige ein Kunstwerk nach ihren Wünschen.“
„Das Material?“ Matthias Stimme klang nun unheimlich schrill. Ihm kam gerade ein grausiger Gedanke, der so unmöglich stimmen konnte.
Xaver tätschelte ihm beruhigend auf die Schulter. „Keine Sorge, so etwas würde ich nie tun. Ich gebe dich nicht weg. Dafür verbindet uns viel zu sehr. Ich werde gut auf dich achtgeben.“
Matthias wollte sich umdrehen, raus aus diesem Keller und den zwei Verrückten. Kaum hatte er jedoch drei Schritte gemacht, als er einen Einstich an seinem Hals fühlte. Panisch fasste er sich mit der Hand an die Stelle. Schwindel erfasste ihn.
„Keine Sorge“, hörte er die halb geflüsterte Stimme von Dr. Jäger. „Sie sind bei mir in den besten Händen.“
Danach wurde es schwarz.